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Match
Point
Tennis
in Slow Motion. Der
Ball steht auf der Kante des Netzes. Ein Standbild. Dann bewegt er sich wieder.
Auf welche Seite kippt er? Glück oder Pech? Glück! Chris (Jonathan
Rhys Meyers), der junge, hübsche Tennislehrer aus einer der unteren Schichten,
macht sich in der englischen High Society beliebt. Von der young lady bis zum Banker-Opa fährt
aber jeder auf ihn ab. Mir gings im Kino genauso. Dem mußte man einfach
alles durchgehen lassen, auch das, was die Oberschichtfiguren gar nicht mitgekriegt
haben, sehr wohl aber wir Zuschauer.
Ein moralfreies Lehrstück
übers Glück, das einem in den Schoß fällt, ob verdient
oder nicht, egal. Mehr noch: Woody Allen hat Glück gehabt, zum erstenmal
Manhattan zu verlassen und einen Film im Ausland zu drehen: in England. Die
larmoyante Mia Farrow von einst verblaßt mitsamt dem Durchprobieren neurotischer
Katastrophen. Er ist jetzt siebzig. "Match Point" steht in seinem
Werk neu, jung und schön da. Herzlichen Glückwunsch, Mr. Allen.
Alles very British. Die Schauspieler,
die pro-non-cier-te Sprache, leicht durchs rechte Nasenloch; die genüßlich
zelebrierten Umgangsrituale; das neue Oberschicht-Loft mit Blick auf die Tower
Bridge, und selbstverständlich paradieren am anderen Ufer die mit den schwarzen
Pelzmützen. Das war die Stelle, an der ich im Kino schrie: "Purer
Postkartenkitsch!", ähem, gedacht habe ich es aber, abgefüllt
wie ich war mit Champagner-Cocktails, der Familien-Loge in der Oper, Verdi den
ganzen Film hindurch, aber bitte in der Loge das Handy anlassen, wir müssen
noch zum Taubenschießen und dann zum Hormonspezialisten.
Mein Gott, ist das nun eine Upper
Class-Satire oder eine Klischee-Sammlung? Nein, dazu war es zu gut gemacht,
im Match-Tempo des Kommen-wir-jetzt-zügig-zur-Sache, und dann hatte ich
sie gelernt, die Upper Class Codes, die dir Tür und Tor öffnen. Ich
sagte es schon: ein Lehrstück. Aufsteiger Chris also freundet sich mit
dem gewissensfreien Oberschicht-Sohn Tom an. Ein Tennis-Coach wird grad gebraucht
(Glück!). Seine Schwester will geehelicht werden (Glück!). Der Vater
wird Aufsteiger-Fan (Glück!). Chris legt sich außerdem eine Geliebte
zu (Scarlett Johansson), die eigentlich die Verlobte seines Schwagers Tom ist
(kommen Sie mit? Wir sind unversehens in einem Familienroman des vorvorigen
Jahrhunderts). Die Johansson ist die einzige Nicht-Engländerin unter den
Schauspielern, immerhin emigriert sie grade laut Drehbuch aus den USA. Also,
was nun? Bevor die Buhlschaft ruchbar wird und die übliche Beziehungstragödie
anbrechen kann, erzählt Tom so nebenbei, daß er die Verlobung gelöst
und was besseres gefunden hat (Glück!).
Ich bin jetzt in der Verlegenheit,
den Plot nicht weitererzählen zu können, weil das Glück nicht
kommt, wenn man weiß, was passiert. Nur so viel, daß ein anderer
Tom, der Tom Ripley in Patricia Highsmiths Romanen, wesensverwandt ist. Von
Moral kann nicht die Rede sein, wenn der Talented Mr. Ripley den Aufstieg schaffen
will. Der Highsmith-Tom wird nicht vom Gewissen gebissen. Doch der Allan-Chris
tut sich schwer, das ganz Böse zu tun, das zu benennen ich mich weigere.
Er quält sich, doch er tut es. Und was ist es, was ihm völlig unverdient
in den Schoß fällt? - Eben. Wir kommen durch dieses glückliche
Verfahren außerdem in die dritte Dimension des wunderbaren "Match
Point": in die E-Literatur.
Am Anfang des Films eine Großaufnahme:
Tennis-Coach Chris liest. Er liest ein Buch. Er liest Dostojewski: "Schuld
und Sühne", während um ihn herum die feine Gesellschaft blasiert-schnodderig
ein wenig Zynismus goutiert. In der wunderbar geglückten deutschen Synchronisation
(Jürgen Neu) kommt das eins zu eins rüber. - Zurück zur Lesung.
Sie wird motivisch verflochten und schließlich zum Thema. Woody Allen
antwortet auf die großen E-Unglücke des 19. Jahrhunderts. "Match
Point" proudly presents: Schuld ohne Sühne. Auch ist es weder dramaturgische
Notwendigkeit, noch wird es verhängt, das Hast-Du-zur-Nacht-gebetet,-Desdemona.
Othello will würgen, aber momentmal, nur kurz das Handy, die große
Frage ist: Gehen wir zu dir oder zu mir.
Weil nicht das Verhängnis
die Hauptrolle hat oder das angeblich unerbitterliche Schicksal oder das Massenvergnügen,
am Schluß jemanden gehenkt oder doch bestraft zu sehen, - weil all das
bei Woody Allan nicht ist, ist "Match Point" ein Menschen-, äh,
Schauspieler-Film, in dem wir mit den Personen der Handlung warm werden - und
ihnen auf den Mund sehen. Worte, Sprache, Gesten wie bei Tschechow in der "Möwe".
Großartiges Theater und emotionale Nähe, gar eine bedenkenlose Verführung
des Zuschauers, - gut, also, ich war es, ungewarnt, der sich unversehens mit
dem talentierten Aufsteiger Chris identifizierte und infolgedessen in Teufels
Küche kam. Woody Allen hat es raffiniert und schön und vom Glück
begünstigt hingekriegt, daß ich mich in Fragen von Moral, Sitte und
Anstand auf der völlig falschen Seite wiederfand und das auch noch mit
Überzeugung. - Alle Achtung, Woody Allen, Du hast es geschafft, Du hast
mich geschafft. Ich habe mit dem Bösen mitgefiebert, und weil das immer
wieder überraschend und dauerhaft spannend war, rede ich Dir zuliebe hier
herum, statt Einzelheiten zu konkretisieren.
Ironische Zweifel am Match-Ende.
Geht es wirklich so aus, wenn das Glück gekommen ist? Dank Hormonbehandlung:
ein Junge! Das nächste Kind: ein Baby! In der Firma: ganz oben! Großeltern:
stolz! Eltern: selig! - Na klar. "Match Point" ist an vierter Stelle
ein Märchen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text
ist auch erschienen in der taz
Match Point
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