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Martha
Quälen
und Leiden
„Die
meisten Männer können nur
nicht
so perfekt unterdrücken,
wie
die Frauen es gerne hätten.”
(Rainer
Werner Fassbinder)
Martha
ist zum Weinen. Martha erweckt Mitleid. Martha macht einen wütend. Martha
ist perfekt – perfekt im Leiden, im Ertragen, im Hinnehmen. Martha ist das Sinnbild
des Masochismus, der genial-wahnsinnigen Selbsttäuschung. Martha ist das
Symbol für einen Menschen, der in seiner Welt alles erträgt und zugleich
aggressiv auf alles reagiert, was von außen die eigene Welt in Frage stellt.
In
der Blütezeit der Emanzipationsbewegung dreht Fassbinder einen Film, der
seiner zutiefst skeptischen Haltung zur Liebe mehr als jeder andere seiner Filme
Ausdruck verleiht. Dass er die Hauptrollen zu diesem Melodrama ausgerechnet
mit Margit Carstensen und Karlheinz Böhm besetzt, ist kaum Zufall. Michael
Ballhaus meint in einem Interview auf der soeben erschienenen DVD, dass diese
Besetzung mit einer emanzipierten Schauspielerin und einem Mimen wie Böhm,
der durch „Sissi” bekannt geworden war, neben anderem auf absurde Weise die
Schärfe dessen dokumentiert, mit der Fassbinder die Tragödie in ihrer
Reinheit und in ihrem Minimalismus inszenieren wollte und inszenierte.
Der
Tod des autoritären, dominanten Vaters (Adrian Hoven) auf der „Spanischen
Treppe” in Rom ist für die 31-jährige Martha, die noch nie mit einem
Mann geschlafen hat, keine Tragödie, kein Verlust, kein Schmerz. Die Tatsache,
dass ihr bei dem Ereignis die Handtasche gestohlen wird, regt Martha mehr auf.
Martha hat das Leidenkönnen und Leidenwollen von ihren Eltern in Reinkultur
beigebracht bekommen – ohne dass ihr dies bewusst ist. Während sie der
Vater nicht nur streng, sondern abhängig erzogen hat, lernte sie von der
Mutter (Gisela Fackeldey) die Hysterie. Vor der deutschen Botschaft in Rom,
bei der Martha die Überführung des Leichnams des Vaters regelt, trifft
sie zum ersten Mal auf Helmut Salomon (Karlheinz Böhm), einen Ingenieur.
Unvergessen diese Szene, in der Michael Ballhaus eine 360°-Fahrt mit der
Kamera um die sich um sich selbst drehenden beiden Hauptdarsteller absolviert.
Das Gefühl, das Martha und Helmut hierbei haben, scheint Liebe auf den
ersten Blick zu sein. Doch man wird gewahr, dass sich Sadismus und Masochismus
als zwei Seiten einer Medaille hier das erste Mal in den Bann gezogen fühlten.
Martha
heiratet Helmut, den sadistischen Ersatz für ihren Vater. Und Helmut beginnt,
immer mit einem Lächeln, Martha sich mehr und mehr voll und ganz zu unterwerfen.
Martha beginnt, sich voll und ganz zu unterwerfen. Beide ergänzen sich
in ihrem Willen zu quälen und zu leiden. Helmut kauft eine Villa und sperrt
Martha ein. Er meldet das Telefon ab, er wünscht sich von Martha, dass
sie das Haus nicht mehr verlässt, während er tagelang beruflich unterwegs
ist, er will, dass sie ein Buch über Brückenbau liest, er will, dass
sie seine Musik hört und ihre nicht mehr, er kündigt ihre Stellung
als Bibliothekarin. Martha erträgt es – und je mehr man sieht, umso unerträglicher
wird, was man sieht.
Zu
den schrecklichsten Szenen des Films gehört etwa jene, als Martha während
der Hochzeitsreise sich einen Sonnenbrand holt, sie nackt auf dem Bett im Hotelzimmer
liegt und Helmut zuerst mit den Fingernägeln über ihren Bauch fährt
und sich dann auf sie stürzt. Ballhaus fährt mit der Kamera weg von
den beiden und zeigt das Meer im hellen Licht der Sonne. Man hört Marthas
Schreie. In einer anderen Szene hält Helmut die schwarze Katze, die sich
Martha besorgt hat, am Nacken hoch. Der ganze Hass steht ihm im Gesicht, weil
Martha sich dieses Tier ins Haus geholt hat. Er lächelt in seinem Hass,
und wenig später platziert er die tote Katze im Eingangsbereich der Villa.
