zur startseite
zum archiv
Marnie
Macht und Ohnmacht
Die Liste der blonden Frauen, teilweise femmes fatales, aber nicht
immer, bei Alfred Hitchcock ist lang. Um nur einige zu nennen: Carole
Lombard, Ingrid Bergman, Marlene Dietrich, Anne Baxter, Grace Kelly,
Doris Day, Vera Miles, Eva Marie Saint, Tippi Hedren. Für „Marnie“ wollte
Hitchcock wiederum Grace Kelly verpflichten, doch die winkte nach
anfänglicher Sympathie für den Stoff ab, weil es im Fürstentum Probleme
gäbe. Hitchcock war sauer – und verpflichtete Tippi Hedren, die auch in
„Die Vögel“ 1962 die weibliche Hauptrolle gespielt hatte.
Marnie (Tippi Hedren) – das ist wieder einmal eine jener Frauen, die ein
Geheimnis umweht, ein finsteres Geheimnis, das es zu enthüllen gilt.
Marnie, die Maskenträgerin, geht in der Anfangsszene des Films den
Bahnsteig entlang. Zunächst sieht man nur ihre Handtasche, dann sie
selbst, aber nur von hinten, ihre schwarzen Haare, ihren Koffer.
Hitchcock zeigt sie in einem Zimmer, wiederum nur von hinten. Sie packt
ihre Sachen, die sie gerade noch trug, in einen Koffer, verstaut diesen
in einem Schließfach im Bahnhof und wirft den Schlüssel weg. Sie übergibt
ihren letzten Diebstahl dem Vergessen. Er ist nicht mehr wichtig für sie,
Vergangenheit, abgeschlossene erfolgreiche Rache. Marnie ist eine
notorische, eine krankhafte Diebin. Sie bestiehlt Männer, weil sie
glaubt, mit dem Raub von Geld Männer an ihrer empfindlichsten Stelle zu
treffen. Marnie mag keine Männer. Kein Mann darf sie berühren, es sei
denn, dass eine Berührung notwendig ist, um an ihr Ziel zu kommen: Geld.
Marnie kastriert auf diese Weise Männer.
Marnie ist blond, schön und eiskalt, skrupellos und unentwegt auf der
Straße der Rache. Diese Rache vollzieht sich nicht mit lautem Getöse, mit
Blut, Schweiß und Tränen oder mit der Waffe. Marnies Rache geschieht
ruhig, überlegt, gerissen.
Den Steuerberater Strutt (Martin Gabel) hat sie gerade um einige Tausend
Dollar erleichtert. Der Firmeninhaber Mark Rutland (Sean Connery) soll
ihr nächstes Opfer sein. Marnie hat sich eine verlogene Biografie zurecht
gelegt und wird von Rutland – trotz nicht allzu üppiger Referenzen –
eingestellt. Warum? An dieser Stelle des Films führt Hitchcock eine Figur
in das Geschehen ein, die selbst neurotisch ist. Rutland, dem Marnie
schon bei Strutt, seinem Steuerberater, aufgefallen war, weil sie schöne
Beine hat, gibt ihr zum Unverständnis seines Untergebenen Ward (S. John
Launer) eine Vertrauensstellung, weil er mit dieser Frau schlafen will.
Als Ward Marnie beim Bewerbungsgespräch befragt, steht Rutland etwas
abseits, sagt kein Wort und hat bereits beschlossen – seine Blicke sagen
alles –, dass er sich dieser Frau bemächtigen will.
Rutland bemerkt sehr rasch, dass Marnie – trotz schwarzer Perücke
erkennt er das blonde Gift wieder – diejenige war, die Strutt bestohlen
hatte. Das reizt ihn besonders. „Ein Mann will mit einer Diebin schlafen,
weil sie eine Diebin ist, wie andere mit einer Chinesin oder einer
Schwarzen schlafen wollen“, kommentierte Hitchcock diese
Ausgangskonstellation des Films [1]. So treffen eine kleptomanische Frau
und ein von fetischistischer Liebe getriebener Mann aufeinander und
begeben sich in eine doppelte Abhängigkeit. Während Marnie nur die Wahl
bleibt, entweder von Rutland der Polizei ausgeliefert zu werden oder ihn
zu heiraten – vor diese Wahl stellt sie Rutland –, schwankt Rutland
zwischen Fetischismus und dem von Zuneigung geprägten Gefühl, die Ursache
für Marnies Verhalten aufdecken zu wollen. Bis zum Schluss bleibt
ungewiss, aus welchen Gründen er dies wirklich tut bzw. welche Gründe
überwiegen.
