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Der
Mann ohne Vergangenheit
Inhalt:
Nach
einer Arbeitsreise mit dem Zug wird ein Mann auf einer Parkbank in Helsinki
brutal zusammengeschlagen und verliert daraufhin sein Gedächtnis. Er irrt
durch die Stadt, gibt sich zuweilen fast auf, ist ohne seinen Namen zum Niemand
geworden. Immer wieder jedoch begegnet er Menschen, die völlige Barmherzigkeit
ausstrahlen - sogar seine große Liebe findet er; in der Heilsarmistin
Irma.
Kritik:
Eigentlich
hat man ja bereits seinen Tod festgestellt. Der Puls ist "sehr klein"
und dem diensthabenden Arzt kann es mit der Verifizierung des Todes gar nicht
schnell genug gehen, muss er doch noch auf die Entbindungsstation. Ein Anblick
des Elends ist er, dessen brutale Misshandlung wir gerade haben mit ansehen
müssen: Einbandagiert vom Kopf bis zu den Zehen, Schläuche hängen
aus ihm heraus, keines der Geräte hinter ihm zeigt noch irgendein Lebenszeichen
von dem uns quasi Unbekannten. Ja, er ist sicherlich tot; ohne jede Frage. Nur
die Logik des Films und erst recht die Logik des Aki Kaurimäki ermöglichen
es ihm dann doch, sich aufzusetzen, die Schläuche abzureißen, und
seine schief unter dem das Gesicht bedeckenden Verband sitzende Nase "geradezubiegen".
Fortan steht er fast schon wieder im Leben - nur ohne Namen, ohne Heim, ohne
jede Erinnerung. Ein "Niemand" also. Jedoch einer in einer ganz außergewöhnlichen
Welt.
Die
Geschichte, die Aki Kaurismäkis Mies
Vailla Menneisyyttä,
ausgezeichnet mit dem "Großen Preis Der Jury" in Cannes 2002,
erzählt, ist eigentlich von einer solch dreisten Unglaubwürdigkeit,
dass schon das Lesen der Synopsis wie die Inhaltsangabe eines B-Movies anmutet.
Hier steht ein Toter von seinem Bett auf und - und dies ist vielleicht noch
ungleich seltsamer - überlebt, ganz ohne Namen, in einer Welt wie der unsrigen.
Doch hier reißt der Faden, denn es ist gar nicht unsere Welt, die der
Film behandelt. Es ist ein ideeller Gegenentwurf zur erkalteten Gegenwart, geboren
aus dem kindlichen Herzen eines typischen Filmemachers. Kaurismäkis Naivität
ist dabei so herzlich und in gewisser Weise infantil, dass wir ihm irgendwann
alles abnehmen wollen, und uns einlassen auf sein Märchen von der Gnade,
die - so sagt uns der Film selbst - überall ist. Mies
Vailla Menneisyyttä
ist eine reine Träumerei vom seltsamen "Utopia der Gütigkeit",
ganz am Rande von Helsinki. Hier, wo die Menschen so aussehen, wie die Landschaften
und die Häuser, die sie bevölkern und bewohnen, begegnet der namenlose
Held einer Reihe von Persönlichkeiten, die selbst nicht unbedingt zu den
vom Schicksal Auserkorenen und Glücklichen zählen, deren Einfachheit,
Güte und Überzeugung von dem, was sie tun, letztlich jedoch immer
siegt über die, die dem "Mann ohne Vergangenheit" bloß
lakonisch entgegenhalten können, dass man es "mit der Hilflosigkeit
auch übertreiben kann". Kaurismäkis Filmsprache ist in der Form
jener reinen Poesie, welche öfter im Einfachsten als im Komplexen vorzufinden
ist. Ein Leitmotiv, das sich durch den Film zieht, wie die goldherzigen Menschen,
die wie gute Feen in einem Grimm'schen Märchen immer wieder am tristen
Wegesrand des Namenlosen auftauchen.
Mies
Vailla Menneisyyttä
erzählt die glückliche Passion seines Helden praktisch lückenlos
und bedient sich dennoch elliptischer Mittel: Eng gedichtet wirkt Kaurismäkis
Erzählweise, ungemein kompakt und zielstrebig. Kein Wort zuviel wird gewechselt,
keine Handlungssequenz, die überflüssig wäre, findet auch nur
im Ansatz eine Darstellung. Der Regisseur findet hierüber zu einer sehr
geschlossenen Form, einer verdichteten, exakt durchbuchstabierten Gestalt. Seine
visuelle Sprache siedelt sich vordergründig konträr an zur Wärme
seiner Erzählung und seiner Vision der überragenden Menschlichkeit:
Kühle Farbtöne, antidekorative (manche würden vielleicht gar
"hässliche" sagen) Umgebung und starre Kamerapositionen zeichnen
eher eine traurige Radierung, als denn das Freuden- und Hoffnungsgemälde,
das Kaurismäkis Film unter seiner Oberfläche ist. Eine genauere Betrachtung
des optischen Aufbaus lohnt jedoch insofern, als dass schnell auffällt,
dass der Regisseur gerade und ganz bewusst in diesem unscheinbaren und kaum
beachtenswerten Umfeld jene Momente sucht, in denen die einzelnen, für
sich genommen beinahe abstoßenden Elemente, im Zusammenspiel zu lyrisch
leiser Schönheit finden: Etwa dann, wenn der Namenlose mit zweien seiner
Wegbegleiter an der Reparatur einer Music-Box sitzt: Einer von diesen ist jener,
dessen Frau den "Mann ohne Vergangenheit" zuerst von der Straße
geholt hat, und der etwas später gleich einmal versucht hat, dem Helden
eine Schaufel über den Kopf zu ziehen, weil er in einem Film gesehen hat,
dass jemand nach noch einem Schlag plötzlich wieder klar denken konnte.
