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Der
Mann ohne Vergangenheit
Sollte
sich einer unserer Defätisten, die dem Sozialismus hinterherweinen, diesen
finnischen Sozialhilfeempfängerfilm ansehen, bekäme er einen roten
Kopf. Aki Kaurismäki, Kommunist und Regisseur ("Das
Mädchen aus der Streichholzfabrik"),
entzieht ihm die Zuständigkeit, die Arbeiterklasse zu organisieren. Stattdessen
organisieren sich diejenigen, die Ernst Bloch die Erniedrigten und Entrechteten
genannt hätte, die aber in Finnland von Amts wegen als B-Bürger verwaltet
werden, ihr bißchen Glück selbst. Wobei es sich um den richtigen
Freiraum in der falschen Misere handelt. Das fordert selbstverständlich
die übliche Diskussion heraus. Das geht aber nicht, weil Kaurismäki
durchs Wort nichts vermittelt. Es sehen sich zwei an, sie schweigen, sie wissen,
daß das Glück naht. Unvermittelt. Und auf märchenhafte Weise
weiß das der auch, der sich den Film anguckt. Das entzückt und befremdet
den, der sich, evtl. probeweise, auf ein poetisches Sozialabenteuer einläßt,
das all das Schlaue, das zum Lumpenproletariat geschrieben ist, zur Makulatur
werden läßt, - wenigstens während der 97 Minuten im Kino. Wir
sind auf einem ungefähren Null-Level, den wir auf unbestimmte Weise schon
deswegen wiedererkennen, weil wir Filmbilder mit Vergangenheit sehen, die fünfziger
Jahre möglicherweise. Kein Sex, keine Gewalt, keine Beziehungskrise. Der
Mann ohne Vergangenheit (Markku Peltola) hat keine Erinnerung an die Gegenwart,
und Aki Kaurismäki erinnert mitnichten an den gegenwärtigen Film.
"Der Mann ohne Vergangenheit" ist ein B-Bürgerfilm.
Null.
Ganz unten. Tabula rasa. Nichts wissen, nicht einmal den eigenen Namen. Auf
der Intensivstation aufwachen. Weggehen. Die Verbände abwickeln. Was ist?
Was kommt? Blank. Wir erfahren im Lauf des Films, aber das kommt spät,
daß der Held, und ein Held ist er, aus ferner Provinz in die Metropole
gereist war, hier sein Glück zu versuchen. Noch am Hauptbahnhof war er
von Jungnazis zusammengeschlagen worden. - Ich erzähle das nicht gern,
denn ich sehe Oliver Tolmein vor mir mit Aha-Landflucht und Gewalt-gegen-Minderheiten.
Doch der Film macht das nicht zum Thema. Was wir wahrnehmen, ist, wie der Namenlose
B-Solidarität erfährt, - von Jungs der Containersiedlung, vom Nachtwächter-Paar,
von Mann und Hund der Schrottplatzsicherheit (jawohl, vom Wachhund) und vor
allem natürlich von Kati Outinen, der Heilsarmistin. Liebe, ungesagt, herzlich,
gemütvoll, bedroht und niemals weg. "Der Mann ohne Vergangenheit"
ist der B-Liebesfilm.
Kaurismäki
liebt die Menschen, die er zeigt. Und weil das so ist, gehören die Ungereimtheiten
dazu. Sie sind liebenswert. Deshalb pflanzt unser Null-Level-Held, kaum quartiert
er sich in einem leerstehenden Container ein, Kartoffeln vor der Haustür.
Sein erstes Möbelstück ist eine Juke-Box. The
Renegades, Blind Lemon Jefferson, Masao Onose. Auftritt
die unsägliche Heilsarmeekapelle. Kati und die Essensempfänger starren
trostlos vor sich hin. Noch wissen sie nicht, daß erfolgversprechende
Latenzen lauern. Daß eine Kult-Bluesrock-Combo in der Gruppe (Marko Haavisto
& Poutahaukat) steckt. Ein Manager muß her. Unser Namenloser managt
sie. Die Kartoffeln wachsen, und der B-Held entdeckt, daß er schweißen
kann. Er findet Arbeit. Sofort. So geht es zu im realistischen Sozialmärchen.
Wer es sich ansieht, glaubt es sofort. Weil einer, der Mensch ist, nicht unrealistisch
ist. Es geht glaubwürdig noch einen Schritt weiter. Zur Solidargemeinschaft
des Subproletariats gehört ein gewiefter Rechtsanwalt, der uneigennützig
ist. Ohne sich der Rechtsanwaltsgebührenordung zu bedienen, befreit er
unseren Helden aus der Mühle der Strafjustiz. Das tut gut. Das ist schwer
in Ordnung. Kaurismäki setzt seine B-Ordnung gegen das, was alle anderen
als Verwaltungs- und Gerichts-Normalität ansehen.
