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Der
Mann mit der Kamera
Inhalt:
Impressionen
vom Erwachen, der Arbeit und Freizeit in einer russischen Stadt am Ausgang der
20er-Jahre, festgehalten vom Kameramann Mikhail Kaufman, der oftmals selbst
im Bild zu sehen ist, und sich hier bei der Arbeit von seinen Assistenten filmen
lässt. Für beinahe einen ganzen Tag lässt Kaufman seine Kamera
Eindrücke sammeln, stellt Wirkungen seines Arbeitsgeräts auf die Menschen
dar und dokumentiert den sozialistischen Alltag.
Kritik:
Als
ich mich auf dieses Essay zu Chelovek
S Kinoapparatom
vorbereitete und während dieser Zeit den Film erneut mehrfach ansah, geriet
ich in eine etwas missliche Lage hinsichtlich der Schwerpunktsetzung in dieser
Besprechung: Wie sollte ich vermitteln, dass Vertovs Meisterwerk trotz all seiner
filmästhetischen Theoriebezogenheit, trotz seiner teils propagandistischen
Wirkungen und trotz seiner scheinbar oftmals sehr artifiziellen Erscheinung
ein Film ist, dessen Anschauen pures Vergnügen ist, und gleichzeitig diesen
Punkten irgendwo gerecht werden, da sie es letztlich waren, die Chelovek
S Kinoapparatom
seinen Platz in der Filmgeschichte sicherten. Wenn man heute Essays über
diesen, wohl einen der legendärsten Experimentalfilme liest, fühlt
man sich schier erschlagen von hoher Filmtheorie, von den Gedankenmodellen der
sowjetischen Montagetechnik und langen kulturphilosophischen Diskursen über
den Film und vor allem die Zeiten und Umstände, in und unter denen er entstanden
ist. Als ich Chelovek
S Kinoapparatom
erstmals sah, wusste ich wenig über Eisenstein, noch weniger über
Vertov und fast gar nichts über Begriffe wie die Gruppe der "Kinoki",
die Vertov leitete. Trotz meines Unwissens über die Umstände und Entstehungsprozesse
der Kunst verschlug mir deren Resultat jedoch den Atem, faszinierte und vereinnahmte
mich in ihrer immensen filmischen Virtuosität.
Dziga
Vertov legte seinen Film als wegweisendes Experiment an: Er wollte, wie es im
Vorspann des Werkes (nebenbei bemerkt die einzigen Schrifttafeln im Film) vollmundig
angekündigt wird, eine eigene, internationale Sprache des Kinos kreieren;
quasi beweisen, dass der Film eine völlig eigenständige Kunstform
ist, unabhängig von allen anderen. Hierzu musste ein Kunstwerk entstehen,
das der totalen Abkapselung von den dem Film am nächsten verwandten Kunstgattungen
unterworfen war - dem Theater und der Literatur. Beide liefern "normalerweise"
unersetzliche Bestandteile für die Entstehung eines Filmes, nämlich
das narrative (literarische) und das inszenierende, darstellende und gestaltende
(theatralische) Element. Folgerichtig verzichtete Vertov auf jede Form von Dramaturgie
und Gestaltung, sondern beließ es bei non-linearen, dokumentarischen Impressionen
und setzte allein auf die Wirkung der Montage. Hierbei ist Chelovek
S Kinoapparatom
jedoch keineswegs als Ausnahmeerscheinung und einmaliges Experiment im Schaffen
des Filmemachers anzusehen, sondern stellte lediglich die "Krönung"
einer filmtheoretischen und praktischen Entwicklung dar, die Vertov letztlich
zum Dogma erhob: Filme sollten - ganz generell und ausnahmslos - das "Leben
so zeigen, wie es ist"; jede Art von Inszenierung war Verfälschung
und reine Dummheit für ebenso dumme Zuschauer. Dass aber schon und gerade
die Montage, dieses geniale und berühmte Werkzeug der sowjetischen Filmemacher
der Stummfilmzeit, vielleicht mehr verfälschend und weniger wahrheitsgetreu
sein kann, als alle "harmlose" Inszenierung, bricht Vertovs Ideal
letztlich praktisch das Genick und wird vor allem im (auch dokumentarischen)
Propagandakino der Sowjetunion als wohl am meisten gestaltende, inszenierende
und umformende Filmbearbeitung überhaupt entlarvt.