Der andere ein Multitalent, das für die Leute in dem Vorort jede Form von
(technischer) Arbeit erledigt, und dafür zuweilen nicht mehr verlangt,
als dass man ihn auf den Rücken dreht, sollte man ihn mit dem Gesicht nach
unten in der Gosse finden. Die drei Männer sitzen dort, in jenem Wohncontainer,
in dem noch im letzten Winter jemand erfroren ist, hören Rock'n'roll aus
der uralten Music-Box und löffeln etwas Suppe, während ihnen ein kleiner,
offen stehender Kühlschrank als Tisch dient. Kaurismäki verdichtet
hieraus ein Bild von wunderbarer Stille. Eine Szene, so verträumt und romantisch,
als säßen die drei am Lagerfeuer, und gleichzeitig so radikal, sitzen
sie doch schließlich am scheinbar hintersten Ende der Welt und dies fraglos
in erbärmlicher Armut. Dort, wo jemand um eine halbe Kartoffel betteln
muss, da der Skorbut anfängt, ihm die Zähne zu nehmen.
Dennoch
geht Kaurismäki nie in eine Richtung, in der der Zuschauer diesen Charakteren
Mitleid entgegenbringen soll; in der der Filmemacher Gefahr laufen könnte,
seine Figuren zu erniedrigen. Kaurismäki achtet hingegen stets darauf,
dass ihnen jene Würde erhalten bleibt, die ihnen, als den "Rettern
der Welt", ganz offenkundig zusteht. Am deutlichsten wird diese Würdigung
der Figuren und Kaurismäkis Liebe zu ihrer Verträumtheit in der Figur
der Heilsarmistin Irma: Eine Frau mittleren Alters, strenggläubig, prinzipientreu,
etwas unsicher im Ausdruck. Die von Kati Outinen brillant gespielte Figur könnte
schnell zum Gespött für den Zuschauer werden, bringt sie doch unverholen
und wie selbstverständlich Sätze wie "Dort sitzt ein sehr unglücklicher
Mann. Ich denke, wir sollten ihm helfen" und "Gnade ist überall!"
über ihre wie zugepresst wirkenden Lippen. Aki Kaurismäki aber macht
sie zu einer engelsgleichen Gestalt, vor der der Zuschauer Achtung und Respekt
zu empfinden lernt, wenn er etwa lacht, weil er sich über soviel "Menschsein"
freut, nicht aber, weil er sich über sie lustig machen will. Der Namenlose
(ebenfalls großartig und mit viel Gefühl verkörpert von Markku
Peltola) verliebt sich in Irma. Eine Beziehung beginnt, die der Regisseur mit
so viel Zärtlichkeit, Scham und Anstand inszeniert, dass sie uns fast schon
unterkühlt vorkommt, so unbekannt sind uns derartige Lieben auf der Leinwand
geworden. Wenn der Namenlose und Irma dann wie dort abgestellt auf der kleinen,
roten Couch im Wohncontainer sitzen, Musik hören und es zu der vielleicht
schönsten und gefühlvollsten Kussszene der jüngeren Zeit im Kino
kommt, wirken Irmas Augen wie Spiegel der Sehnsucht - nicht nach Lust, sondern
nach Liebe, Geborgenheit und Wärme inmitten von Finnlands kalten Nächten,
in denen sie nachts sonst immer träumerisch und in leiser Melancholie ihr
Radio anstarrte, über das sie wie heimlich und möglichst unbemerkt
moderne Musik hörte.
Und
gerade auch über die Musik findet Aki Kaurismäki immer wieder Wege,
seine Ideale metaphorisch zu übermitteln. So spielt die Band der Heilsarmee
(deren "Repertoire mal erweitert werden könnte", wie der Namenlose
ihnen gegenüber etwas lakonisch aber mit Blick auf die Zukunft anmerkt)
Lieder, in denen häufig von der Sehnsucht nach einem fernen, fantastischen
Land erzählt wird, von der Reise dorthin oder schon von Erinnerungen daran.
Für Kaurismäki liegt dieses Land praktisch schon ganz nahe: Es ist
das Land der barackenartigen Wohncontainer, der Kälte, der menschlichen
"Trockenheit", der hässlichen Städtearchitektur, der Engel,
der Feen, der Märchen, der Auferstandenen, der Gnade und Barmherzigkeit.
Das Land des Filmemachers Aki Kaurismäki.
Janis
El-Bira
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Zu diesem
Film gibt es im archiv der
filmzentrale mehrere Texte
Der
Mann ohne Vergangenheit
(Mies
vailla menneisyyttä, 2002)
Regie:
Aki Kaurismäki
Premiere:
01. März 2002 (Finnland)
Drehbuch:
Aki Kaurismäki
Dt.
Start: 14. November 2002
FSK:
ab 12
Land:
Deutschland, Frankreich
Länge:
97 min
Darsteller:
Markku
Peltola (M), Kati Outinen (Irma), Annikki Tähti (Managerin des Wohlfahrtsladens),
Juhani Niemelä (Nieminen), Kaija Pakarinen (Kaisa), Sakari Kuosmanen (Anttila),
Outi Mäenpää (Bankangestellter), Pertti Sveholm (Polizeiinspektor),
Aino Seppo (M’s Ehefrau)
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