zur startseite
zum archiv
Madonnen
Ich bin die Mutter,
du bist das Kind
Unterschicht? Bildungsfern? Rabenmutter? Führt
alles in die Irre. Maria Speths Spielfilm "Madonnen" zeichnet das
erstaunlich differenzierte Bild einer jungen Frau, die ihre Kinder vernachlässigt
Verkehrsgeräusche sind in fast jeder Szene zu
hören. Autos fahren in dichter Folge vorbei, irgendwo offscreen, aber nicht weit entfernt vom jeweiligen Schauplatz.
Für den Zuschauer sind diese Geräusche so irritierend wie eine Fräsmaschine
in der Nachbarwohnung. Für Rita, die Hauptfigur in Maria Speths zweitem
Spielfilm "Madonnen", sind sie das nicht; eher haben sie etwas Beruhigendes.
Aufzubrechen ist eine Option, die sie zum Leben braucht, da kommen Autobahnen
und Schnellstraßen genau richtig.
Wann immer jemand um sie herum ein Zuhause errichtet,
wehrt sie sich dagegen, und wann immer sie andeutet, dass sie ein Zuhause brauchen
könnte, wird ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Einmal, noch am
Anfang des Films, steht sie auf einer Terrasse und raucht, neben ihr Jérome
(Olivier Gourmet), ihr Vater, dem sie eben zum ersten Mal in ihrem Leben begegnet
ist. Sie ist nach Belgien getrampt, um ihn zu suchen. Es ist Winter, das flache
Land hat etwas Karges, Ausgezehrtes und auch etwas Uniformiertes. Im Neubaugebiet
schaut ein Haus wie das nächste aus. "Gefällt mir, das Haus",
sagt Rita, während sie raucht und friert. "Hier könnte ich auch
wohnen." Der Vater schaut ungläubig, verärgert. "War ein
Scherz", sagt Rita.
Rita (Sandra Hüller) hat fünf Kinder. Vier
von ihnen leben bei Ritas Mutter Isabella (Susanne Lothar), drei sind dunkelhäutig.
Die Väter sind abwesend. Nach und nach schält sich heraus, dass es
wahrscheinlich in Deutschland stationierte Soldaten der US-Armee sind; jedenfalls
sucht Rita im Verlauf des Films immer wieder deren Nähe, vor allem die
der afroamerikanischen Soldaten. Genaueres über die Vaterschaft erfährt
man nicht - "Madonnen" legt wenig Wert darauf, sich um die Aufklärung
solcher Details zu kümmern.
Der Film springt unvermittelt zwischen den Handlungsorten,
und einmal macht er einen gewaltigen Satz nach vorne in der Zeit. Eben noch
standen die Bäume ohne ein Blatt in der Landschaft, jetzt tragen sie sattes
Grün, und Rita sieht man nur mehr mit Spaghetti-Top. "Madonnen"
verwehrt den Zuschauern auch die Orientierung im Familiengeflecht - wer wie
mit wem zusammenhängt, wird nur karg angedeutet, so dass man sich das Weitere
selbst zusammenpuzzeln muss. Warum Dinge geschehen, bleibt genauso offen. Irgendwann
holt Rita alle Kinder zu sich. Jedes Fernsehspiel hätte ausführlich
dargelegt, was sie, die eben noch im Strafvollzug festsaß, dazu berechtigt.
Speth belässt es bei einer Szene. Als die Kinder zu der ihnen fremden Mutter
ins Auto steigen, sagt Rita: "So, jetzt wolln wir mal so richtig Spaß
haben."
Man könnte dieser Figur leicht mit Begrifflichkeiten
zu Leibe rücken, wie sie zurzeit en vogue sind, um gesellschaftliche Missstände
zu beschreiben. Unterschicht, Bildungsferne, verantwortungslose Mutter, vernachlässigte
Kinder - all die Albträume neuer und alter Bürger, in Rita finden
sie sich verkörpert. Aber nur auf den ersten Blick. Denn Speth nimmt weder
Klassifikationen vor, noch spricht sie ein Urteil aus. Sie lässt nicht
zu, dass man Rita mit einem Begriff wie "Rabenmutter" kommt oder sich
instinktiv gegen die Figur wendet, nur weil man überzeugt ist, eine Mutter
dürfe so nicht sein. Anders als die Boulevardmedien bietet "Madonnen"
nirgendwo den Raum, sich der wohligen Empörung derjenigen anheimzugeben,
die wissen, wie man die Dinge richtig macht.
Zugleich ist Rita alles andere als ein bedauernswertes
Produkt der Umstände. Im Gegenteil schlägt sie zu, wann immer es ihr
passt, mit Worten und mit Händen. Wenn sie mit ihren Kindern Armdrücken
oder Memory spielt, liegt ihr viel zu sehr am eigenen Gewinn, als dass sie nachgäbe.
Als eine Freundin nach einem Discobesuch anderer Wege gehen will als sie, zieht
Rita sie hart am Haar. Speth breitet so nach und nach ein Panorama von Abhängigkeiten
und Prägungen aus, von vererbter Vernachlässigung und umgeleiteter
Aggression. "Ich durfte sicher nie in deinem Bett schlafen", fährt
Rita ihre eigene Mutter an, kurz bevor sie mit Fäusten nach ihr schlägt.
