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Meine Nacht bei Maud
„Frauen haben immer zu meinem moralischen Fortschritt beigetragen“ (Jean-Louis)
Es stimmt: Die meisten der Filme Eric Rohmers sind zuallererst aus Wörtern, Sätzen, Aussagen, Reflexionen gemacht. Allein diesen Sätzen zu folgen ist Abend füllend, Kopf füllend, anregend - und mitunter auch anstrengend. Doch was wäre ein Film wie „Meine Nacht bei Maud“ ohne die Menschen, die diese Sätze sagen? Bestenfalls eine Philosophievorlesung der interessanteren Art. „Meine Nacht bei Maud“ ist deshalb nützlicher als jeder philosophische Rekurs, weil der Film das mit der Philosophie anstellt, was sie einzig und schließlich legitimiert. Er wendet sie auf die Praxis, also auf das Leben, an. Jede Figur rohmerscher Filme ist ein anderer ethischer Entwurf und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen sind Diskurse zwischen diesen Ethiken.
Frankreich,
Clermont-Ferrand in der Zeit um Weihnachten bis Neujahr. Jean-Louis, ein Ingenieur
von Anfang Dreißig, von Haus aus lascher Katholik mit einer sexuell nicht
unbewegten Vergangenheit, hat sich irgendwann selbst zum gläubigen Katholiken
konvertiert und denkt ans Heiraten. Auch eine dafür geeignete Kandidatin
vermeint er gefunden zu haben, eine junge (blonde) Frau, die – wie er – regelmäßig
am sonntäglichen katholischen Gottesdienst teilnimmt. Wie es aber der Zufall
will, ergibt sich zunächst nicht die richtige Gelegenheit, in Kontakt zu
kommen, mehr über sie zu erfahren. Stattdessen trifft er überraschend
Vidal, einen alten Jugendfreund und Studienkollegen wieder, inzwischen ein Philosophie-Dozent
, welcher ihn unbedingt einer (dunkelhaarigen) Freundin vorstellen will. Mit
Maud, sagt er, verbinde ihn nicht viel, außer Sex, deshalb sei es nicht
bedenklich, wenn Jean-Louis sie näher kennenlerne. Maud ist geschieden,
Mutter eines kleinen Mädchens und Kinderärztin. Als sie Jean-Louis
im Laufe eines langen, alkoholinspirierten und polemischen Abends zu Dritt deutliche
Avancen macht, lässt Vidal die beiden allein - und wieder der Zufall, starker
Schneefall, verhindert, dass Jean-Louis mit seinem Auto zurück nach Hause,
in einen kleinen Nachbarort, fahren kann. Die attraktive Maud versucht ihn zu
verführen, Jean-Louis widersteht ihr mit letzter Kraft, und wie von einem
Zweifel befreit kann er nun den Zufall, der am nächsten Tag zu einer Begegnung
mit Françoise (Marie-Christine Barrault), der Blondine, führt, nutzen,
um sich ihr vorzustellen und sich mit ihr zu verabreden. Zwei weitere (u.a.
witterungsbedingte) Zufälle wollen es jedoch, dass er ihr schon vor ihrem
Rendezvous begegnet und zwangsläufig auch bei ihr übernachten muss.
Die Nacht bei Françoise ist in jeder Hinsicht das Gegenmodell zu der Nacht bei Maud.
Wo dort zwar Sympathie, aber auch sinnliche Versuchung und Verführung dominierend
waren, herrscht hier keusche Distanz, Respekt, die ehrlichen, hoffnungsvollen
Absichten eines Heirats-Antrags und die Freiheit der Wahl statt der Manipulation
durch die Triebe.
Diese zwei Prinzipien scheinen den ganzen Film zu prägen.
Lohnt es, sich dem Reiz des Augenblicks, der zufälligen Begegnung hinzugeben
- und so ein Leben von zufällig mehr oder minder passenden (wie man bei
Maud erkennt, enttäuschenden) Liebesaffären zu leben, oder ist es
besser, darauf zu warten (und daran zu glauben), dass einem der Mensch begegnen
wird, der ideal zu einem passt. Wobei letzteres die Qualität der self fullfilling prophecy haben kann. Wenn sich zwei Menschen treffen, deren Ideal das
der Zuversicht ist und die in den Sinn der Geschichte und des menschlichen Daseins
vertrauen, so werden sie sich natürlich leicht gegenseitig in ihrer Einstellung
bestätigen können. Durch ihre religiöse Antizipation eines großen
positiven Sinnzusammenhangs schaffen sie bereits Sinn – egal, ob ihrer Religion
ein existierender Gott zugrundeliegt oder nicht.