Chelovek
S Kinoapparatom
ist ein Film, dessen Ideenreichtum hinsichtlich der Zusammenstellung von Bildfolgen
einzigartig erscheint: Mit jedem Schnitt werden ein Ideal oder eine Metapher
wie ein Faden weitergesponnen, werden ohne jedes Wort und praktisch ohne Zusammenhang
so nebeneinander gestellt, dass sie plötzlich Sinn ergeben, weil wir den
einzelnen, "unabgewandelten Bildern" (David Mamet in seinem Buch "Die
Kunst der Filmregie") bestimmte Bedeutungen zuordnen, die sich schließlich
als ein gedanklicher Gesamtentwurf enthüllen, der ohne ihre Nebeneinanderstellung
im Schnitt nicht möglich gewesen wäre. Hierbei folgt Vertov - wie
alle Vertreter der Idee der Montage - der berühmten Theorie Sergei Eisensteins
von der Erzeugung einer Synthese aus These und Antithese in (mindestens zwei)
bestimmten Bildern. Eisenstein geht bei dieser faszinierenden Theorie davon
aus, dass durch die Nebeneinanderstellung zweier Bilder, die miteinander augenscheinlich
in keinerlei Verwandtschaft stehen müssen, jedoch jeweils einen spezifischen
Ausdruck in sich tragen, in ihrer Zusammengesetztheit auf einmal ein neuer Ausdruck,
quasi eine neue Botschaft entstehen kann, die vorher in keinem von beiden Bildern
vorhanden war. Nehmen wir hierfür zwei Beispiele, direkt aus dem Film:
In einer Szene, relativ zu Beginn, sehen wir eine junge, durchaus wohlhabend
wirkende Frau, schlafend in ihrem Bett. Bevor sich die Kamera jedoch ihr zuwendet,
hält sie kurz die Einstellung eines Posters zu einem Spielfilm fest, das
über ihrem Bett hängt. Die russische Schrift auf dem Poster bedeutet,
wie Yuri Tsivian im Audiokommentar der US-DVD festhält, in etwa so viel
wie "Leise, weg sie nicht auf!". Fraglos ist dies als polemischer
Angriff seitens Vertovs auf die Welt der Bourgeoisie zu werten: Die verhassten
Filme der Fiktion haben gerade die Kapitalisten in einen schläfrigen Dämmerzustand
und einen der geistigen Ermüdung versetzt, aus dem sie sie auf gar keinen
Fall geweckt sehen wollen; wohingegen Vertovs (und allgemein die der "Kinoki"-Gruppe,
deren geistiger Führer Vertov war) dokumentarische Filme mit der "Mission"
antreten, die Schlafenden wachzurütteln und aufzuklären. Noch deutlicher
wird diese Diffamierung aller Fiktion in unserem zweiten Beispiel: Im letzten
Drittel des Films sehen wir einige Einstellungen in einer Kneipe. Die Menschen
lassen sich gehen, trinken reichlich und an einer Stelle fängt Vertovs
Kameramann dann auch ein, wie die Bierflaschen ausgerechnet genau vor einem
weiteren Poster abgestellt werden - natürlich wieder dem eines Spielfilms.
Alkohol und fiktives Kino werden somit zur verteufelten Gegenfigur zu der kommunistischen
Idee Vertovs und seiner Anhänger. So brillant diese Montagen sein mögen,
so sehr entlarven sie Vertov als klassischen Regisseur, Gestalter und Filmemacher
viel mehr, als denn als "Überwacher des Experiments", wie er
sich bei Chelovek
S Kinoapparatom
gerne selbst sah. Als jemanden, der ganz bewusst Material so aneinanderfügen
lässt, dass auch aus völlig zufälligen, unzusammenhängenden
und viele Fragen aufwerfenden Einstellungen eine sozialistische Botschaft werden
kann. An diesen Stellen sind Vertovs Filme vom Dokumentarischen, also die "Wahrheit
Abbildenden", in etwa soweit entfernt, wie Vsevolod Pudovkins Meisterwerke
von einer differenzierten Sicht auf die politische Lage Russlands zu dieser
Zeit. Dass dies die rein filmischen Qualitäten von Vertovs Werk keinesfalls
mindert, sondern im Gegenteil eher noch steigert, ist wohl darauf zurückzuführen,
dass uns das "dokumentarische Ideal" eines über siebzig Jahre
alten, kommunistischen Films gemeinhin weitaus weniger interessiert, als die
Art, wie hier mit Filmtechniken, Stilmitteln und Erzählmöglichkeiten
umgegangen wird. Und stilistisch ist Chelovek
S Kinoapparatom
fraglos eines der erstaunlichsten Filmdokumente seiner Zeit.
