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Matrix
Zumindest
im Kino liegen das Böse, die Gefahr und das Abenteuer heute nicht an einem
Ort, den zu finden die Helden weite Wege gehen müßten - weder nach
Osten noch nach Westen. Seit einiger Zeit wird die Action und Thrill verschaffende
Bedrohung im US-Kino verstärkt nach Innen verlagert und bebildert damit
eine neue Variante von John F. Kennedys historischem Postulat der "New
Frontier", die nicht geographisch, sondern ideologisch mitten durch die
USA verläuft. Das Bedrohliche ist in das Innere (eines Körpers, einer
Nation, einer Familie) eingedrungen, bzw. direkt dort entstanden. Es hat die
Form von Einwanderern, Gedanken, übergeschnappten Militärs, korrupten
FBI-Agenten, der skrupellosen NSA, vertauschten Familienvätern und angesehenen
Ortsvorstehern angenommen. Filme wie THE ROCK, FACE/OFF,
EVENT HORIZON, FLETCHER'S VISIONEN, THE
GAME,
DAS
MERCURY PUZZLE,
COP LAND, DER STAATSFEIND NR. l, AUSNAHMEZUSTAND,
LOST
HIGHWAY
und Pl
- DER FILM
bebildern und unterminieren (wie FACE/OFF, LOST HIGHWAY und Pl) den Kampf des
Eigenen gegen die Bedrohung als interne Angelegenheit. Der Feind in meinem Ich.
Mit
MATRIX hat diese Verlagerung nach Innen ihren Höhepunkt erreicht. Der neue
Film des Brüderpaars Larry und Andy Wachowski (BOUND) präsentiert
Keanu Reeves in der Rolle des Computerexperten Thomas Anderson, der unter seinem
Hacker-Namen Neo zur letzten Hoffnung der Menschheit aufsteigt. Denn die Welt,
so wie wir und Neo sie zu kennen glauben, ist nichts als ein abgefeimtes Computerprogramm,
"die Matrix", mit dem herrschsüchtige Maschinen den Menschen
und ihren fünf Sinnen Realität vorgaukeln. Die Wahrheit sieht anders
aus: Tatsächlich befinden wir uns auf der verwüsteten Erde des 22.
Jahrhundert, auf der alle Menschen zu den Energie-Lieferanten der Maschinen
geworden sind, die ihren "Batterien" dafür das normale Leben
von 1999 vorgaukeln.
Nur
Morpheus (Laurence Fishburne), der Neo die Augen öffnet, leistet mit seinen
wenigen Getreuen auf seinem Raumschiff „Nebukadnezar" Widerstand und versucht,
die Matrix und damit die Macht der maschinellen Besatzer zu zerstören.
Mit seinen Freunden pendelt Morpheus zwischen der Realität und der Matrix:
auf diese Weise hat er Neo entdeckt, den er für die Erfüllung einer
alten Weissagung hält: "My search is over, because I found you: You
are the one." Um den Erwählten mit ihren subversiven Computer-Kentnissen
für den großen Kampf im allesbeherrschenden Programm zu rüsten,
lädt Morpheus allerlei Kampf- und Selbsterfahrungs-Programme in Neos Bewußtsein.
Hier etwas Kung-Fu, da Computer-Spiel-Sprünge von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer,
dort universelle Waffenkunde und Waffenbeherrschung. Doch bevor die Schlacht
gegen die übermenschliche Matrix-Polizei geschlagen werden kann, muß
Neo natürlich an seine eigene Kraft glauben. Denn die Wahrheit liegt schließlich
doch ganz tief im Heiland selbst.
Was
mit diesem erkenntnistheoretischen Mega-Überbau geleistet ist, betrachten
die Macher von MATRIX als mythologische Plattform für "Action-Szenen,
wie sie nie zuvor auf Film gebannt wurden". Neo, Morpheus und ihre Verbündete
Trinity (Carrie-Ann Moss) überwinden permanent die Schwerkraft, durchbrechen
Zeit und Raum. Die Matrix-Polizei (im FBl-Outfit) um den Anführer Agent
Smith (Hugo Weaving) kann dasselbe und außerdem noch Pistolenkugeln spielend
ausweichen. Unmöglich - das wird dem "Lara Croft'-vertrauten Publikum
mit dieser Konstruktion einer Welt versprochen, die als Computerspiel ständig
aufrüstbar bleibt – ist hier nichts.
