The Man Who Wasn´t There
Seltsam: "Depression" hieß die Ära vor ein paar Jahren. Und,
O BROTHER, alles war voll Sonne und Licht und überall diese
herrliche Musik in der Luft. Und jetzt ist 1949. Und der Krieg
ist vorbei, Du gehörst zu den Siegern, alles blickt vorwärts,
alles strebt aufwärts. Jetzt müsste es doch erst recht schön
sein. Du hast einen sicheren Job, Friseur, Du hast ein Haus
und ein Auto und eine Frau. "You might say I've got it
made," gibst Du selbst zu. Da können doch nicht überall
diese Schatten des Zweifels, die SHADOWS OF A DOUBT, an Deinem
beschaulichen Heimatort Santa Rosa nagen. Da kann es doch
nicht auf einmal überall so düster sein, so schwarz, so noir.
Da kann doch nicht dieses seltsame Loch sein in Deinem Leben,
dieses Unausgefüllte, von dem Du selbst nicht weißt, warum es
da ist. Und erst recht nicht, womit Du es stopfen könntest.
Mit Geld vielleicht? Wie kommt einer wie Du, wie Ed Crane,
auf die Idee, dass plötzlich alles besser wird (besser? wie
denn?), wenn man einsteigt in diese absurde Geschäftsidee vom
dry cleaning, von der chemischen Trockenreinigung? Und was
soll das bringen, wenn Du für das nötige Startkapital zum
Erpresser wirst? Selbst wenn es nur den Boss Deiner Frau
trifft, mit dem sie Dich betrügt.
Klar, Du warst nicht im Krieg, wegen Deiner Plattfüße. Das
mit der Gewalt und dem Tod scheint alles so weit weg, hier in
Santa Rosa. Da sind tote, von den Japsen aufgefressene
Kameraden längst zum Dinner-Scherz geworden, und alles, was
man hier von der Kriegsmaschinerie noch zu sehen bekommt ist
so ein lächerliches, kleines Messerchen, mit dem man die
Zigarren anschneidet.
Zugegeben: Wie sollst Du ahnen, dass das reicht? Um Gewalt
und Tod und Schuld und Sühne reinzuholen in Dein sauberes
Santa Rosa. Und um Dir richtige Löcher ins Leben zu reißen.
Die Du nicht mal stopfen könntest, wenn Du wüßtest, womit.
Sie lassen die Coen-Brüder nicht loß, die Jahre um und
während des zweiten Weltkriegs. Immer wieder kehren sie zurück
in die 30er und 40er Jahre - MILLER'S CROSSING, BARTON FINK,
THE HUDSUCKER PROXY. (Selbst THE BIG LEBOWSKI läßt sich lesen
als eine um 40 Jahre verschobene Auseinandersetzung mit den
bestimmenden Genres jener Ära.) Nun also geht es ganz ans Ende
der 40er, in die Zeit des Nachbebens: Äußerlich herrschen
Wohlstand und Zuversicht, man ist wieder wer, hat wieder was.
Aber die Männer bringen aus dem Krieg Wunden mit, streicheln
ihre Frauen mit Händen, die getötet haben - Frauen, die
während der Kriegsjahre selbstbewusst und selbständig zu sein
hatten und das jetzt wieder verlernen sollen, Frauen, denen
man es schwer verübeln kann, wenn sie es während des langen
Wartens mit der Treue so wenig genau genommen haben wie ihre
Gatten in Übersee. Eine Zeit der Neuordnung, der inneren
Verunsicherung. Eine Zeit der spätestens durch Hiroshima
verlorenen Unschuld, in die schon kriechend die ersten
Vorausläufer der Paranoia eines neuen, eines Kalten Krieges
einziehen.