Dieser
Masochismus vergegenständlicht sich als eine Mentalität, in der jemand
die eigenen Qualen nicht nur erträgt, sondern ertragen will. Dies manifestiert
sich darin, dass Martha aus der Qual eine Art Tugend macht: Sie gehorcht ihrem
Peiniger und illusioniert die Qual zur Notwendigkeit, zur „Freude”, zur Bereitschaft,
alles für ihre Ehe zu tun.
Ballhaus
drehte fast ausschließlich mit einer 16-mm-Kamera, bewusst, wie er sagt,
weil Fassbinder die dadurch entstehenden Begrenzungen absichtlich in Kauf nehmen
wollte. Diese Begrenzungen entsprechen, könnte man sagen, den Begrenzungen
der handelnden Personen. Ballhaus filmt Martha zwischen den Blättern einer
Pflanze hindurch, bricht das Bild der beiden Hauptdarsteller, analog zu deren
Beziehung, einer gebrochenen Beziehung, zum Beispiel auch durch den Teil einer
verglasten Tür zur Veranda. Dem entspricht die dramaturgische Schärfe,
die Fassbinder durchweg der Geschichte auferlegt und die sich teilweise in Absurdität
äußert. Helmut zwingt Martha zu einer Fahrt in der Achterbahn. Als
sie sich danach erbricht, macht Helmut ihr ausgerechnet in diesem Moment einen
Heiratsantrag. Doch diese Absurdität ist nur Schein, wenn man die Beziehung
der beiden in Betracht zieht. Helmut kann nun in einer solchen Situation einen
Heiratsantrag machen, in einer Situation, in der Martha leidet. Die Pein des
anderen wird zum eigenen „Glück”, zur eigenen Befriedigung.
Besieht
man den Film als solchen, isoliert vom Gesamtwerk Fassbinders, handelt es sich
um eine extrem scharfe Kritik an Beziehungen, in denen sich Sadismus und Masochismus
die Klinke in die Hand geben. Erst ganz zum Schluss keimt in Martha die Angst,
ja Todesangst vor diesem Helmut, den sie geheiratet hat – zu spät, wie
sich erweist.
Zieht
man Fassbinders Gesamtwerk in Betracht, erhält diese (übrigens in
Konstanz, Kreuzlingen, Ottobeuren und Rom gedrehte) Geschichte weit über
eine Kritik bürgerlicher Geschlechterbeziehungen hinaus eine weitere Bedeutung.
Wenn man Fassbinders Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte kennt,
so stehen Helmut und Martha „nur” für Prototypen dieser Geschichte. Der
Sadist Helmut hat sich im Griff; nur ein einziges Mal fährt er vor Martha
aus der Haut – ausgerechnet, weil Martha „Lucia di Lammermoor” gefällt
(eine „Romeo und Julia” ähnliche Geschichte, in der sich eine Frau verzweifelt
gegen die Konvenienz-Ehe mit einem ungeliebten Mann wehrt [1]). Nach außen
ist Helmut freundlich, zuvorkommend – eben ein lächelnder Sadist, der skrupellos
handelt. Martha leidet, weil sie leiden will, und sie empfindet jede auch noch
so kleine Einmischung von außen als ungerechtfertigte Störung, begegnet
dem mit Aggression und Selbstschutz.
Diese
Paarung eines „leisen”, „sympathischen”, „lächelnden” Sadismus und eines
selbst gewählten, weil selbst erlernten Masochismus kennzeichnet eben auch
Fassbinders Sicht eines Deutschlands des Holocaust und der darauf folgenden
Jahrzehnte. Es sind die Folgen einer deutschen Geschichte die in Masochismus
(„wir” leiden unter dem „Diktat von Versailles”) und Sadismus (die „Täter”
der „bolschewistisch-jüdischen Weltverschwörung”) ihren Stellenwert
zu erkennen geglaubt hatte, mit denen sich Fassbinder vor allem beschäftigt.