Weil
es hier also im Umkehrschluß um „alles" gehen soll, hat MATRIX dementsprechend
viele Elemente und Motive aus dem postklassischen Kino, der amerikanischen Popkultur
und der Cyberspace-Utopien in sich aufgesogen. Natürlich werden der Computer
und das Internet zum Spiegel, durch den Neo (Märchen, Teil I) als die Alice
der 90er Jahre in sein desillusionierendes Wunderland eintritt: Schon mit der
Titelsequenz schweben wir durch eine Null auf dem Computerbildschirm ins Innere
von Neos Realität. An anderer Stelle (Märchen, Teil II) wird die Matrix
mit Kansas und Neo selbst mit Dorothy verglichen, die ihre Heimat auf dem Weg
zum Zauberer von Oz hinter sich gelassen hat. Die Welt jenseits der Matrix teilt
ihr Aussehen mit der Zukunft aus 12
MONKEYS,
jener an Jules Verne orientierten, zuletzt vielkopierten Mischung aus Zahnrad,
Rost und zerschlissenem Stoff. Die Kampfszenen – dafür hat man extra den
Kung-Fu-Experten Yuen Wo Ping aus Hongkong engagiert - schreien mitsamt Zeitlupen-Choreographie,
beidhändigem Pistolenballett und wallenden Mänteln geradezu nach dem
Vergleich mit John Woo und seinen Nachkommen. Mit den religiösen Metaphern
(„I knew it: He is the one!") von der Erleuchtung über die Wiedergeburt
bis zur Auferstehung wird nicht gespart, und auch das bißchen Subversive
an der Verbindung von Science-fiction und Selbsterkenntnis auf dem Weg zur Gesellschaftskritik
darf nicht fehlen. Hier wird immerhin wortwörtlich the
system
bekämpft.
Es
ist kein „Fehler" von MATRIX (erfolgreichster US-Filmstart dieses Jahres),
daß alles in ihm aus anderen Filmen und damit verbundenen Diskursen entlehnt
ist. Es ist vielmehr sein Ziel, sein "Programm" sozusagen. Es ist
der Versuch eines Blockbusters, gewinnbringend mit allen über alles zu
sprechen – allen alles zu zeigen. Und vielleicht ist es auch dieser Logik geschuldet,
daß jedes Element in MATRIX (und damit auch die ambitionierten Action-Szenen)
eine Spur ärmer und lebloser ausfällt, als es aus den anderen Filmen
in Erinnerung ist. Dann würde sich auch von selbst erklären, warum
dieser Höhepunkt der Verlagerung des Abenteuers nach Innen - bei dem der
Kampf ja schließlich im Bewußtsein selbst stattfindet - mit der
schlichten Neuformulierung des american dream endet. Via Computer läßt Neo die verblendete Menschheit der
Matrix wissen: "I'll show you a world, where everything is possible. The
choice is up to you."
Jan
Distelmeyer
Dieser
Text ist zuerst erschienen in:
Zu diesem Film liegen im archiv
THE MATRIX
USA 1999. R und B: Andy und Larry Wachowski. P: Joel Silver. K:
Bill Pope. Sch: Zach Staenberg. M: Don Davis. T: David Lee. A: Owen Paterson.
Hugh Bateup, Michelle McGahey. Ko:
Kym Barrett. Sp: John Gaeta. Pg: Village Roadshow/Groucho II Film/Silver Pictures.
V: Warner. L: 136 Min. St: 17.6.1999. D: Keanu Reeves (Neo), Laurence Fishburne
(Morpheus), Carrie-Anne Moss (Trinity). Hugo Weaving (Agent Smith). Gloria Fester (Oracle), Joe Pantoliano (Cypher). Marcus Chong (Tank). Paul Goddard (Agent Brown), Robert Taylor
(Agent Jones), Julian Arahanga (Apoc).
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