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Madame
Bovary
Tödliche
Enge
„Haben
Sie nicht auch die Empfindung,
dass
die Seele beim Anblicke dieser
unermesslichen
Weite Flügel bekommt,
die
Flügel der Andacht, die ins Reich der
Ewigkeiten
emporheben, in die Sphäre
der
Ideen, der Ideale?“
(Emma
Bovary)
Gustave
Flauberts (1821-1880) zunächst 1856 in der Zeitschrift „Revue de Paris“,dann
1857 in Buchform erschienener Roman „Madame Bovary“, zeitweise verboten wegen
„Verstoß gegen die öffentliche Moral, die guten Sitten und die Religion“,
auf deutsch erst 1907 herausgegeben, reizte etliche Regisseure vor Claude Chabrol
zu einer Visualisierung. Zu nennen wären hier v.a. Vincenti Minellis Film
aus dem 1949 (mit Jennifer Jones, James Mason, Van Heflin und Louis Jordan in
den Hauptrollen) sowie Jean Renoirs Adaption von 1933. 1937 wagte sich Gerhard
Lamprecht (mit Pola Negri in der Hauptrolle), 1947 der Argentinier Carlos Schlieper
an den Stoff. Daneben existieren sechs TV-Produktionen, u.a. 1968 von Hans-Dieter
Schwarze (mit Elfriede Irall, Günter Strack und Dietmar Schönherr)
und zuletzt etwa Tim Fywells Produktion aus dem Jahr 2000 mit Frances O’Connor
als Emma Bovary.
Chabrols
Adaption ist einerseits stark beeinflusst von Flauberts sezierender Kritik des
Bürgertums, aber auch von dessen Schilderung der Unvereinbarkeit stark
romantisierender Vorstellungen mit der kleinbürgerlichen Welt, in der die
Bovary aufwächst und lebt. Zum anderen geht Chabrol den Weg einer nüchternen,
manchmal fast trockenen, sehr profanen und schnörkellosen Inszenierung
der Geschichte Emma Bovarys.
•
I N H A L T •
Emma
(Isabelle Huppert), Tochter eines begüterten Bauern (Jean-Claude Bouillaud),
wächst in der Enge der französischen Provinz auf. Sie lernt den schüchtern
wirkenden, vor allem aber biederen und mit seinem Leben offenbar vollauf zufriedenen
Arzt Charles Bovary (Jean-François Balmer) kennen und heiratet ihn. Doch
die Unzufriedenheit ihres bisherigen Lebens zu Hause setzt sich auch in der
Ehe mit Charles fort. Als ihr Mann eine Einladung zu einem Ball eines Aristokraten
erhält, sieht Emma zum ersten Mal die Welt des Adels, Bürgertums und
des Geldes und erklärt ihrem Mann, dies sei der schönste Tag in ihrem
Leben gewesen.
Emma,
die sich in die Welt der Musik und der schöngeistigen Literatur vergräbt
und hier ihre Träume findet, fragt sich bald, warum sie überhaupt
geheiratet hat. Charles, der die Gefühle seiner Frau nicht kennt, nur sieht,
dass die Unzufriedenheit Emmas größer wird, beschließt, seine
Praxis in eine größere Stadt zu verlegen, nach Yonville in der Nähe
von Rouen. Sie ist schwanger und die Bovarys bekommen ein Mädchen, Berthe.
In
Yonville lernt Emma den jungen angehenden Anwalt Leon Dupuis (Lucas Belvaux)
kennen, mit dem sie sich des öfteren trifft. In ihm sieht Emma einen Hoffnungsschimmer
für ein anderes Leben. Doch obwohl oder gerade weil sich Leon in Emma verliebt,
geht er nach Paris. Emma fühlt sich immer eingeengter in eine Welt, in
der jeder Tag wie der andere aussieht, in einer Stadt, die von Männern
wie dem geschäftstüchtigen Apotheker Homais (Jean Yanne) und dem ebenso
geldgierigen Stoffwarenhändler Lhereux (Jean-Louis Maury) geprägt
ist.