Ins Territorium von James M. Cain, des legendären Autors von
"The Postman Always Rings Twice" und "Double Indemnity", haben
sich die Coens nach eigenen Aussagen mit THE MAN WHO WASN'T
THERE begeben, aber das ist nur ein Ankerpunkt unter vielen
bei diesem Film. Mindestens ebenso viel Hitchcock ließe sich
finden wie Cain - nicht in der Erzählweise, keineswegs im
Stil, sondern darin, wie Schuld hier herumgereicht wird wie
ein Päckchen: Kaum einer ist unschuldig in dieser Welt, aber
niemanden erwischt es direkt für das, was er oder sie wirklich
Schuldhaftes getan hat. Jeder büßt für die Sünden eines
anderen.
Aber die Zitate, die filmhistorischen Anleihen und
Parallellen zu entdecken, das ist bei den Coens ohnehin meist
nur eine Bonus-Gratifikation für cineastisch Fortgeschrittene.
Gern auch mal eine keineswegs unerhebliche, doch bei diesem
Film eine recht nebensächliche. Von Ironie wird gern
gesprochen im Zusammenhang mit den Werken der Coen-Brüder.
Aber damit ist kaum etwas gesagt; mit so einem unscharfen und
oft missbrauchten Wort ist noch nichts Wesentliches erfasst.
Die "Ironie" bei den Coens ist eine sehr komplexe
Angelegenheit. Nie ist sie ein einfaches "Das eine sagen und
das andere meinen", nie ein simples Sich-Lächerlich-Machen
über das, was man präsentiert. Sie äußert sich in einer wissenden Distanz, in einer Virtuosität
des Spiels mit dem Material: Nichts entgleitet den
schöpfenden, formenden, arrangierenden, schaffenden Händen der
Coens - und nicht sollen diese Hände unsicht- und vergessbar
werden für das Publikum. Manipuliert werden nicht die
Zuschauer, sondern der Stoff. Die Manipulation ist Teil der
Schau; unsere Freude an Coen-Filmen besteht darin, Mitwisser,
Mittäter zu sein, die sich freiwillig einlassen auf ein Spiel.
In THE MAN WHO WASN'T THERE aber ist sie ohnehin nur noch
hauchdünn, diese "Ironie". Sie sind da, die dutzendweisen
Zitate und Verweise, sie sind da, die falschen Fährten der
Signifikanz, sie sind da, das bizarre Hereinbrechen des
Inkongruenten, das Ausbrechen aus dem Erwarteten. Aber nie
waren, bei all dem, die Coens näher dran, einen doch
eintauchen zu lassen in die Welt eines ihrer Filme, einen ganz
in den Bann eines bestimmenden Gefühls zu schlagen. Nie,
scheint mir, war so ein großer Ernst im Spiel wie in dieser
grandiosen Elegie.
THE MAN WHO WASN'T THERE ist kein Film, der einfach nur in
den 40er Jahren spielt, es ist auch kein Film über die 40er
Jahre. Es ist die leicht verrückte Vision eines 40er
Jahre-Films selbst - ein film noir, wie es ihn hätte geben
können, wären damals nur etwas bewusstseinsverändernde
Substanzen ins Trinkwasser von Hollywood gekommen.
Jedes Ausstattungsdetail ist perfekt, jedes Kostüm, jede
Frisur sieht aus eben nicht nach die 40er vorstellendem
production design des 21. Jahrhunderts, sondern "wie im
Original". Dass der Jargon, dass die Nuancen der Sprache(n)
(Amerikanisch ist hier eine von Figur zu Figur verschiedene
Angelegenheit) stets auf den Punkt sitzen, ist bei den Coens
ohnehin eine Selbstverständlichkeit (und macht die
Originalfassung unverzichtbar).
Und dann dieses Schwarz-Weiß! Was Kameramann Roger Deakins
hier an überirdisch schönen Kompositionen schafft mit
farblosem Licht und Schatten... - eine schon verlorene Kunst,
hätte man meinen können. Gedicht-Bände möchte man fast
schreiben über jede einzelne Einstellung, darüber, wie das
Weiß strahlt im klinisch sauberen Barber-Shop, wie die
weggebürsteten Härchen tanzen in der Sonne, wie die
abrasierten im Wasser versinken, wie der Rauch der allüberall
präsenten Zigaretten durch die Bilder zieht, wie finster das
Schwarz sich frisst in Eds Welt, wie die scharfen Streifen von
Helligkeit und Düsternis sich schneiden in Freddy
Riedenschneiders Erklärung von Fritz (oder Werner?)
