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Meine
italienische Reise
Kino der übertroffenen
Erwartungen
IL MIO VIAGGIO IN ITALIA: Martin Scorseses Reise
durch die italienische Filmgeschichte
Dies ist die Welt meiner Kindheit,
einer Welt mit Leuten wie meinen Großeltern, auf der Suche nach einem
besseren Leben. Sie haben mir nie erzählt, woher ich komme, und ich habe
nie danach gefragt. Ich habe es durch Beobachtung und durch die Filme ihrer
Heimat erfahren.
Martin Scorsese, IL
MIO VIAGGIO IN ITALIA
Calvino erkannte das Dilemma des
Kinogängers. Jener Abstieg in die Höhle geschieht nicht nur aus Spaß.
Wir werden dahin getrieben, weil "der Film, als dessen Betrachter wir uns
in selbstbetrügerischer Weise sahen, die Geschichte unseres Lebens ist."
Und deshalb sind wir hypnotisiert, kaum dass wir die Höhle betreten haben.
Jerome Charyn, Movieland
I
Martin Scorseses erste Erfahrungen mit dem italienischen
Film sind, wie er gleich zu Beginn von IL MIO VIAGGIO IN ITALIA erzählt,
untrennbar mit der eigenen Familie verbunden, und dabei mit der eigenen Familiengeschichte
ebenso wie mit der Geschichte der italienischen Aussiedler, die in Little Italy
im New York der vierziger und fünfziger Jahre lebten. Die Voraussetzungen
waren dabei alles andere als optimal: Die Kopien der italienischen Filme, die
im Fernsehen zu sehen waren, waren meistens sehr schlecht, sie waren oft ungenügend
synchronisiert, immer wieder durch Werbepausen unterbrochen und meist auch noch
gekürzt. Und dennoch eröffneten diese Filme dem Kind Martin Scorsese
eine neue Welt. Zuvor bestand die Welt nur aus der Wohnung, der Schule, der
Kirche und dem Süßwarenladen um die Ecke. Doch jeden Freitagabend
versammelten sich die Familie und Freunde vor einem der wenigen Fernseher und
sahen italienische Filme, sahen ROMA CITTÀ APERTA
(1945) und PAISÀ (1946) von Rossellini, Viscontis LA TERRA TREMA
(1948) und Blasettis 1860 (1934). Am beliebtesten waren die Filme, die in Sizilien
spielten, woher die meisten der Einwanderer, die wie die Scorseses in der Elizabeth
Street wohnten, kamen. Während die Filme liefen, blickte der junge Martin
"in ihre Gesichter und sah, wer sie wirklich waren. Mir wurde bewußt,
dass auch ich dorther kam!"
Auch wenn diese frühreife Erkenntnis Scorseses
vielleicht nur eine Stilisierung aus der Rückschau heraus bedeutet: Scorsese
berichtet hier von der Bewusstwerdung der eigenen Wurzeln, die einhergeht mit
der Entdeckung eines Landes und einer Tradition, die von Mythen und Geschichte(n)
übervoll war. Es waren vor allem zwei Arten von Filmen, die ihm diese Entdeckung
vermittelten und die für ihn von nun an zusammengehören sollten. Auf
der einen Seite stehen die epischen Filme wie LA CORONA DI FERRO (1941) von
Alessandro Blasetti oder CABIRIA (1914) von Giovanni Pastrone, Filme, die von
der Antike handelten, von Römern und Christen, von Mythen und wunderbaren
Figuren, und die fantastische Welten zeigten, in die man sich flüchten
konnte. Und auf der anderen Seite sind es die Filme des Neorealismus wie PAISÀ
oder LADRI DI BICICLETTE
(1948) von Vittorio de Sica, die – auch wenn sie erst nach dem Krieg entstanden
waren – noch immer eine Lebenswirklichkeit vorführten, die auch den italienischen
Auswanderern bekannt war als eine fortdauernde Geschichte des Überlebens.
Die Epen und die neorealistischen Filme stellen für Scorsese die beiden
Extreme des italienischen Kinos dar, und ihnen gemein ist, dass sie beide von
der Last, aber auch von der Kraft der Vergangenheit sprechen. Für den gebürtigen
Amerikaner wurden sie zu einer zweiten, visuellen Heimat, die einen wichtigen
Einfluss auf seine spätere Entwicklung als Mensch und Filmemacher ausübte.
II
Als Filmemacher habe ich mich
nie als Hollywood-Regisseur gefühlt und ich bin offensichtlich auch kein
italienischer Filmemacher. Ich muss meine Heimat dazwischen finden, um mich
wohlzufühlen... Wenn ich die Filme, über die ich hier sprechen möchte,
nicht gesehen hätte, wäre ich ein anderer Mensch und ein anderer Filmemacher.
