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Lügen
und Geheimnisse
!Familienbande¡
Eigentlich
passiert nichts Aufsehenerregendes in Mike Leighs Filmen („Hohe Erwartungen”,
1988; „Das Leben ist süß”, 1990; „Nackt”, 1994; „Topsy-Turvy”, 1999;
„All or Nothing”, 2002). Alltägliches vermischt sich mit eigenen Erfahrungen
und Erinnerungen, fast leise erzählt Leigh seine Geschichten aus der englischen
Arbeiterklasse, auch wenn es hier und da einmal aufschreit, kracht oder man
sich vor Lachen oder Rührung kaum halten kann. Leigh mutet dem Betrachter
einiges zu. Über satte zwei Stunden erzählt er seine Geschichte um
die Folgen von Adoption, Geheimnissen und Lügen rund um die Familie Purley.
Doch
über diese lange Zeit ist jede Szene, ja jeder Augenblick voll von Erwartungen,
Hoffnungen, Leid oder Freud, Humor oder Tragik. Mir jedenfalls geht es so. Als
ob Leigh dem Genre des Actionfilms einen Kontrapunkt setzen wollte, füllt
er jede Minute eben doch mit Aufregendem und Spannendem, aber nicht mit einer
rein äußerlichen Energie, die schnell wieder verpufft, sondern mit
einer Vitalität und Dynamik seiner Charaktere, die seinesgleichen sucht.
•
I N H A L T •
In
„Secrets & Lies” erzählt Leigh die Geschichte der jungen schwarzen
Frau Hortense Cumberbatch (Marianne Jean-Baptiste), deren Adoptivmutter gerade
gestorben ist. Hortense weiß, dass da noch eine leibliche Mutter ist,
seit sie sieben Jahre alt war, die sie nun suchen will. Über eine Sozialarbeiterin
(Lesley Manville) erhält sie die entsprechenden Unterlagen über ihre
Geburt und die Adoption. Ihr leibliche Mutter heißt Cynthia Rose Purley
(Brenda Blethyn) und ist eine Weiße. Einige Zeit überlegt sie, ob
sie überhaupt Kontakt aufnehmen soll, dann ruft sie Cynthia an.
Ein
erstes Treffen. Cynthia ist entsetzt und neugierig, erschreckt und ängstlich,
sie weint, sie hat ein schlechtes Gewissen. Aber beide Frauen finden zueinander.
So
lernt Hortense Cynthias Familie kennen. Deren Bruder Maurice (Timothy Pall),
einen Fotografen, dessen Frau Monica (Phyllis Logan), Cynthias knapp 21jährige
Tochter Roxanne (Claire Rushbrook) aus der Beziehung zu einem anderen Mann und
deren Freund Paul (Lee Ross.). Nur Maurice und Monica wissen, dass Cynthia mit
15 schwanger geworden war und das Kind sofort zur Adoption freigegeben wurde.
Cynthia hatte das Baby nicht einmal gesehen. Roxanne hat keine Ahnung von ihrer
Halbschwester. Aber noch andere Geheimnisse gibt es in der Familie Purley, etwa
dass Monica keine Kinder bekommen kann, obwohl sie und Maurice sich immer welche
gewünscht hatten.
Auf
einem Familientreffen anlässlich des 21. Geburtstags von Roxanne platzt
Cynthia mit der Wahrheit heraus, nachdem sie Hortense zunächst vor den
anderen als Arbeitskollegin ausgegeben hatte. Und auch andere Lügen und
Geheimnisse werden nun offenbart.
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I N S Z E N I E R U N G •
Leighs
Filme sind sicherlich auch Milieustudien. Leigh bringt es vor allem fertig,
ein homogenes Gesamtbild einer sozialen Umgebung zu visualisieren, in dem die
Charaktere und deren Konflikte in ihrer ganzen Tiefe und Tragweite gezeigt werden.
Man ist ganz nah dabei, wirklich hautnah am Geschehen. Es wäre kein Problem,
Leighs Figuren ausführlich und eindringlich zu beschreiben. Der Facettenreichtum
der Charakterdarstellung ist enorm.
Brenda
Blethyns Cynthia zum Beispiel, eine verzweifelte, ja frustierte Frau knapp über
40, lebt mit ihrer Tochter Roxanne in einem jener typischen Reihenhäuser
der working class in einem Vorort Londons. Cynthia ist vereinsamt, versucht
noch ständig Roxanne zu erziehen, geht ihr über die Maßen auf
die Nerven, heult, ist voll von Ängsten und Konflikten. Mit ihrer weinerlichen
Stimme, ihrem ständigen „Schätzchen”, mit dem sie alle tituliert,
ihrem Gequassel vertreibt sie nicht nur Roxanne, die als Straßenkehrerin
bei der Stadt arbeitet. Auch Roxanne ist haltlos, kurz vor dem Absturz, wie
die meisten Personen in Leighs Film. Ihre Beziehung zu dem eher stillen Paul
ist schwierig. Sie treibt sich in Pubs herum und hat keine Perspektive.