Heisenbergs Unschärferelation.
Und doch hätte das alles allein nichts gefruchtet, gäbe es
nicht Billy Bob Thornton. Es ist langsam an der Zeit, sich
ernsthaft zu fragen, ob nicht er der beste lebende
amerikanische Schauspieler ist. Man kann nur hoffen, dass die
Allgemeinheit das nicht allzu schnell erkennt, er nicht
allzubald zum Markenartikel wird. Denn noch gehört es zu den
größten Freuden, in jedem seiner Filme mindestens fünf Minuten
zu brauchen, bis man sich sicher sein kann, wirklich ihn
hinter einer Rolle erkannt zu haben. In THE MAN WHO WASN'T
THERE hat er wenig Möglichkeit, dem schweigsamen Ed Crane
durch Dialoge Gestalt zu verleihen - aber er braucht sie auch
nicht. Als hätte man Humphrey Bogart, Montgomery Clift, Clark
Gable, James Stewart gemeinsam durch die Mangel gedreht sieht
er aus; von Statur und Antlitz so perfekt dem Typ jener
vergangenen Zeit entsprechend (nur etwas ramponierter), dass
man allein durch seinen Anblick nicht selten Zweifel bekommt,
ob der Film wirklich heute gedreht sein kann.
Und Eds stoische Sehnsucht spricht so intensiv, so
herzzerreißend aus jeder spärlichen Geste, aus jedem leeren
Blick, aus jedem nicht gesagten Satz; in der lakonischen
voice-over-Erzählung läßt Thornton solch große Resignation
mitschwingen, dass der Film keine einzige Eruption braucht, um
die ganze still getragene Verzweiflung dieses Mannes
beklemmend präsent zu machen.
"What makes a man?" war die zentrale Frage von THE BIG
LEBOWSKI - "What kind of man are you?" muss sich Ed Crane nun
wieder und wieder fragen lassen. Ein Mann zu sein, das ist in
dem Universum der Coens nie eine einfache Sache. Immer wieder
geht es bei ihnen um die Männerbilder, die eine Gesellschaft,
die ein Genre bereithält und um konkrete Männer, die am
Versuch scheitern, diese Rollen zu erfüllen. Man sollte
meinen, 1949 wäre das alles noch einfacher: Die möglichen
Haarschnitte für Buben kann man so ziemlich an einer Hand
abzählen; man(n) weiß noch genau, was akzeptabel und wann
einer "way outta line" ist; Western-Hefte und
Detektiv-Magazine liefern die Vorbilder für wahre tough guys.
Aber nie ist etwas einfach bei den Coens. Ed Crane ist einer
ihrer typischen "Helden": Ein Mann, der unversehens in eine
Sache hineinstolpert, die weit größer ist als er überschauen
kann. Einer, der sich eher passiv den Kräften ergibt, die mit
ihm spielen. (Der eine "wahre", aktive, von sich überzeugte
Held im Coen-Oeuvre, George Clooneys
Fugitive-from-a-chaingang-Odysseus in O BROTHER, WHERE ART
THOU?, ist ein Vollidiot.) Einer, der seine Männlichkeit, sein
Mann-Sein immer wieder anzweifeln lassen muss.
Immerhin: Dieser Film hat eine Antwort parat auf die Frage
"What kind of man are you?". Freddy Riedenschneider gibt sie
uns. (Der beste Anwalt, den Du kriegen kannst, wenn Geld keine
Rolle spielt: Riedenschneider. Freddy Riedenschneider.) Aber
diese Antwort macht nichts einfacher: "He is modern man,"
lautet sie. Ed Crane ist der moderne Mensch an sich. (Und
Freddy Riedenschneider zeigt, während er das behauptet, genau
auf UNS.)
Damit sind wir nur tiefer im Dilemma. Davon geht sie nicht
weg, diese Sehnsucht nach dem einen Großen, Wahren, Schönen in
einem Leben, dem nach außen hin nichts und innen alles fehlt.
