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Man muss mich nicht lieben
Beschwerlich knarren Schritte auf
der Mietshaustreppe. Man muss den Mann nicht einmal sehen, – wenn zum Vorspann
die Treppe ächzt, sagt das schon alles über ihn. Jean-Claude ist das
personifizierte Burn-Out-Syndrom. Aber Mitleid fällt uns schwer, denn der
verknitterte Herr ist als Gerichtsvollzieher unterwegs. Einer, der sich seit
Jahr und Tag Stockwerk für Stockwerk hinaufmüht, um armen Schluckern
Zahlungsbefehle oder Räumungsbescheide in die Hand zu drücken. Pflichtbewusst,
routiniert, regungslos.
„Man muss mich nicht lieben“ – der
Titel von Stéphane Brizés zweitem Spielfilm legt seinem Helden
einen Satz in den Mund, der nur auf den ersten Blick kaltschnäuzig klingt.
Vielmehr schwingen darin Trotz und ein uneingestandener Wunsch nach Geborgenheit
mit. Jean-Claudes in fünfzig Lebensjahren versteinertes Gesicht, seine
Unfähigkeit, Inneres nach außen zu kehren, bildet den tragischen
Kern dieser französischen Komödie, die erzählt, wie frischer
Wind in eine zwischen Aktendeckeln verklemmte Existenz fährt. Als Jean-Claude
das Fenster seiner Kanzlei öffnet, schwebt Musik aus der Tanzschule gegenüber
herein. Klammheimlich umfasst er die stickige Büroluft, als hielte er eine
Frau in den Armen. Er beginnt, sich in ungelenken Tanzschritten zu wiegen. Geht
doch. Vielleicht. Also meldet sich Jean-Claude zur Tango-Anfängergruppe
an, wo ihn Françoise anspricht. Ob er sich nicht erinnere? Seine Mutter
sei doch ihr Kindermädchen gewesen! Jean-Claude erinnert sich dunkel, bleibt
reserviert, aber als er mit der hübschen, um Jahre jüngeren Françoise
tanzt, keimt eine seltsame Liebe auf. Und Françoise, selbst irritiert
über ihre beginnende Zuneigung, verschweigt dem Verehrer, dass sie Tango
für ihre eigene Hochzeit übt.
Die Besetzung mit Patrick Chesnais
und Anne Consigny ist ein doppelter Glücksfall. Ohne dem grandiosen, mit
minimalem Aufwand Präsenz erzeugenden Chesnais zu nahe treten zu wollen:
schütterer Schnurrbart, ergraute Mähne, trübe Miene lassen irgendwie
an Jean Cocteaus „Schöne und die Bestie“ denken. Oder an „Lost
in Translation“:
ähnlich wie bei Scarlett Johansson lässt Anne Consignys zarte Beharrlichkeit,
ein Sehnen, das sich selbst nicht kennt, die Frage gar nicht erst aufkommen,
was denn die stille Schönheit am grauen Wolf eigentlich findet.
Trotz der dramaturgischen Bedeutung
des Tangos behandelt Brizé die Tanzstunden ziemlich knapp, lehnt sich
also kaum an Filme wie „Darf ich bitten?“ an (in dem Jennifer Lopez Richard
Gere mit Foxtrott in Schwung bringt). Überhaupt verfiel der Regisseur und
Autor relativ spät auf die Tango-Idee, plante zunächst, dass die Liebenden
im Makramée-Kurs (!) zarte Bande knüpfen sollten. Zwar kommen kurze,
humorvolle Tanzszenen vor, etwa wenn Jean-Claude mit Bürokratenmiene eine
Tanzstundenpartnerin nach der anderen durch den Saal schiebt oder wenn Françoise
von einem Parkett-Macho bedrängt wird, der den Augenaufschlag seiner argentinischen
Vorbilder wohl vor dem Spiegel geübt hat. Die Kamera konzentriert sich
auf die stummen, manchmal Hilfe suchenden, oft komischen Blicke der Figuren.
Auf die Füße der Tanzenden schaut sie nie. Die Seele des Tangos legt
nur die faszinierende, jauchzend-jammernde Musik von Christoph H. Müller
und Eduardo Makaroff frei. Stachelige Rhythmen und gleißende Geigen künden
von Trauer, Haltlosigkeit, Sehnsucht, von Gefühlen also, die sich die Protagonisten
nicht eingestehen wollen.
Das allgegenwärtige Leitmotiv
des Films, die Unfähigkeit zur Kommunikation, prägt auch die Nebenfiguren:
Eingesponnen in einen Kokon ist Françoises Verlobter (Lionel Abelanski),
der sich so in sein Romanprojekt verbeißt, dass er den Mund kaum für
ein Wort an seine Zukünftige aufbekommt. Schweigend sitzt Jean-Claudes
Sohn (Cyril Coupon) sein Problem aus, sich als Kanzlei-Juniorpartner fehlbesetzt
zu fühlen. Geradezu bedrückend: das Verhältnis zwischen Jean-Claude
und seinem eigenen Vater, der ihn mit Vorwürfen piesackt und doch mit verstohlenem
Stolz die Meisterschaftspokale hortet, für die er den Sohn einst über
den Tennisplatz jagte – Symbole einer gestohlenen Kindheit. Wenn Brizé
Jean-Claude den Silberschatz in Vaters Schrank entdecken lässt, leistet
er sich einen Paukenschlag, der doch sehr aus dem lakonischen Ganzen herausfällt.
Wie leichtfüßig der Film
ansonsten durch das melancholisch-heitere Genre tanzt, wie gekonnt Brizé
die Sprachlosigkeit seiner Figuren in Situationskomik ummünzen kann, beweist
die Szene im Kosmetikladen: Jean-Claude möchte Françoise beschenken
und lässt sich zig Parfüms vorführen. Dann hat er den richtigen
Duft gefunden – mit dem „falschen“ Etikett. „Haben Sie etwas Ähnliches
mit einem anderen Namen?“, fragt Jean-Claude die Verkäuferin und schiebt
den Flakon mit der Aufschrift „Passion Intense“ beiseite. Die Wahrheit ist zu
brenzlig.
Jens Hinrichsen
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-dienst 15/2006
Man
muss mich nicht lieben
Frankreich
2005 - Originaltitel: Je ne suis pas là pour être aimé -
Regie: Stéphane Brizé - Darsteller: Patrick Chesnais, Anne Consigny,
Georges Wilson, Cyril Coupon, Lionel Abelanski, Geneviève Mnich - FSK:
ohne Altersbeschränkung - Länge: 93 min. - Start: 20.7.2006
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