Neben
Brenda Blethyn glänzt auch (wieder einmal) Timothy Spall in seiner Rolle
als Maurice, dem ruhenden Pol in der Familie, wie es scheint. Maurice hat es
zu mehr gebracht als seine Schwester, die er seit zwei Jahren nicht mehr gesehen
hat. Jetzt besucht er sie. Vor Jahren hatte er einem gewissen Stuart ein herunter
gekommenes Atelier abgekauft und auf Vordermann gebracht, neue Kunden geworben.
Doch auch wenn es ihm und seiner Frau finanziell gut geht, belastet der unerfüllte
und unerfüllbare Kinderwunsch das Paar derart, dass die Ehe kurz vor dem
Ende scheint. Dutzende von Ärzten hat man aufgesucht, aber überall
dasselbe gehört: Monica kann keine Kinder bekommen. Sie beneidet Maurice
Schwester um deren Tochter und sie projiziert ihre Verzweiflung in Form von
Aggression auf Cynthia und Maurice.
In
diese Situation platzt die junge Hortense, und es ist nicht ausgemacht, ob ihr
Erscheinen die Familienmitglieder endgültig in den Ruin treibt oder aus
der ganzen Scheiße herausholt.
Hier
ist Leigh Optimist. Er weiß um die Kraft seiner Figuren, um die Solidarität,
die sich trotz aller Konflikte und trotz allem aggressiven Verhalten in ihnen
verbirgt. Er zeigt beispielsweise Cynthia eben nicht als völlig unsympathische
Frau, von der man sich lieber abwendet. Er zeigt auch ihren Mut, den anderen
Familienmitgliedern zu sagen, dass sie eine zweite Tochter hat. Brenda Blethyn
leistet Enormes, um diese Cynthia überzeugend darzustellen; ähnliches
gilt für Timothy Spall und auch die anderen Hauptdarsteller.
Leigh
gelingt diese überzeugende Darstellung auch und vor allem dadurch, dass
er seine Schauspieler in ungeschnittenen Sequenzen über etliche Minuten
hinweg in einer Einstellung zeigt – beispielsweise das erste Treffen zwischen
Cynthia und Hortsense. Die beiden Frauen sitzen nebeneinander in einem Café,
Blickrichtung Kamera, und versuchen, mit der Vergangenheit fertig zu werden.
Cynthia, weinend, verzweifelt, und doch einen Weg suchend, um ihre zweite Tochter
zu akzeptieren. Cynthia, die zu Roxanne ein schwieriges Verhältnis hat,
hofft, über Hortense das zu bekommen, was sie von Roxanne nicht mehr erwartet:
gegenseitige Zuneigung. Ebenso beeindruckend ist die – ebenfalls in langen,
ungeschnittenen Sequenzen, gezeigte – Szenerie des Familientreffens. Diese Szenen
haben so etwas wie Live-Charakter.
Leigh
zeigt zwar vor allem Menschen aus der englischen Arbeiterklasse. Doch das, was
denen passiert, kann jedem von uns geschehen. Leigh benötigt keine affektierten
Übertreibungen oder die Mechanismen des Sensationskinos. Seine Personen
sind glaubwürdig, ebenso ihre Konflikte, ihr Verhalten – sie könnten
in unserer Nachbarschaft leben.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Prädikat:
Besonders wertvoll.
Ulrich
Behrens
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken
Lügen
& Geheimnisse
(Secrets
& Lies)
Frankreich,
Großbritannien 1996, 142 Minuten
Regie:
Mike Leigh
Drehbuch:
Mike Leigh
Musik:
Andrew Dickson
Director
of Photography: Dick Pope
Schnitt:
Jon Gregory
Produktionsdesign:
Alison Chitty
Darsteller:
Timothy Spall (Maurice Purley), Phyllis Logan (Monica Purley), Brenda Blethyn
(Cynthia Rose Purley), Claire Rushbrook (Roxanne Purley), Marianne Jean-Baptiste
(Hortense Cumberbatch), Elizabeth Berrington (Jane), Michele Austin (Dionne),
Lee Ross (Paul), Lesley Manville (Sozialarbeiter), Ron Cook (Stuart)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0117589
©
Ulrich Behrens 2004
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