Martin Scorsese, IL
MIO VIAGGIO IN ITALIA
IL MIO VIAGGIO IN ITALIA ist nicht Scorseses erste
Reise durch die Filmgeschichte. Er setzt vielmehr eine Reise fort, die er wenige
Jahre zuvor mit A PERSONAL JOURNEY WITH MARTIN SCORSESE THROUGH AMERICAN MOVIES
(1995) begonnen hatte. Diese ebenfalls fast vierstündige Dokumentation
entstand im Rahmen einer vom British Film Institute besorgten Reihe zum hundertjährigen
Jubiläum des Films und wurde für das Fernsehen produziert. Dabei ist
A PERSONAL JOURNEY keine erschöpfende Darstellung des amerikanischen Films
und will dies auch nicht sein. Scorsese nahm vielmehr eine sehr persönliche
Sicht ein und betrachtete die Einflüsse des amerikanischen Films auf seine
Entwicklung als Filmrezipient und Filmemacher. Vor allem aber war es eine Reise
aus der Sicht eines Beteiligten, eines Regisseurs, der sich der Schwierigkeiten
seines Berufs innerhalb eines von Studios und Finanzgesellschaften beherrschten
Systems nur allzu bewusst war. Nicht umsonst betitelte Scorsese ein wichtiges
Kapitel dieser Dokumentation mit 'The director as smuggler' und erzählt
darin von den vielen unterschiedlichen Versuchen amerikanischer (und natürlich
auch nichtamerikanischer, in Hollywood arbeitender) Regisseure, innerhalb des
Systems gegen den Hollywood Production Code Eigenes durchzusetzen, eigene Ideen
und eigene Sichtweisen unterzubringen.
In seiner amerikanischen Reise nimmt Scorsese eine
große Zahl an Filmen und Regisseuren auf, und er spannt einen weiten zeitlichen
Bogen. In Themenkomplexen wie 'The Director as Storyteller' oder '... as Illusionist',
gelingt es ihm dabei zusammen mit seiner Cutterin Thelma Schoonmaker – trotz
der Menge des Materials – einen ruhigen Erzählstil zu entwickeln. Er fasst
die Inhalte der Filme knapp und präzise zusammen und lässt in die
Beschreibung hinein seine Analysen fließen. Verbunden sind die Ausschnitte
durch abwechselnd nach rechts und links laufende Wischblenden.
III
In IL MIO VIAGGIO IN ITALIA verfeinerten Scorsese
und Schoonmaker diese Erzähltechnik noch, indem sie nicht mehr in einzelne
Abschnitte unterteilten, sondern für einen ruhigen, beständigen Erzählfluss
sorgten und lange Passagen von Filmausschnitten aneinander reihten, die nur
kurz von in Schwarz-Weiß gehaltenen Sequenzen, die Martin Scorsese an
den Orten seiner Kindheit zeigen, unterbrochen wurden. Die Filme, die Scorsese
auswählte, sollen ganz im Mittelpunkt stehen, und so gewährt er ihnen
in seiner Dokumentation viel Raum, um die je eigene Handschrift der Regisseure
und den Stil ihrer Filme wirken zu lassen. Fast immer wählte Scorsese dabei
die bildmächtigsten und suggestivsten, aber auch bekanntesten Ausschnitte
der Filme aus, deren Auswahl selbst wiederum eine Art Kanon des italienischen
Kinos der Nachkriegszeit bildet.
Denn im Gegensatz zu A PERSONAL JOURNEY ist der filmhistorische
Rahmen in IL MIO VIAGGIO IN ITALIA viel enger gefasst. Scorsese beginnt seine
Reise mit den ersten Filmen des befreiten Italiens, mit Rossellinis ROMA CITTÀ
APERTA und PAISÀ, und endet mit Michelangelo Antonionis L'ECLISSE (1962)
und Fellinis OTTO E MEZZO (1963). Für
seine Dokumentation hatte Scorsese sich u.a. der Mitarbeit der Drehbuchautorin
Suso Cecchi d'Amico versichert. Die Grande Dame des italienischen Films hatte
selbst an zahlreichen Produktionen dieser beiden Jahrzehnte mitgewirkt und den
italienischen Film mitgeprägt. Sie war an LADRI DI BICICLETTE und MIRACOLO
A MILANO (1951) von Vittorio de Sica ebenso beteiligt wie an den meisten Filmen
Luchino Viscontis, für die sie fast ausnahmslos die Drehbücher (mit-)geschrieben
hat. Vielleicht gerät daher auch die Analyse von Viscontis SENSO (1954)
zu Scorseses eindrücklicheren.
