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Mein
Bruder Kain
Verfügt
ein Mensch über mehr als zwei Identitäten, dann reicht der moralische
Imperativ nicht mehr aus. Wie bequem war es noch, zwischen Dr. Jekyll und Mr.
Hyde zu wählen! Mit der moralischen Kategorie kann der Kinderpsychologe
Carter (John Lithgow) sich jedoch nicht helfen, wenn fünf Identitäten
gleichzeitig ins Spiel kommen: der fürsorgende Hausmann, der Bruder Kain,
der Vater, der siebenjährige Knabe, die Frau im Mann. Lithgow, der große
Shakespeare-Schauspieler, spielt den fünffachen Carter furios. Er verbreitet
lähmende Angst und provoziert befreiendes Gelächter. Und Brian De
Palma (Buch, Regie) verschafft ihm eine gänzlich undämonische Bühne
diesseits von Gut & Böse, ja eine geradezu vorsätzlich heile Welt,
in der die Dinge schmerzhaft deutlich am richtigen Platz und das Herz am rechten
Fleck ist. Im Bild ist jeder Zweifel ausgespart, die Phänomene sind vom
Hintergrund gelöst, selbst die schärfste Einstellung scheint der Tiefe
zu ermangeln, dafür strahlt die Innenarchitektur im Hochglanz.
Familie
Mustermann in einer dieser blitzblanken, rechtschaffenen nordkalifornischen
Provinzstädte. Das Leben zeigt sich von der besten, wenn auch flachsten
Seite. Geradezu vorbildlich normal hat sich der Kinderpsychologe beruflich freistellen
lassen, um sich als Hausmann der Erziehung der eigenen Tochter zu widmen. Von
pädagogischem Eifer getrieben, kuschelt er sich im Kinderbett mit der kleinen
Amy. Das ist gut gemeint, Gattin Jenny ( Lolita Davidovich) verfolgt durch den
Hausmonitor die zärtliche Szene und wartet, bereits entkleidet, auf ihren
Part. Und es wird sich zeigen, daß diese Bilder, je glatter und perfekter
sie sind, desto rauhere und monströsere Wahrheiten verbergen, die man nicht
einmal sehen muß, die sich ab und an in kurzen Zwischenschnitten offenbaren,
die man aber ahnen und glauben muß, bis die Wahrheit des Bildes zur zweifelhaften
Kulisse geworden ist. Brian De Palma (CARRIE,
SCHWARZER ENGEL, SCARFACE) beginnt auch diesen Film mit knallbunter Werbeästhetik,
der er dann mit einer gehörigen Portion Unverschämtheit und Witz den
Boden entzieht.
Meisterstück
dieser Übertölpelung ist eine minutenlange Steadycam-Fahrt, die im
dritten Stock eines postmodernen Bürohochhauses (der City Hall von Mountain
View) beginnt, sich durch verglaste Innenhöfe windet, mit dem Fahrstuhl
in die Tiefe geht und vor einer Kellerwand endet. In diesen fünf Minuten
passiert das, was in anderen Filmen das langweiligste und entbehrlichste wäre:
der fünfminütige Monolog einer medizinischen Sachverständigen
über das Wesen der Schizophrenie. Frau Dr. Waldheim (Frances Sternhagen)
bringt jedoch Spiel in den Vortrag; es überträgt sich ihr Bewußtsein
für die Kamera, die, in unablässiger, aber stetiger Bewegung vor ihr
zurückweicht, sie zugleich verfolgt, sich in der Fahrstuhlkabine an sie
preßt. Während des schier unaufhörlichen Gangs unternimmt Dr.
Waldheim immer wieder den koketten Versuch, in abirrende Gänge einzutauchen,
wird vor die Kamera gezogen, sichtbar am Ellenbogen dirigiert: die große
Fünfminutenszene ist auch eine artistische, sich des Mediums bewußte
Einlage für den Zuschauer, sie ist aber auch, über die vielen Worte
hinaus, der physische Aufbruch durch die glatten, perfekten, postmodernen Kulissen
hindurch in die psychischen Tiefen, in denen sich Ungeübte den Kopf an
der nächsten Betonwand stoßen.
In
diesen Tiefen lauert zum Beispiel Carter-Vater Dr. Nix, der dringend kleine
Kinder braucht, um mittels psychiatrischer Experimente eine wissenschaftliche
Theorie beweisen zu können. Die Nix-Identität spricht mit skandinavischem
oder deutschem Akzent, denn der Vater wich nach Norwegen aus, nachdem er, wie
wir zu unserem Entsetzen erfahren, aus theoretischen Gründen sein eigenes
Kind traumatisierte. PEEPING
TOM
war es bekanntlich nicht anders ergangen. In Brian De Palmas Film wird Carter-Gattin
Jenny gleichfalls von einem Bajonett erstochen, und das nicht vor dem, sondern
durch das Denkmal vor dem Palast der Ehrenlegion in San Francisco. Doch dieser
hochdramatische Akt wirkt wie geträumt und ist von offener Ironie.
MEIN
BRUDER KAIN spricht kein schicksalshaftes Verdikt, er erlaubt statt dessen,
den spielerischen Umgang mit den mehr oder minder zweifelhaften Identitäten
in uns. Die Vergangenheit gehört uns, im Guten wie im Bösen. MEIN
BRUDER KAIN ist somit Paradefall persönlicher Vergangenheitsbewältigung:
Dr. Nix und die anderen sind nicht mehr das schlechthin Andere, mit dem man
bitteschön aber auch gar nichts zu tun hat. Derlei nicht nur in Amerika
verbreiteten Selbstgerechtigkeiten zieht Brian De Palma den Boden unter den
Füßen weg, aber so, daß das Normale für den Spott nicht
zu sorgen braucht.
Dietrich
Kuhlbrodt
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in: epd film
12/92
MEIN
BRUDER KAIN
RAISING
CAIN
USA
1992. R
und B: Brian DePalma. P:
Gale Anne Hurd. K:
Stephen H. Burum. Sch: Paul Hirsch, Bonnie Koehler, Robert Dalva. M:
Pino Donaggio. T:
Nelson Stell. Ba: Doug Kraner. Ko:
Bobie Read. Pg: Pacific WesternlUniversal. V: UIP. L: 95 Min. FSK: 16, ffr.
St: 17.12.1992. D: John Lithgow (Carter, Kain, Dr. Nix, Josh, Margo), Lolita
Davidovich (Jenny), Steven Bauer (Jack), Frances Sternhagen (Dr. Waldheim),
Gregg Henry (Lt. Terri), Tom Bower (Sgt. Cally),
Mel Harris (Sarah), Teri Austin (Karen).
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