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Nein, Sie werden diesen
Film nicht so schnell wieder zu sehen bekommen. Er ist als Spielfilm zu kurz
fürs Fernsehen oder für eine DVD (70 Minuten). Er ist zu pessimistisch,
zu reduziert, aber er ist ein perfektes Anschauungsobjekt für junge Filmemacher.
Vielleicht sollten Sie Filmwissenschaften studieren, und dann haben Sie HOFFENTLICH
gute Chancen ihn zu sehen, denn dieser Film ist vorbildlich in seinem Aufbau,
klar in seiner Struktur, meisterlich in seiner Durchführung. Überhaupt,
wer lernen will, wie das filmische Umsetzen von Geschichten – so man sie noch
erzählen will – eigentlich funktioniert, im „Mädchen aus der Streichholzfabrik“
wird er ein Musterbeispiel finden und in Aki Kaurismäki einen Meister.
Am Anfang ist das Band,
das der industriellen Produktion. Der Urknall die Maschine selbst, die rattert
und tickt und tackt und einen Rythmus vorgibt, den Arbeitsrythmus. Das geht
so eine ganze Weile. Und dann: Ein einziger Mensch ist zur Kontrolle da. Die
junge Frau produziert nichts. Aber sie kontrolliert, ob die Maschine richtig
funktioniert. Sie steht am Band und prüft den korrekten Sitz der Ettiketten.
Sie ist das Mädchen aus der Streichholzfabrik. Ob sie einen Namen hat,
ist nebensächlich. Die Streichholzschachteln dagegen haben einen, der gut
lesbar sein muss. Dafür ist sie zuständig.
Iris lebt in einer kleinen
Wohnung bei ihrer Mutter und deren Freund. Wenn sie von ihrer Arbeit in der
Fabrik kommt, dann kocht, putzt und bügelt sie für die beiden, die
die ganze Zeit schweigend vor dem Fernseher sitzen und sich von ihr bedienen
lassen, und sie gibt ihnen den großen Teil ihres Arbeitslohns. Nicht einmal
ein eigenes Zimmer hat sie. Sie schläft auf der Couch im Wohnzimmer. Gedankt
wird ihr nicht. Als sie sich dann ein schönes Kleid kauft, wird ihr befohlen,
es zurückzubringen und wieder einzulösen, damit die Monatskasse stimmt.
Iris geht stattdessen in ihrem neuen Kleid tanzen.
In der Diskothek lernt
sie Arne kennen, der sie mit in seine luxuriöse Wohnung nimmt. Frühmorgens
legt er ihr einen Geldschein auf den Nachttisch und verlässt leise die
Wohnung. Sie lässt das Geld liegen und schreibt ihre Telefonnummer auf
einen Zettel. Sie schreibt mit einem billigen Kuli, der die Farben eines Regenbogens
hat.
Lakonik: besonders kurze, aber
treffende Art des Ausdrucks (Fremdwörter-Duden).
Man wird kaum einen Text
zu einem Film von Aki Kaurismäki finden, in dem dieses Wort nicht in irgendeiner
Form verwendet wird. Die Figuren in seinen Filmen reden meist in knappen, kurzen
Sätzen, wenn nicht Halbsätzen. Kaurismäkis Misstrauen dem verbalen
Ausdruck und dem Dialog gegenüber ist mitunter so stark, dass er die Sprache
gar zeitweise völlig aus seinen Filmen eliminiert. Mit „Juha“ (1999) hat er sogar
einen reinen „Stummfilm gedreht. Die Wahrheit liegt für ihn in dem Gezeigten,
nicht in dem Gesagten. Sprache ist für ihn im „Mädchen aus der Streichholzfabrik“
kein vollwertiges Kommunikationsinstrument, sie reduziert sich auf letzte Stichworte,
die das Gesehene bestätigen. Das allererste gesprochene Wort im Film fällt
nach etwa zehn Minuten und es kommt bezeichnenderweise aus dem Fernseher, in
welchem von den Studentenaufständen in China berichtet wird, die 1987,
zwei Jahre vor den Dreharbeiten, brutal auf dem „Platz des himmlischen Friedens“
niedergeschlagen wurden.
Ihre Sprache haben die
Figuren im „Mädchen aus der Streichholzfabrik“ verloren, Sprache ist von
den Medien vereinnahmt, der Fernseher hat schon lange das Gespräch ersetzt,
und das gemeinsame Schweigen vor dem Fernseher ist der treffendste Beleg für
die die Allgegenwärtigkeit dessen, worunter Iris am meisten leidet: Einsamkeit.