Unter anderem seine Filme über die 50er Jahre (etwa „Lola”
oder „Die
Sehnsucht der Veronika Voss”),
aber auch seine ersten Filme über die 60er Jahre („Händler
der Vierjahreszeiten”,
„Katzelmacher”,
„Die
bitteren Tränen der Petra von Kant”)
sind gelungene Versuche in diese Richtung einer „Nacherzählung” deutscher
Geschichte – allerdings ohne den in den 70er Jahren üblichen Weg der pauschalen
und pauschalisierten Verurteilung. Fassbinder erweist sich in diesen Filmen,
und auch in „Martha”, als Regisseur des „Nahe-dran” und nicht des „Nieder-mit”,
was die Identifizierung mit den Figuren – im positiven oder negativen Sinne
– umso schwieriger macht, weil sie sofort mit dem eigenen Ich in Verbindung
gerät.
Karlheinz
Böhm und Margit Carstensen spielen in „Martha” einfach glänzend. Die
restlichen Schauspieler stehen eher im Hintergrund dieser Geschichte.
•
D V D •
Der
Film „Martha”, ursprünglich für das Fernsehen gedreht, konnte lange
Jahre nicht gezeigt werden. Ein Autor namens Cornell Woolrich (Buch von Hitchcocks:
"Das
Fenster zum Hof")
behauptete, Fassbinder habe eine seiner Geschichten unrechtmäßig
als Vorlage benutzt. Später einigte man sich darauf, im Vorspann des Films
Woolrich zu erwähnen („nach Motiven ...”). Erst 1997 konnte „Martha” im
Kino gezeigt werden.
„Kinowelt
Home Entertainment” brachte am 22.6.2004 nun endlich die DVD auf den Markt.
Bild und Ton (Mono) sind überraschend gut angesichts des Alters dieses
Films. Als Extras findet man zwei Interviews mit Karlheinz Böhm und Michael
Ballhaus (wohl 2004 aufgenommen), die sich nicht nur an das Zustandekommen von
„Martha” erinnern, sondern auch Interessantes über Fassbinder und dessen
Bedeutung für ihre eigene weitere Entwicklung preisgeben.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Prädikat:
Besonders wertvoll.
Ulrich
Behrens
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei: www.ciao.de
[1]
Zu Donizettis Oper: „Lucia soll nach dem Willen ihres Bruders Enrico zur Rettung
des Familienbesitzes den einflussreichen Arturo heiraten. Sie liebt jedoch heimlich
Edgardo, den ärgsten Feind der Familie, und die beiden schwören sich
ewige Treue, bevor Edgardo nach Frankreich reist. Enrico, erbost über diese
für ihn gefährliche Entwicklung, fängt die Briefe der beiden
ab und überredet die bereits innerlich gebrochene Lucia schließlich
unter dem Hinweis auf die offensichtliche Untreue des Geliebten, der Ehe zuzustimmen.
Bei der Unterzeichnung des Ehevertrages erscheint Edgardo, und es kommt zur
großen Auseinandersetzung aller Beteiligten. In Unkenntnis der Hintergründe
wirft Edgardo Lucia den Ring vor die Füße und schwört Rache.
Enrico fordert ihn zum Duell, um einen lästigen Störenfried loszuwerden,
während sich das Brautpaar zurückzieht. Kurz danach ersticht Lucia
ihren ungeliebten Ehemann im Brautbett und verfällt dem Wahnsinn. Der auf
das Duell wartende Edgardo hört hiervon und will zu ihr. Als er jedoch
von dem Priester Raimondo von ihrem Tod erfährt, bringt er sich um.”
Quelle:
http://www.egotrip.de/theater/9899/9899_llammerm.html
Martha
Deutschland
1974, 112 Minuten
Regie:
Rainer Werner Fassbinder
Drehbuch:
Rainer Werner Fassbinder, Cornell Wollrich
Musik:
Max Bruch (Violinkonzert Nr. 1), Gaetano Donizetti (Lucia di Lammermoor), Orlando
di Lasso
Director
of Photography: Michael Ballhaus
Schnitt:
Liesgret Schmitt-Klink
Produktionsdesign:
Kurt Raab
Darsteller:
Margit Carstensen (Martha Hyer / Salomon), Karlheinz Böhm (Helmut Salomon),
Barbara Valentin (Marianne), Peter Chatel (Kaiser), Gisela Fackeldey (Mutter
Marthas), Adrian Hoven (Vater Marthas), Ortrud Beginnen (Erna), Wolfgang Schenck
(Chef Marthas), Günter Lamprecht (Dr. Salomon), Le Hedi ben Salem (Hotelgast),
Rudolf Lenz (Portier), Kurt Raab (Sekretär deutsche Botschaft), Elma Karlowa
(Kellnerin), Ingrid Caven (Ilse)
Internet
Movie Database:
©
Ulrich Behrens 2004
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