"It's pretty," sagt Ed, als er ihm zum ersten Mal als
Möglichkeit begegnet: Beethoven, langsamer Satz op. 13, die
"Pathétique". Ed weiß nicht, dass das, was ihn da - erst noch
so leicht - berührt, rund 150 Jahre auf dem Buckel hat. Dass
da jemand vor anderthalb Jahrhunderten im fernen Europa schon
all die unbestimmten Gefühle, das namenlose Sehnen, das in Ed
nur halberkannt rumort, in kunstvolle Form gebracht hat. Erst
recht ahnt Ed nicht, dass das, was für ihn die letzte Hoffnung
wird auf Größe in seinem Leben, darauf, wenn schon nicht
selbst die Erfüllung zu finden, dann wenigstens
Erfüllungsgehilfe des Schönen zu werden - dass das draußen in
der großen Welt gerade mal als braves, nettes Mittelmaß zählt,
als leeres Geklimper. (Es sind dies zwar ganz unspektakuläre,
aber doch die grausamsten Szenen in diesem Film: Eds Klammern
an diese letzte Hoffnung, blind und rücksichtslos gegenüber
dem Mädchen, ohne das sie sich nicht realisieren läßt; jene
Mitteilung ihrer Vergeblichkeit.)
Und vom Wissen, "modern man" zu sein, kommt erst recht keine
Übersicht in Eds Leben. Der Mensch der Moderne muss leben mit der Unschärferelation
dieses Typen Fritz (oder Werner?). (Erst Beethoven, dann
Heisenberg: Ed wird diese verdammten Deutschen einfach nicht
los. Wer, bitte, hat denn hier den Krieg gewonnen?) Auch das
erklärt uns Freddy Riedenschneider: Je genauer man hinguckt,
um so mehr verschwinden die Dinge, die man anschaut.
Ed guckt ziemlich genau auf sein Leben, jetzt, in der
Rückschau, und wie er von A nach B und von B nach C gekommen
ist, das kann er sehen, das kann er erklären. Aber
seltsamerweise scheint kein Weg zu führen von A nach C - was
Ed immer mehr abhanden kommt, je genauer er hinschaut, ist
eine Gesamtform, die sein Leben ergeben könnte. "The shape of
your life" - von hier unten, auf der Erde, mittendrin, da wird
sowas einfach nicht erkennbar. Raus muss man, ganz weit weg,
ins Weltall oder so. Dann, vielleicht, kann man sie sehen.
Aber nicht mal die Flucht ist leicht aus dieser Welt - wo
selbst im Jenseits grinsende Vertreter lauern und Dir
erklären, dass Deine Garagenauffahrt einen neuartigen Belag,
macadam, braucht. Und Du selbst im Jenseits im selben Haus auf
der selben Couch hockst, mit Deiner Frau, und Ihr raucht und
Euch nichts zu sagen habt.
Und selbst wenn Du raus könntest hier. Fort, ganz weit fort.
Wer sagt Dir denn, dass nur, weil die Dinge verschwinden, wenn
man sie zu genau, zu nah betrachtet, dass nur deshalb die
Sachen dann klarer und dauerhafter werden, wenn Du aus der
Ferne schaust? Wer sagt Dir denn, dass dann Dein Leben eine
Gestalt annimmt? Und es nicht genauso weg ist.
Und Du mit ihm.
Und keine Spur mehr bleibt.
Von Dir: The Man who wasn't there.
Thomas Willmann
Diese Kritik ist zuerst erschienen bei:
artechock : FILM- UND KUNSTMAGAZIN
Zu diesem Film gibt es im filmzentrale-Archiv mehrere Kritiken.
The Man Who Wasn´t There
USA 2001 - 116 Minuten
Regie: Joel Coen
Kamera: Roger Deakins
Drehbuch: Joel Coen, Ethan Coen
Besetzung: Billy Bob Thornton, Frances McDormand, James
Gandolfini, Michael Badalucco u.a.