Nicht Menschen erzählen
in Aki Kaurismäkis Film, sondern die strengen, genau kalkulierten Bilder
der Standkamera, sie sprechen zwar von Fremdheit, Gleichgültigkeit, Einsamkeit,
aber auf distanzierteste Weise. Und zur Sprache kommt Musik, die des klassischen
Rock’n Roll, und die des traditionellen finnischen Tangos, der die Sehnsucht
nach einem „Land jenseits des Meeres“ besingt, in dem es „keine Angst vor Morgen“
gibt.
„Das Mädchen aus
der Streichholzfabrik“ ist eine Urenkelin des „Mädchen mit den Schwefelhölzchen“,
aus dem gleichnamigen Märchen von H.C. Andersen, die nicht nach Hause gehen
mag, weil sie keine Streichhölzer verkauft hat, und von ihrem Vater geschlagen
werden wird. Lieber erfriert sie in der Kälte der Silvesternacht. Beide
sind gutmütig, einsam und ausgenutzt, beide preisgegeben einer kalten,
dunklen Welt, dem langen skandinavischen Winter auffallend ähnlich. Auch
Iris’ zweite Verwandte ist die Kreatur eines Skandinaviers: Die Geschichte von
Grace aus Lars von Triers Film „Dogville“ ist in ihren Grundzügen
identisch mit der von Iris. Beide Frauen ordnen sich ihrer Umgebung demütig
und selbstlos unter und lassen sich so lange demütigen, bis es ihnen reicht.
Beide Filme haben die gleiche, so nachvollziehbare, bitterböse Konsequenz.
Und beide Filme sind stilisiert,
minimalistisch in ihren Bildern und Mitteln, Triers Film ist beeinflusst durch
das Theater von Bert Brecht, Kaurismäkis dokumentarisch wirkender, aber
kunstvoll aufgebauter Film durch den Stil eines Robert Bresson oder eines frühen
Fassbinder. Und beide Filme sind Teile von Trilogien: „Dogville“ ist der erste
Teil von von Triers „Amerika“-Trilogie, und „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“
nach „Schatten im Paradies“(1986) und „Ariel“ (1988) der letzte Teil
aus Kaurismäkis „Proletarischer Trilogie“. Beide Filme, auf ihre ungleiche
Art, sind Meisterwerke. Das symphatischere Meisterwerk ist mir das von Kaurismäki.
Ein bisschen sehr kokett intellektualistisch, ironisierend, gebüldet selbstreflektiv
und ambitioniert drückt einem „Dogville“ auf den Nerv. Sehr klar und auf
einem entscheidenden, durch keine zuvielen Worte aufgeblähten, Punkt dagegen:
„Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“.
Was diese beiden Filme
insgesamt mehr sind, skandinavische Elegien oder elegische Kapitalismuskritiken,
es ist schwer zu entscheiden. Aber stammt nicht der dunkle, kalte Geist des
Kapitals eher aus dem dunklen, kalten europäischen Norden?
Dieser Text
ist zuerst erschienen in der www.filmzentrale.com
Mehr über diesen Film können Sie auch in Kuhlbrodts Aki-Kaurismäki-Text lesen
Wer sich
für einen gesprochenen Text zum Film interessiert: http://www.radiobremen.de/online/jansen/archiv/1999/streichholz.htm
Hier wird Filmkritiker Peter W. Jansen von Radio Bremen, offenbar im Jahr 1999 – kurz vor der Berlinale -, ausführlich zum Film und zu Aki Kaurismäki befragt. Sehr hörenswert!
Das
Mädchen aus der Streichholzfabrik
TULITIKKUTEHTAAN
TYTTÖ
Finnland
- 1989 - 70 min.
Verleih:
Pandora
Erstaufführung:
20.9.1990
Fd-Nummer:
28531
Produktionsfirma:
Villealfa Filmproduktions Oy/Swedish Film Institute/Finnish Film Foundation
Regie:
Aki Kaurismäki
Buch:
Aki Kaurismäki
Kamera:
Timo Salminen
Musik:
Originalmusik aus finnischen Schlagern
Schnitt:
Aki Kaurismäki
Darsteller:
Kati
Outinen (Iris)
Elina
Salo (Mutter)
Vesa
Vierikko (Arne)
Esko
Nikkari (Stiefvater)
Silu
Seppälä (Bruder)
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