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Der
Mann, der zuviel wusste
Im
Reich des Ohrwurms
So,
wie man vor Gemälden steht und fragen kann, woher denn jetzt bitteschön
das Licht in dem Bild kommt, so durfte man früher durchaus mit dem Kopf
schütteln, wenn in einem Film Musik erklang, aber keine Musiker zu sehen
waren. Das akusmatische Prinzip war den Anfängen des Films fremd. Die Musik
musste motiviert sein. Später merkte man, dass Filme viel besser funktionieren,
wenn der Betrachter gar nicht mitkriegt, wo die Musik spielt. Mehr noch: dass
überhaupt. Funktionelle Hintergrundmusik, muzak.
Vor
diesem Hintergrund muss man nicht unbedingt eine Provokation darin sehen, dass
Alfred Hitchcock seinen besten Filmmusikkomponisten, Bernard Herrmann, selbst
auftreten lässt, denn Herrmann dirigiert zwar, sogar in der Londoner Royal
Albert Hall, aber dann doch nicht seine eigene Musik. Was Herrmann aber vorführt,
ist, dass selbst diese Musik vor erlauchtestem Publikum, E-Musik, in dem Rahmen
des Films nur ein Anlass ist für etwas anderes, für etwas, für
das Musik nie etwas anderes sein kann als ein Hilfsmittel, nämlich Hitchcocks
suspense. Was den Zuschauer des Films interessiert, ist nicht, ob die Sängerin
Alt oder Sopran singt oder wie viel Bläser Lärm machen, sondern ausschließlich,
wann ein bestimmter Musiker aufstehen wird, um das Becken zu bedienen und was
dann noch passiert, unabhängig von der Musik.
Die
Provokation, wenn man überhaupt davon sprechen will, wird zur Ironie, wenn
man bedenkt, dass Hitchcock hier E-Musik genau so behandelt wie Filmmusik. Genauer,
E-Musik wird zur Filmmusik, indem sie exakt den Spannungsbogen orchestriert,
den die Handlung des Films in diesem Moment zurücklegt. Ein gedungener
Mörder sitzt in einer Loge, sein Opfer, der britische Premierminister,
in Sicht- und bequemer Schussweite, und als dritte im Spiel Jo McKenna, die
um ihren Jungen Olsen kämpft und vor der schwierigen Entscheidung steht,
den Mund zu halten und ihren Sohn zu retten (wenn sie überhaupt ihren Erpressern
trauen darf) oder sich irgendwie bemerkbar zu machen und den Staatsmann vor
dem Tod zu bewahren mit der Konsequenz, dass dann ihr Sohn stirbt.
Jo
entscheidet sich für eine Performance. Und man bedenke, dass es sich bei
der Schauspielerin um die sonst so biedere Doris Day handelt. Man glaubt plötzlich,
die letzten Takte von Alban Bergs „Lulu“ zu hören, der Schrei Lulus, als
sie von Jack the Ripper attackiert wird. Immerhin lenkt Jos Schrei die Kugel
ab bzw. macht der Premier eine unvorhergesehene Bewegung, er überlebt,
der Schuss verfehlt sein Ziel, der Killer (in Hitchcocks Fassung dieses Films
aus dem Jahr 1935 war das Peter Lorre) stürzt von der Empore und stirbt.
Ist
es Zufall, dass um 1955 der Situationismus entstand? Eine zweite, fast noch
genialere „Entwendung“ von Musik bietet Jo in der noch ausstehenden Rettungsaktion
ihres Sohnes. In der Botschaft, in der sie auch ihren gefangenen Sohn vermutet,
bittet sie darum, eine kleine musikalische Darbietung zum Besten zu geben. In
der Hoffung, dass Olsen auf seinen Lieblingssong „Que sera, sera, whatever will
be, will be“, den Jo vor einem verstörten Publikum zu eigener Klavierbegleitung
singt, mit einem erfreuten Pfeifkonzert antworten wird, legt die mutige Mutter
los. Das Lied will nicht aufhören, Jo wird lauter und lauter (war das der
Grund für den Oscar?), und der an der Tür lauschende Vater (James
Stewart) hört endlich, dass die Musikanten zusammengefunden haben. Dann
wird’s noch mal kurz spannend, weil ein anderer Bösewicht die Befreiung
vereiteln will, aber alles endet gut, und das ganz ohne Fatalismus.
Wer
aber war der Mann, der zu viel wusste?
Dieter
Wenk
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Der
Mann, der zuviel wußte
THE
MAN WHO KNEW TOO MUCH
USA
- 1956 - 112 min. – Scope – Thriller - FSK: ab 12; nicht feiertagsfrei - Verleih:
Paramount - Universal (Video) - Erstaufführung: 11.10.1956/13.8.1999 Video
- Fd-Nummer: 5338 - Produktionsfirma: Paramount
Produktion:
Alfred Hitchcock
Regie:
Alfred Hitchcock
Buch:
John Michael Hayes, Angus MacPhail
Kamera:
Robert Burks
Musik:
Bernard Herrmann
Schnitt:
George Tomasini
Special
Effects: John P. Fulton
Darsteller:
James
Stewart (Dr. Ben McKenna)
Doris
Day (Jo McKenna)
Daniel
Gélin (Louis Bernard)
Brenda
de Banzie (Mrs. Drayton)
Bernard
Miles (Mr. Drayton)
Ralph
Truman (Buchanan)
Mogens
Wieth (Botschafter)
Alan
Mowbray (Val Parnell)
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