Zwar
ist Chelovek
S Kinoapparatom
wie eingangs erwähnt ein Film ohne stringente Dramaturgie, aus Leitmotiven
und wiederkehrenden Mustern wird aber so etwas wie eine Thematik geboren, die
durchaus etwas Erzählerisches an sich hat. Der Film "dokumentiert"
lose den Ablauf eines Tages in einer russischen Stadt und gliedert sich hierbei
strikt nach drei thematischen Ebenen: Das Erwachen der Stadt, die Arbeit in
der Stadt und die Freizeit in der Stadt. Hierbei ist Chelovek
S Kinoapparatom
jedoch sicherlich keine Ode an eine spezifische Metropole oder urbane Atmosphäre,
wie etwa Ruttmanns Berlin: Die
Sinfonie einer Großstadt
(1927). Schon die Tatsache, dass Vertov seine Impressionen aus verschiedenen
Städten (unter anderem Odessa, Moskau und Kiew) zur Vision von einer einzigen
Stadt montagetechnisch verdichtete, lässt darauf schließen, dass
es dem Filmemacher um andere Prioritäten ging. Vielmehr werden nämlich
jeder thematischen Ebene des Films eine ideologische Figur und Bedeutung zuordnet.
So wird etwa das Erwachen der Stadt zum Gleichnis auf das Aufstreben des Kommunismus
und die Deskription der (tatsächlich freudestrahlenden) Arbeitswelt zum
Hymnus auf eine perfekte Symbiose des Arbeiters mit seinem Werkzeug, während
das letzte Kapitel, das der Freizeit, von höchstem sportlichen Eifer und
Optimalvorstellungen des menschlichen Körpers geprägt ist. Der Filmprofessor
Vlada Petric assoziiert zum Beispiel gerade den letzten mit dem mittleren Teil
des Films, insofern, als dass er in der Gegenüberstellung von Menschen
und Maschinen Vertovs Versuch sieht, die gewisse Schönheit und Ästhetik
maschineller Vorgänge zu beschreiben, indem er sie unmittelbar neben die
Bilder perfekter Sportlerkörper setzt. Unschwer zu erkennen ist also, dass
sich praktisch sämtliche Szenen bei genauer Betrachtung in größere
und übergeordnete Zusammenhänge einordnen lassen. Gleichzeitig wäre
es jedoch auch falsch davon auszugehen, eine jede Einstellung des Meisterwerkes
hätte ein politideologisches Bewusstsein in sich. Immer wieder entwirft
Vertov Szenen, die seinem eigentlich angestrebten Experiment von der Entwicklung
einer unabhängigen Filmsprache auf geniale Weise nahe kommen: In der vielleicht
am stärksten und beeindruckendsten montierten Szene des Films erleben wir
etwa explizit und recht ausführlich die Geburt eines Kindes und sehen im
Gegenschnitt dazu beinahe ebenso explizit Menschen, die Eingänge betreten
und Ausgänge verlassen. Beim Überdenken dieser Sequenz fällt
uns mit einem leichten Schmunzeln auf, dass es Vertov hier tatsächlich
gelungen ist, die Frauen als so etwas wie "Portale des Lebens" (Yuri
Tsivian) darzustellen - und dies aus zwei miteinander völlig unverwandten
Bildentwürfen. Oder in einer weiteren fantastischen Szene, in der wir sehen,
wie eine Heiratsurkunde unterzeichnet wird, während die nächste Einstellung
wie beiläufig eine Straßenverkehrssignal zeigt, das praktisch von
"Anhalten" auf "Losfahren" umschaltet. Wie Vertov auf diese
Weise aus theoretisch zusammenhanglosen Einzelbildern eine ganze, sinnvolle
und durchdachte Sequenz herauszulesen versteht, ist ohne jeden Zweifel großartige
Kunst.