Im Zentrum von Scorseses italienischem Filmuniversum
aber stehen eindeutig die Filme Roberto Rossellinis, zu denen er immer wieder
zurückkehrt. Nicht zuletzt ist auch der Titel seiner Dokumentation, deren
Arbeitstitel noch 'Il dolce cinema' lautete, eine Referenz an und Verbeugung
vor dem 1953 entstandenen, vor allem von den Regisseuren der Nouvelle Vague
hochgeschätzten VIAGGIO IN ITALIA. Diesem Film räumt Scorsese im letzten
Teil seiner Reise daher auch den meisten Raum ein, wohl auch, weil er in ihm
etwas exemplarisch wiederfindet, was er am Ausgangspunkt seiner eigenen Reise
konstatierte. Das Wesen nämlich von VIAGGIO IN ITALIA – in dem, wie er
meint, nichts erklärt werde, der keine dramatischen Höhepunkte aufweise
und dennoch am Ende des Films einen ungeheuren emotionalen Sog entwickle – ,
das Wesen dieses Films findet Scorsese in der antiken Geschichte Italiens, in
einer Vergangenheit, die nicht festgeschrieben, sondern noch sehr lebendig und
voll Kraft ist.
Am Ende seiner Reise durch den italienischen Film
gelangt Martin Scorsese zu den Filmen Antonionis, und er endet mit Fellinis
OTTO E MEZZO. In diesem "Film über das eigene künstlerische Dilemma"
sieht er "die reinste Liebeserklärung an das Kino, die ich kenne".
OTTO E MEZZO stellt für Scorsese einen persönlichen Wendepunkt dar
– ohne dass er ausführt, was dieser Wendepunkt für ihn bedeutet.
IV
Am Anfang dieser Dokumentation
sagte ich, dass ich einfach nur meine Gefühle für das italienische
Kino ausdrücken wollte, um jüngere Menschen für diese Filme zu
interessieren. ... Ich finde, Sie sollten sie auch sehen.
Martin Scorsese, IL MIO VIAGGIO IN ITALIA
Martin Scorseses Reise durch den italienischen Film
der Nachkriegszeit erhebt wie sein Pendant über das amerikanische Kino
sicher nicht den Anspruch, das Thema erschöpfend zu behandeln. Wer sich
im italienischen Kino dieser Zeit auskennt, wird einiges vermissen und weitere
Regisseure, andere Filme oder Aspekte des italienischen Films erwartet haben.
Und bei einigen Analysen und Aussagen Scorseses möchte man ihm auch gerne
widersprechen – was er sicher begrüßen würde. Denn es geht Scorsese
– und dies betont er sowohl in IL MIO VIAGGIO IN ITALIA wie auch schon in A
PERSONAL JOURNEY – um visuelle Bildung und darum, durch das wiederholte Sehen
der Filme immer wieder neu überrascht zu werden. Darüber hinaus deutet
Scorsese bereits mit dem Titel des Films IL MIO VIAGGIO IN ITALIA an, dass es
sich hier um eine sehr persönliche Reise handelt, mit sehr eigenen Erfahrungen.
Die Musik, die er Vor- und Nachspann unterlegt, stammt aus Viscontis IL GATTOPARDO
(1963), einem Film, den er sonst nicht weiter bespricht. Es handelt sich um
Viaggio a Donnafugata von Nino Rota, und in beiden Filmen ist diese Musik
das Thema einer sentimentalen Reise in die Vergangenheit, deren Last und Kraft
ihre Auswirkung auf Gegenwart und Zukunft haben.
Peter Ruckriegl
Dieser Text ist zuerst erschienen
bei: http://www.uni-mainz.de/Organisationen/screenshot/htm-Texte/ilmioviaggio.htm
Meine
italienische Reise
Il
mio viaggio in Italia
Dokumentarfilm
in zwei Teilen, Italien, USA 1999, Regie: Martin Scorsese, Buch: Suso Cecchi
d'Amico, Kent Jones und Martin Scorsese. Mit:
Martin Scorsese.
Als
DVD erschienen im Rahmen der 7 DVDs und 14 Dokumentationen umfassenden „Filmgeschichte
Weltweit“-Edition, entstanden in Zusammenarbeit von arte, absolut MEDIEN und
im Vertrieb von absolut MEDIEN (www.absolutmedien.de) und Zweitausendeins.
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