"Der
Mann ohne Vergangenheit", der Film vom Rand Europas, der Film über
den Rand der Gesellschaft, der Film außer Rand und Band im Vergleich zu
dem, was auf den Markt kommt, - er bekam dieses Jahr in Cannes den Großen
Preis der Jury, und Kati Outinen wurde als beste Darstellerin ausgezeichnet.
Hollywood wurde wach und versucht, Kaurismäkis Wunderkraft zu instrumentalisieren.
Die Tageszeitung "Die Welt" preist den Film als "Ermutigung zur
Existenzgründung".
Bei
so viel Einvernahme müssen wir tapfer sein und uns den Glauben nicht nehmen
lassen, daß die Würde des/der Kaurismäki-Menschen unangetastet
bleibt. Im B-System. Wo Tragödie und Farce, Mittellosigkeit und Lebensmut
in eins aufgehen. - Wer so was Pathetisches schreibt, müßte sich
schämen. Weil: das tut man nicht. Wohl an, ich tu es doch. Aber nur, weil
es Kaurismäki ist. Und "Der Mann ohne Vergangenheit". Um es nicht
bei der Lobeshymne zu belassen, schiebe ich Gründe nach.
Erstens:
die Musik. Was Kaurismäkis ohnmächtige Menschen bewegt, das ist die
Macht der Musik. Eine Macht, die nicht korrumpiert. Ein Walzer. Annikki Tähti,
die immer noch Große der finnischen U-Musik, tritt solidarisch in der
Heilsarmee-Combo auf. Sie singt ihr Muistatko Monrepos'n: erinnerst Du Dich
an Monrepos? Das war die erste goldene Schallplatte Finnlands gewesen. 1955.
Die Basis, sich auf eigene Kraft zu besinnen.
Zweitens:
1955. Die Bilder. Ein halbes Jahrhundert Filmgeschichte vergessen. Mit der die
B-Bürger nichts zu tun haben. Einfache, klare Szenarien, die nicht überwältigen,
sondern Freiraum lassen. Auch dem, der zuschaut. Das Mainstreamkino und die
Unterhaltungsindustrie hat abgedankt. Die globale Bildversorgung ist in diesem
finnischen Film gekappt. Auf wundersame Weise verblassen Herablassungen wie
Nostalgie, Provinzialismus, Regionalismus, lakonische Grenzästhetik. Nein,
der neue Kaurismäkifilm ist eine einzige Einladung. Ein Programm. Die Bilder
lassen Platz für unterschwellige, auch manifeste Komik. Für autonome
Moral, nicht behauptet, aber gelebt. Wir können nicht anders, als die Menschen,
die in einer fünfzig Jahre alten Ästhetik leben, für gegenwärtig
zu nehmen. Wir zollen ihnen Respekt.
"Wir".
Das ist ein Schutzwort, es will den Leser vereinnahmen. Ich scheue mich sonst
davor. Aber ich kann bei diesem ebenso schlichten wie ergreifenden Film nicht
anders, als mich mit Leuten im Kino einszufühlen. Dreist, wahrscheinlich.
Egal. Sowas kommt davon, wenn man von einem Film berührt wird. Ich versuche
es noch einmal mit der Objektivität. Der Film "Der Mann ohne Vergangenheit"
beschreibt wie kein anderer den ausgegrenzten Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfänger.
Er erspart sich Betroffenenleid. Er entwickelte stattdessen Empathie. Er heißt
uns willkommen im Club, der längst die neue Normalität ist. "Ich
könnte morgens nicht mehr in den Spiegel schauen, wenn ich jetzt keinen
Film über Arbeitslosigkeit machen würde", hatte Kaurismäki
vor einem halben Dutzend Jahren erklärt. Und: "Der Sinn des Lebens
besteht darin, einen persönlichen Moralkodex zu entwickeln, der die Natur
und den Menschen respektiert, und schließlich - ihn zu leben".
- ihn
zu filmen: "Der Mann ohne Vergangenheit".
Dietrich
Kuhlbrodt
Dieser
Text ist erschienen in der Novemberausgabe 2002 der: Konkret
Zu diesem
Film gibt es im archiv der
filmzentrale mehrere Texte
Der
Mann ohne Vergangenheit
(Mies
vailla menneisyyttä, 2002)
Regie:
Aki Kaurismäki
Premiere:
01. März 2002 (Finnland)
Drehbuch:
Aki Kaurismäki
Dt.
Start: 14. November 2002
FSK:
ab 12
Land:
Deutschland, Frankreich
Länge:
97 min
Darsteller:
Markku
Peltola (M), Kati Outinen (Irma), Annikki Tähti (Managerin des Wohlfahrtsladens),
Juhani Niemelä (Nieminen), Kaija Pakarinen (Kaisa), Sakari Kuosmanen (Anttila),
Outi Mäenpää (Bankangestellter), Pertti Sveholm (Polizeiinspektor),
Aino Seppo (M’s Ehefrau)
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