Rohmers vierter Film aus seinen sechs „Moralischen Erzählungen“
handelt zwar explizit von Religion und Glauben, lange Passagen bestehen aus
Predigt und Gottesdienst, doch wie immer bei Rohmer ist es der Mensch, der sich
seinen Gott oder seine Religion vorstellen oder aussuchen kann, der die Freiheit
hat zu wählen zwischen der (antizipierten) moralfreien – was für ihn
auch bedeutet: pessimistischen - Beliebigkeit der sozialen Beziehungen und dem
Zutrauen in einen letzten Sinn des Daseins; Zutrauen, welches alles aufwertet:
das Ich, das Du, das Miteinander.
„Mein Leben besteht aus Zufällen“
Jean-Louis
Angesichts der Menschheitsgeschichte liegt natürlich der Zweifel an einem positiven Ausgang oder an einen positiven Fortschritt der menschlichen Rasse nahe. Genau dieses Problem steht im Zentrum von „Meine Nacht bei Maud“. Ein Katholik, ein Marxist und eine Nihilistin diskutieren die schlechthinnige Frage nach Moral: Wie sollen wir leben, und aus welchen Gründen sollten wir so leben, wie wir es beabsichtigen? Bindeglied zwischen den Extremen ist der materialistische Marxist Vidal, bezeichnenderweise er hat gelernt, dass gerade auch politische Arbeit nicht ohne ein metaphysisches und irrationales Element auskommt, das der Hoffnung auf den Sinn der Geschichte. Es ist kein Zufall, dass alle die Handlung (die Historie) vorantreibenden Begegnungen in „Meine Nacht bei Maud“ Zufallsbegegnungen sind und dass Jean-Louis’ und Vidals Gespräch im Restaurant den Zufall zum Thema hat, angefangen bei der Wahrscheinlichkeit, sich zufällig zu begegnen bis zur Wahrscheinlichkeit eines metaphysischen globalen Sinnzusammenhangs. Die Jugendfreunde haben sich das erste Mal nach Jahren in Clermont-Ferrand, dem Geburtsort des Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal, getroffen, und Pascal und seine „Wette, die besagt, dass man, und sei es gegen die Wahrscheinlichkeit, auf Gott setzen müsse, weil man eine solche Wette nur gewinnen könne“ sind es eigentlich, wovon der Film handelt:
Vidal:
“Gerade für einen Kommunisten ist dieser Text von der
Wette ausserordentlich aktuell. Glaub mir: im Grunde zweifle ich, dass die Geschichte
einen Sinn hat. Trotzdem setze ich auf die Geschichte - und ich bin in der pascalschen
Situation. Hypothese A: das Gesellschaftsleben, jede politische Aktion haben
keinerlei Sinn. Hypothese B: die Geschichte hat einen Sinn. Ich bin ganz und
gar nicht sicher, dass Hypothese B eher zutrifft als Hypothese A. Ich würde
eher das Gegenteil behaupten. Nehmen wir an, dass für Hypothese B eine
Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent besteht und für Hypothese A neunzig
Prozent. Jetzt pass auf. Aber trotzdem, ich kann nicht darauf verzichten. Ich
muss auf sie setzen, auf Hypothese B. Denn sie gibt der Geschichte einen Sinn,
denn sie ist die einzige, die mir ermöglicht zu leben. Nehmen wir an, ich
habe auf Hypothese A gewettet und Hypothese B stellt sich als wahr heraus, trotz
der zehn Prozent Wahrscheinlichkeit, dann hab ich mein Leben völlig verloren.
Also muss ich mich entscheiden, für Hypothese B, denn sie ist die einzige,
die mein Leben rechtfertigt. Natürlich spricht eine Wahrscheinlichkeit
von neunzig Prozent dafür, dass ich mich irre. Aber das ist unwichtig.