Klar wird dabei so viel: Da draußen ist eine
große Welt, die in den Familienbildern der Parteiprogramme und der Leitartikler
nicht aufgeht - aber auch nicht in den Horrorszenarien der Boulevardpresse.
Es ist eine Welt der Versehrung und der Dysfunktion. Einen leichten Ausweg daraus
gibt es schon deshalb nicht, weil das Verhalten der einen Generation im Verhalten
der nächsten nachhallt, ohne dass dieses Echo sich mit einem einfachen
Ursache-Wirkung-Schema erklären ließe. Deswegen lässt es sich
nur so schwer bannen.
"Madonnen" lässt Hilflosigkeit und
Überforderung zwischen der Großmutter Isabella, der Mutter Rita und
deren ältester Tochter Fanny zirkulieren und vermeidet dabei simple Kausalketten.
Einmal kommt Rita spät in der Nacht heim, gemeinsam mit einer Freundin.
Die beiden verziehen sich sofort ins Badezimmer, vermutlich, um Drogen zu nehmen.
Fanny (Luisa Sappelt) liegt derweil wach auf der Couch, weil sie auf ihre Mutter
gewartet hat. Rita herrscht sie an: "Ich bin die Mutter, und du bist das
Kind."
Was tut "Madonnen", um diesen differenzierten
Blick zu erreichen? Unter anderem rückt der Film der Protagonistin nicht
zu Leibe. Das Maximum an Annäherung ist, dass man sieht, wie Rita an ihren
Nagelhäuten rupft. Das Gesicht Sandra Hüllers wird kaum je zugänglich
gemacht, eher kann man sie in halbnahen oder amerikanischen Einstellungen beobachten
- etwa wenn sie trotzig an der nackten, weißen Wand lehnt, die Arme verschränkt,
während Marc, ihr neuer Freund (Coleman Orlando Swinton), ein Sofa heranschafft.
"Ich will das nicht, hast du mich verstanden?" Einige Szenen später
steht sie an der Balkonbrüstung, das Gesicht von Marc abgewandt, nachdem
er vorgeschlagen hat, mehr zu reden und sich besser kennenzulernen. "Du
kennst mich nicht, du fragst mich nie etwas", sagt er und meint es als
Angebot. Sie herrscht ihn an: "Was willst du bloß?"
Die Kamera - Reinhold Vorschneider führt sie
- positioniert sich oft etwas abseits vom Geschehen. Sie steht in einem Flur
oder einem anderen Zimmer, während sich die Handlung jenseits einer geöffneten
Tür zuträgt. Immer wieder filmt Vorschneider durch Glasscheiben hindurch.
En passant wird dabei eine bestimmte Art bundesrepublikanischer Architektur
evoziert. Eine aus Wohlstand und Sozialstaat geborene Kombination von Fliesen
und Glas, zu eng und klein im Maßstab, um wirklich modern zu sein, und
doch ist da eine Ahnung von Offenheit. Gerade im Strafvollzug gibt es paradoxerweise
viele Glaswände, die Durchlässigkeit suggerieren. Auch in der parzellierten
Welt der Hochhaussiedlung schafft die Balkontür eine Idee von Weite und
Großzügigkeit, ganz gleich, wie knapp die dazugehörige Wohnung
bemessen ist. Zugleich bedeutet das Filmen durch Glas, dass eine Distanz eingezogen
wird - nahe im Sinne einer psychologischen Einfühlung kommt man den Figuren
nicht, man bleibt Beobachter, man erhält keinen unmittelbaren Zutritt zu
Ritas Welt, und deshalb gerät man nicht in die anmaßende Position,
sie zu verstehen.
Es gibt Filme, die eine Figur wie Rita wie eine Laborratte
in einer Versuchsanordnung antreten lassen. Der französische Regisseur
Bruno Dumont geht bisweilen so vor - aus der Feldherrnperspektive blickt er
(und sein Publikum mit ihm) auf das Elend der Protagonisten. Diese Unbarmherzigkeit
ist Speth fremd, ihr geht es nicht darum, die Schlechtigkeit der Welt herauszustreichen,
ihr geht es ums Registrieren, ums Beobachten. Das führt auch dazu, dass
man Rita in heiteren, entspannten Augenblicken erlebt, beim Tanzen mit den GIs
oder mit einem Gin Tonic in der Hand, in einen ruppigen Flirt verwickelt. "Madonnen"
macht seinen Zuschauern das Geschenk, dass sie selbst sehen müssen, wie
sie damit klarkommen.
Cristina Nord
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der taz
Madonnen
Deutschland
/ Schweiz / Belgien 2007 - Regie: Maria Speth - Darsteller: Sandra Hüller,
Luisa Sappelt, Coleman Orlando Swinton, Susanne Lothar, Gerti Drassel, Olivier
Gourmet, Ariana Lewis, Kenneth Uhle, Elli Götze - FSK: ab 12 - Länge:
120 min. - Start: 6.12.2007
zur startseite
zum archiv