Auch
bei den zwei heute vielleicht am meisten und liebsten erinnerten Gestaltungselementen
von Chelovek
S Kinoapparatom
überwiegt klar der formalästhetische Genuss über die ihnen fraglos
immanente politische Aussage: Zum einen ist dies natürlich der Kameramann
(Mikhail Kaufman) selber, dessen zuweilen waghalsige Aktionen zur Erschaffung
einer Einstellung der Film immer wieder ins Zentrum rückt. So sehen wir
Kaufman, gefilmt von seinen Mitarbeitern, zum Beispiel beim sicherungsfreien
Erklimmen eines Turmes, und erleben daraufhin die spezifische Einstellung, die
er von hier oben aus drehen konnte. In solchen und ähnlichen Sequenzen
(Kaufman ist im Film praktisch allgegenwärtig; einige Bilder von ihm, wie
er unentwegt an seiner Kamera kurbelt und nach der "wahrheitsgetreuen"
Einstellung sucht, gehören heute zu den unumstößlichen Symbolen
des Filmemachens) wird Chelovek
S Kinoapparatom
zu einer großen Apotheose des Kameramanns und des dokumentarischen Filmemachers.
Beinahe überdeutlich wird dies am Ende, wenn Vertov seinen Kameramann in
Überlebensgröße mit seinem Stativ und der Kamera wie ein wachendes,
alles abbildendes Auge über der Stadt montiert, um ihn kurz darauf, nun
aber als Miniatur, aus einem Bierglas entsteigen zu lassen. Der zweite gestalterisch
einzigartige Aspekt ist der, der bewussten Darstellung des Films als eben einen
solchen: Immer wieder baut Vertov Zwischenschnitte in seine Visionen vom idealen
sozialistischen Stadt-, Arbeits- und Freizeitleben ein, und zeigt sein Werk
in seiner Entstehung: Nicht nur, dass wir, wie gesagt, den Kameramann sehen
können, auch der Schnitt beispielsweise, ausgeführt von Vertovs Frau,
kann in seinem Entstehen am Schneidetisch Stück für Stück und
mit den eben vom Kameramann erstellten Einstellungen verfolgt werden. Der gehaltliche
Grundgedanke ist beiden Werken gleich: Der Film ist generell das Projekt vieler,
niemals eines einzelnen. Seien es die weiteren Kameraleute, die den "Mann
mit der Kamera" filmen, wenn er selber im Bild zu sehen sein soll, sei
es Yelizaveta Svilova, die die Szenen sortiert und die Idee der Montage praktisch
umsetzt, oder sei es der Vorführer zu Beginn des Films, der im Kino die
Rolle mit dem Titel, Chelovek
S Kinoapparatom,
in den Projektor einlegt. Dass dieses Ideal von der völligen Gemeinschaftsproduktion,
ohne jegliche herausragende Einzelleistung eines Individuums auch schnell mit
kommunistischen Ideen assoziiert werden kann, liegt zwar auf der Hand, ob es
jedoch auch ganz bewusst so intendiert war, bleibt letztlich unklar.
Eindeutig
ist hingegen, dass Dziga Vertovs Chelovek
S Kinoapparatom
das Kunststück vollbringt, einen Film von vollendeter Kreativität
noch vor seiner Geburt zu zeigen, und dann in seinem Entstehen und als fertig
entwickeltes Wesen bis zu seinem "Tod" (eintretend mit dem Ende der
Vorstellung) zu begleiten. Ganz zum Schluss gipfelt der Film in einer großen,
idealistischen Vision: Die Menschen im Kino, die Chelovek
S Kinoapparatom
anschauen, finden sich selbst in den so ungeheuer "echt" abgebildeten
Personen auf der Leinwand wieder. Das "Kameraauge" wird zum ständigen
Begleiter, zum alles überragenden und alleingültigen Medium der Wahrheit.
Was heute von Dziga Vertovs großem, überzeugten Entwurf geblieben
ist, ist neben aller Theorie, allen Ideen und allem Umbruchswillen vor allem
eines: Eine Feier der Möglichkeiten des Mediums, des Schöpfens und
des Kinos selbst.
Janis
El-Bira
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Der
Mann mit der Kamera
(Chelovek
s kinoapparatom, 1929)
Regie:
Dziga Vertov
Premiere:
1929
Drehbuch:
Dziga Vertov
Land:
UdSSR
Länge:
68 min
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