Zumal es eine andere Frau in seinem Leben gibt, die er permanent
zurückweist: Lil (Diane Baker), die Schwester seiner verstorbenen Frau,
die ihn liebt, die sich regelrecht bei ihm eingenistet hat, eine fast
zierliche Schönheit mit dunklen Haaren und dunklen Augen, fast eine
Audrey Hepburn No. 2. Sie will ihn, als Rutland mit Marnie zur
Hochzeitsreise aufbricht, demonstrativ auf den Mund küssen; er wehrt den
Kuss gerade noch einmal ab. Lil wäre für Rutland ohne Anstrengung zu
haben, aber er stößt sie zurück wie einen Hund. Auch bei Lil kann man
sich nicht sicher sein, ob sie eine unschuldige, reine Schönheit ist. Die
gibt es bei Hitchcock sowieso nur äußerst selten. Lil ist jedenfalls ein
Biest; sie bringt Strutt auf die Spur Marnies, als sie ihn und seine Frau
zu einem Fest einlädt und Strutt Marnie wiedererkennt. Man könnte auch
meinen, Lil liebe diesen Zyniker von Rutland nur, weil der sich ihrer
Liebe verweigert. Der Reiz, abgelehnt zu werden, und daher sich noch
intensiver auf diesen Mann zu konzentrieren, scheint Lil zu treiben.
Rutland setzt alles daran herauszubekommen, welches Ereignis in Marnies
Kindheit für ihr Verhalten verantwortlich sein mag. Marnie hat Angst vor
Gewitter, gerät in Panik, wenn sie Gegenstände oder Personen in knalligem
Rot sieht. Rutland beauftragt einen Privatdetektiv, bekommt heraus, dass
Marnies Mutter nicht tot ist, lässt sich Kopien von Gerichtsakten
besorgen und zwingt Marnie nicht nur zur Heirat, sondern später auch
dazu, mit ihm zu ihrer Mutter zu fahren, um der zu entlocken, was Rutland
längst ahnt. Doch Bernice Edgar (Louise Latham) soll ihrer Tochter Auge
in Auge gestehen, was vor Jahren passiert ist.
Man könnte fast schlussfolgern, dass nicht so sehr die junge neurotische
Frau im Zentrum des Films steht, sondern Rutland. Er zwingt Marnie auf
der Hochzeitsreise zum Sex, woraufhin sie versucht sich umzubringen.
Andererseits unternimmt er alles, um seiner Frau zu helfen, sie selbst
auf die Reise der Entdeckung des Verdrängten zu führen – mal mit Gewalt,
quälendem Zwang und zynischer Überlegenheitsattitüde, mal mit fast schon
liebevoller Zuwendung.
„Marnie“ endet mit der Aufdeckung des Ereignisses, das zu Marnies
Ängsten, ihrer totalen Ablehnung von Männern und ihrer kriminellen Energie geführt hat. Aber dieses Ende
ist nicht die pathetische Feier einer erfolgreichen Psychoanalyse, die
zur Gesundung des Patienten führt, auch kein romantisches Happyend, keine
Garantie für eine gelungene Beziehung nach Überwindung von
Stolpersteinen. Das Ende des Films ist der Anfang des Zweifels: Wie mag
das mit Marnie weitergehen, wie mit ihr und Rutland? Wie wird sich ihre
Beziehung zur Mutter weiter gestalten, deren Liebe Marnie zeitlebens
gefehlt hat? Es läuft einem eher kalt den Rücken herunter, als dass man
sich in wohliger Wärme zurücklehnen wollte.