Erst
der reiche und gut aussehende Landbesitzer Rodolphe Boulanger (Christophe Malavoy)
lässt Emma wieder hoffen, ihre romantischen Phantasien könnten Wirklichkeit
werden. Während eines für die reichen Bewohner Yonvilles wichtigen
Landwirtschaftsfestes macht Boulanger Emma den Hof, redet gegen die öffentliche
Moral und die Konventionen. Emma beginnt eine heimliche Liaison mit ihm. Ihre
Ehe mit Charles wird für sie immer erdrückender, obwohl Charles sie
liebt und ihr immer wieder zur Seite steht. Gleichzeitig lebt Emma über
ihre Verhältnisse und verschuldet sich mehr und mehr bei Lhereux. Als sie
Boulanger bittet, mit ihr aus der Enge der Kleinstadt auszubrechen, macht der
einen Rückzieher.
Und
auch das Wiedersehen mit Leon, mit dem Emma wenig später eine Liebschaft
beginnt, rettet die Familie Bovary nicht vor dem finanziellen Ruin. Schließlich
scheint für Emma nur noch der Selbstmord als Ausweg aus ihren gescheiterten
Sehnsüchten und einem erhofften ganz anderen Leben.
•
I N S Z E N I E R U N G •
Chabrols
Adaption dieses (von manchen für unverfilmbar gehaltenen) Romans Flauberts
wirkt auf den ersten Blick zu stark unterkühlt, fast gefühllos, „mechanisch“
erzählt. Lässt man den Film jedoch noch einige Zeit auf sich wirken,
wird deutlich, welch fantastischen Realismus Chabrol in das Spiel der Schauspieler
und die Geschichte einfließen lässt, wie er ohne Schnörkel die
kleinbürgerlichen Verhältnisse in ihrer Substanz ausbreitet und selbst
in den (scheinbar) romantischen Szenen – wenn Emma ihre Verhältnisse mit
Boulanger und Leon auszuleben scheint – die Skrupellosigkeit und Berechnung
aller Handelnden enthüllt.
Zu
danken ist diese Art der Inszenierung vor allem auch der Hauptdarstellerin Isabelle
Huppert, die wie gewohnt exzellent eine Frau darstellt, die ihr vermeintliches
Glück nicht in sich selbst, sondern in erträumten, romantisierten
Vorstellungen sucht. Die Bälle, das Geld, die große Liebe eines Mannes,
das Ansehen der feinen Gesellschaft scheinen Emma das Erstrebenswerte. Die Huppert
spielt Emma als äußerlich zumeist gefasste, ihre Emotionen nach außen
meist verbergende Frau, die oft kalt ihre Sehnsüchte träumt und sie
zu realisieren sucht, und die, wenn sie die Enge und die Gesetze der kleinbürgerlichen
Welt, der sie nicht wirklich entkommen kann, einholen, im nervlichen Zusammenbruch
und in der Hysterie den einzigen Ausweg für ihre psychischen wie physischen
Kollaps finden kann. Mit steinerner Miene kommentiert die Huppert – hierin ist
sie grandios (man vergleiche ihre Rolle der Frau Professor Kohut in „Die
Klavierspielerin“
von Michael Haneke nach einem Roman von Elfriede Jelinek; oder auch ihre Augustine
in François Ozons „8
femmes“)
–, wozu andere Schauspieler(innen) einen enormen Aufwand an Gestik und Mimik
benötigen.
Chabrol
kann aber auch auf den Rest des Ensembles setzen, auf den einen biederen, fast
tölpelhaften, nichtsdestotrotz grundehrlichen und liebenden Charles Bovary
spielenden Jean-François Malavoy, auf den einen skrupellos spekulierenden
Händler verkörpernden Jean-Louis Maury und nicht zuletzt auf den einen
in der kleinbürgerlichen Welt emporkommen wollenden Apotheker mimenden
Jean Yanne. Auch die beiden Liebhaber der Emma – den romantisch veranlagten
Leon Dupuis und den Frauenheld Boulanger – werden von Lucas Belvaux und Christophe
Malavoy überzeugend gespielt.