- So etwas nennt man mathematische Hoffnung. Das heisst: der Gewinn wächst
mit der Wahrscheinlichkeit. Und was deine Hypothese B betrifft, mag die Wahrscheinlichkeit
vielleicht gering sein. Aber der Gewinn ist unermesslich. Denn für dich
ist er ja der Sinn des Lebens und für Pascal der Gewinn des Unendlichen.“
Der strenggläubige Katholik Jean-Louis bleibt skeptisch, und sein Rest von Skeptizismus trennt ihn von dem, was Pascal die „subjektive mystische Erfahrung“ nennen würde. Durch Vidal aber wird sein Glaube mit seinen eigenen Vorbehalten und mit Maud, dem rationalistisch-atheistischen, sehr physischen Vorbehalt in Person konfrontiert und auf die Probe gestellt. Seine Nacht bei Maud schließlich ist der Katalysator, der ihm seine unbedingte Entscheidung für Hypothese B (Die blonde Katholikin) ermöglicht.
Am Ende besteht alles aus Zufällen, Zufälle, die sinnvoll geworden sind, weil Jean-Louis ihnen Sinnhaftigkeit beimisst, d.h. weil er ihrer Abfolge eine zugrundeliegende Ordnung unterstellt. Weil er aufgehört hat, sich ihnen zu verschließen, weil sie für ihn bedeutungsvoll sind, haben sie Offenbarungscharakter, haben sie für ihn etwas Mystisches. Oder auch: Weil sie immer schon mystisch waren, kann er die Zufälle als mystisch begreifen, seit er aufgehört hat, nur mit seinem Verstand zu glauben. Glaube und Hoffnung, d.h. ein glückliches Leben funktionieren so nur wider die Vernunft.
„Wie die Sittlichkeit eine Sache der Empfindung, nicht des Denkens ist, so ist Gott, so sind selbst die ersten Grundsätze, auf denen die Gewissheit der Beweise beruht, ein Gegenstand nicht der Vernunft, sondern des Herzens.„ Blaise Pascal
„Ich
glaube nicht an Kausalität, ich suche nicht nach Gründen. Es stört
mich, wenn gesagt wird: diese Tatsache hat einen Grund. Warum sollte sie einen
haben? Warum muss man unbedingt nach Gründen suchen? Das zwingt einen,
eine Erklärung zu finden. Ich sehe das anders. Ich verstehe es eher so,
dass die Dinge einem Ziel zustreben. Wie in einer Geschichte. Die Welt hat einen
Sinn. Eine solche Erklärung ist theologischer. Gerade der Film entzieht
sich menschlicher Kausalität, weil uns der Film an die Natur verweist,
an eine organisierte Natur, die auf ein Ziel gerichtet ist. In diesem Fall ist
der Mensch nicht der absolute Herrscher über sein Material. Sein Material
bewegt sich in eine bestimmte Richtung, und er hat sich in diese Richtung treiben
zu lassen.“ Eric Rohmer
„Meine Nacht bei Maud“ verrät viel über Rohmer und seine Philosophie des Zutrauens in den Gang der Geschichte. Aber im Film verbirgt sich offenbar auch ein unreflektiertes, konservativ wirkendes Menschen- speziell Frauenbild. Dass die sinnliche und verführerische Maud schwarzhaarig, die ideale Ehefrau dagegen katholisch, eher ätherisch als erotisch und blond sein muss, mag von Rohmer zwar schon bewusst so inszeniert worden sein. Eine notwendige Distanz zu althergebrachten, typisch männlichen, restriktiven und sexualfeindlichen Moralvorstellungen von der Frau als der Heiligen oder der Hure stellt er im Film aber nicht her.
So wenig Rohmer sich auch in seinen Filmen ums tagespolitische Geschäft kümmert, der Zeitgeist vom Pariser Mai 1968 steckt in der Figur des Vidal und der Aufbruch einer neuen feministischen Bewegung wird durch Maud verkörpert. Maud steht in jeder Eigenschaft für die zum Ende der sechziger Jahre ausgerufene Emanzipation der Frau, sie ist nonkonformistisch, sie hat sich von ihrem Mann scheiden lassen, ist alleinerziehend und berufstätig, und sie sucht sich ihre Liebhaber lieber selbst aus, statt auf sie zu warten und sich ihnen hinzugeben. Sie bedroht anscheinend nicht nur den Katholiken, sondern auch den Mann in seiner Autorität, indem sie für sich die gleichen Rechte wie die der Männer geltend macht, sie gefährdet das Patriarchat, das Jean-Louis trotz seiner zur Schau gestellten Toleranz repräsentiert und praktiziert. Fakt ist, selbst wenn Maud prinzipiell in den Augen von Jean-Louis Recht hätte, selbst wenn sie wirklich die interessantere Frau wäre für Jean-Louis – es wäre ihm unmöglich sie zu erwählen, weil sie ihn mit ihrer offensiven und autonomen Weiblichkeit zutiefst verunsichert.