Wer wirklich Macht über sich selbst besitzt, muss keine Macht über
andere ausüben; er kann anderen mit wirklicher Zuneigung oder Sympathie
oder auch mit Antipathie begegnen, ohne allerdings in blinden Hass zu
verfallen. Hitchcocks Figuren haben fast nie Macht über sich selbst,
schon gar nicht, wenn sie als Paar auftreten. Sie bemächtigen sich mit
ihren psychological lacks, ihren Depressionen, Mängeln, Neurosen oder
sonstigen Defekten, ihrem Verdrängten anderer. Sie projizieren ihre
eigene Machtlosigkeit über sich selbst mit der Machtergreifung derer, die
Schwächen zeigen. Marnie ist ein optimales Opfer für Rutland. Wenn da
nicht irgendwo noch ein leises Gespür von dem wäre, was Zuneigung
wirklich ausmacht, würde die Geschichte um Marnie mit einem Desaster
enden. Dass dem nicht so ist, verdankt man Hitchcock, dem „Regisseur des
Paares“ (Jean-Luc Godard), der dieses Paar gnadenlos seziert, der mit der
Kamera Robert Burks skrupellos draufhält.
„Marnie“ enthält phantastische Szenen. Beispiel: Die Kamera zeigt die
Büroräume Rutlands, links einen Gang, in dem eine Putzfrau nach
Feierabend ihre Arbeit verrichtet, rechts den Raum Wards, in dem Marnie
gerade den Tresor ausräumt. Die Kamera beobachtet beide Frauen bei der
Arbeit. Marnie weiß von der anderen, die andere natürlich nicht von ihr.
Marnie zieht ihre Schuhe aus, um über die Hintertreppe zu verschwinden.
Ein Schuh fällt ihr aus der Manteltasche. Marnie hat Glück; die Putzfrau
ist schwerhörig.
Eine andere Szene: Rutland hat Marnie (sie hat gerade ihre Arbeit in der
Firma angetreten) am Samstag zu sich bestellt; sie soll einen Text für
ihn abschreiben. Ein Gewitter unterbricht das Gespräch der beiden. Marnie
bekommt Angst. Schließlich stürzt noch ein Ast durch die Scheibe. Rutland
nimmt Marnie in den Arm, langsam nähert sich sein Mund ihrem Gesicht.
Einer der schönsten, aber auch furchtbarsten Küsse der Filmgeschichte.
Hervorzuheben ist noch die Figur der Bernice Edgar, von Louise Latham
exzellent gespielt, während die Nebenrollen des Films, Rutlands Vater,
Strutt und andere eher etwas vernachlässigt wurden.
Vielleicht war Hitchcock nicht so sehr der Regisseur der Psychoanalyse,
sondern der der Grenzen dieser Wissenschaft.
P.S. Die DVD aus der Reihe „Die Hitchcock Collection“ ist derzeit
(26.5.2003) für 9,99 € im Handel erhältlich. Sie enthält als
Zusatzmaterial ein ausgezeichnetes „Making of“ mit Interviews u.a. mit
der Tochter Hitchcocks und Beteiligten am Film.
Wertung: 10 von 10 Punkten.
[1] Zit. n. François Truffaut in Zusammenarbeit mit Helen G. Scott:
Truffaut / Hitchcock, München 1999, S. 258.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen unter dem Namen POSDOLE bei: ciao.de
Marnie
(Marnie)
USA 1964, 130 Minuten
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: Jay Presson Allen, nach dem Roman von Winston Graham
Musik: Bernard Herrmann
Director of Photography: Robert Burks
Schnitt: George Tomasini
Produktionsdesign: Robert F. Boyle, George Milo
Hauptdarsteller: Tippi Hedren (Marnie Edgar), Sean Connery (Mark
Rutland), Diane Baker (Lil Mainwaring), Martin Gabel (Sidney Strutt),
Louise Latham (Bernice Edgar), Bob Sweeney (Cousin Bob), Mariette Hartley
(Susan Clabon), Alan Napier (Mr. Rutland), S. John Launer (Sam Ward),
Edith Evanson (Rita), Meg Wyllie (Mrs. Turpin)
zur startseite
zum archiv