So
entsteht das Sittenbild einer Welt, der entweder keiner entkommen will oder
keiner entkommen kann, in der letztlich das Geld über alle Moral, alle
Sehnsüchte, alle Liebe und Liebschaften, alle Hoffnungen und Wünsche
siegt. Chabrol gelingt es, auch Emmas Verlorenheit in dieser Welt plastisch
und drastisch zu schildern. Als sie – hoch verschuldet – zum Schluss Boulanger
und Leon um Geld bittet, um dem familiären Ruin zu entgehen, lassen sie
beide im Stich. Der Selbstmord erscheint in dieser Katastrophe der für
Emma einzige Ausweg. Nicht nur das: Die Verlogenheit, die hinter moralischer
Fassade mehr schlecht als recht versteckte Gier der örtlichen Honoratioren,
der Emma zum Opfer fällt und denen sie sich – unbewusst – zugleich als
Opfer angeboten hatte, steht Emmas Gier nach einer Welt des Luxus und der Begierde
gegenüber, die sie für den Anfang eines „ganz anderen Lebens“ und
die Erfüllung von Glück hält. Sie kann nicht verstehen, dass
sich ihr diese Welt verschließt, weil sie zum größten Teil
aus eigenen Illusionen besteht.
Besonders
drastisch kommt Chabrols Interpretation auch dort zum Ausdruck, wo es um das
Verhältnis Emmas zu ihrem Mann und ihrer Tochter geht. Für beide empfindet
sie letztlich kein Interesse. Nur ab und an leuchten in Emmas Augen die Zuneigung
zu ihrem Kind und die Dankbarkeit für ihren Mann auf. Doch dies sind mehr
unbewusste Reflexe einer in Emma verborgenen, von ihr aber bekämpften und
eingesperrten wirklichen Fähigkeit zur Liebe, die von ihren illusionären
und anderen gegenüber skrupellosen Phantasien besiegt wird.
Der
Selbstmord Emmas ist letztlich auch Ausdruck ihrer Kapitulation vor einer Welt,
in der sie nicht leben, gegen die sie aber auch kein eigenes Leben setzen konnte,
weil sie diese von ihr gehasste Welt immer wieder für sich in Anspruch
genommen hatte.
Chabrols
Adaption des Stoffes gehört für mich zu den am meisten beeindruckenden
und zugleich erschreckenden Romanverfilmungen der Filmgeschichte.
•
D V D •
Format:
UK-Import, PAL
Studio:
Arrow Film Distributors Ltd.
Sprache:
Französisch, Untertitel: Englisch
DVD
Erscheinungstermin: 22. April 2002
Der
Film liegt leider nur auf einer französischsprachigen, mit englischen Untertiteln
versehenen DVD vor, die zudem – angesichts des Fehlens jeglicher Extras – mit
€ 29,99 (amazon), € 24,99 (jpc) überteuert erscheint. Nur ausgesprochene
Liebhaber des Films werden derart viel Geld für diese DVD ausgeben.
Auch
Bild und Ton entsprechen eher durchschnittlichen Anforderungen. Die Farben sind
eher stumpf, erscheinen eher künstlich als natürlich. Der Ton ist
kaum raumfüllend. Das alles dämpft den Genuss des Films, der in prächtigen,
wenn auch nicht übertrieben grellen oder leuchtenden Farbtönen gehalten
ist (eine TV-Ausstrahlung am 11.11.2004 machte mir den Vergleich leicht).
Insgesamt
also keine empfehlenswerte, sondern ärgerliche DVD-Edition.
Wertung
Film: 10 von 10 Punkten.
Prädikat:
Wertvoll.
Wertung
DVD: 6 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Madame
Bovary
(Madame
Bovary)
Frankreich
1991, 136 Minuten
Regie:
Claude Chabrol
Drehbuch:
Claude Chabrol, nach dem Roman von Gustave Flaubert
Musik:
Matthieu Chabrol, Maurice Coignard
Director
of Photography: Jean Rabier
Montage:
Monique Fardoulis
Produktionsdesign:
Michèle Abbé-Vannier
Darsteller:
Isabelle Huppert (Emma Bovary), Jean-François Balmer (Charles Bovary),
Christophe Malavoy (Rodolphe Boulanger), Jean Yanne (M. Homais, Apotheker),
Lucas Belvaux (Leon Dupuis, Anwalt), Jean-Louis Maury (Lhereux, Stoffwarenhändler),
Christiane Minazzoli (Witwe Lefancois), Florent Gibassier (Hippolyte), Jean-Claude
Bouillad (Monsieur Rouault, Vater Emmas), Sabeline Campo (Felicite, Hausangestellte
der Bovarys), Yves Verhoeven (Justin, Bursche von Homais)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0102368
©
Ulrich Behrens 2004
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