Schließlich ist es dann auch er als Mann, der sich für
Françoise
entscheidet (ein selbstherrlicher Akt, lange bevor er sie überhaupt kennt),
dabei ziemlich uncharmant und aufdringlich vorgeht, und nicht umgekehrt. Mit
Françoise stimmt seine konservative Ordnung wieder. Der Mann erwählt
und er entscheidet und umso rechtmäßiger ist die Entscheidung des
Mannes, wenn er Gott (den Sinn der organisierten Natur) auf seiner Seite wissen
darf. Françoise spielt im Film eine ziemlich untergeordnete Rolle. Doch,
auch Françoise hatte früher einen Geliebten, im Gegensatz zu Maud
aber bereut sie es und bezeichnet es als Sünde. Wenn dagegen Jean-Louis
von seinen Affären spricht, dann mit einem jovial-chauvinistischen Unterton:
Kavaliersdelikte insgesamt. Für beide aber gilt offiziell und wohldeklariert,
d.h. von Rohmer leider wenig gebrochen: Sie haben ihre (Erb-) Sünden erkannt,
haben bereut und können auf Vergebung hoffen.
„Ich
glaube, es hat dich in meinem Leben immer gegeben.“ Jean-Louis
„Und
ich glaube, da täuschst du dich.“ Françoise
Bezeichnend
dann der Schluss: Jahre später, Jean Louis und Françoise mit ihrem
kleinen Kind begegnen Maud (natürlich zufällig) im Urlaub am Meer.
Das Paar sieht glücklich aus, sie haben ihr Kind bei sich: das Produkt,
das sichtbare Zeichen, der „Gnade“, während Maud nun ganz allein ist. Mauds
neue Ehe ist unglücklich und selbst ihre Tochter ist offenbar nicht mehr
bei ihr - jedenfalls fällt kein Wort über die Tochter und in der Szene
fehlt sie. Man braucht kein Chauvinist zu sein, um zu denken, dass die Ehe zwischen
Jean-Louis und Françoise nur deshalb so gut klappt, weil sich die Ehefrau
zurücknahm, keine hohen eigenen Ansprüche stellte, um zu wetten, dass
sie zum „Wohl der Familie“ auf den Beruf verzichtete, und leider könnte
man geneigt sein zu schließen, dass es sich Maud nur deshalb immer mit
Allem (der Welt Gottes) und vor allem mit Allen (den Männern) verscherzt,
weil sie sich ihnen verdammt-noch-mal nicht unterordnen will.
Die schicksalhafte
Fügung, so der Tenor, lässt keinen aus. Das Glück winkt denen,
die sich dem Schicksal anvertrauen; das Unglück ist mit den Zweiflern und
denen, die eher an sich, als an das „Gute“ glauben. Besonders hart trifft das
Unglück die emanzipierte Frau. Wahrscheinlich wird ihr Schicksal vorrangig
begründet in der „organisierten“ Natur der etablierten Geschlechterverhältnisse.
Andreas
Thomas
Meine Nacht bei Maud
MA NUIT CHEZ MAUD
Frankreich - 1969 - 110 min. - schwarzweiß
Drama
FSK: ab 16; feiertagsfrei
Verleih: Neue Filmkunst
Erstaufführung: 7.4.1970 ARD
Fd-Nummer: 16668
Produktionsfirma: Les Films du Losange/Films du Carrosse/Renn/Film
de la Pléiade/Prod. de la Guéville/Simar/Films des deux Mondes/F.F.D.
Produktion: Barbet Schroeder, Pierre Cottrell
Regie: Eric Rohmer
Buch: Eric Rohmer
Kamera: Nestor Almendros
Schnitt: Cécile Decugis
Darsteller:
Jean-Louis Trintignant (Jean-Louis)
Françoise Fabian (Maud)
Marie-Christine Barrault (Françoise)
Antoine Vitez (Vidal)
Anne Dubot (die blonde Freundin)
Marie Becker (Marie, Mauds Tochter)
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