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M - Eine Stadt sucht einen Mörder
Das
Fehlen von etwas
Ein Ball springt über eine
Wiese. Ein Treppenhaus ist leer. Der Ruf einer Mutter ertönt, unbeantwortet.
Ein Mann wird gesucht. Fragen erhalten keine Antwort. Aber nicht nur diese Art
von Fehlen, von Defizit, kennzeichnet einen Film, einen der ersten Tonfilme,
"M" von Fritz Lang. Es "fehlt" noch mehr: das Begreifen
dessen, was geschieht, eine irgendwie geartete Ein-Sicht in das Unermessliche
und die Vorstellungskraft Übersteigende. Eine Stadt jagt einen Mörder.
Nicht irgendeine Stadt, sondern die Reichshauptstadt Berlin jagt einen Kindermörder,
von dem niemand nur das geringste weiß. Acht Kinder sind verschwunden, ein neuntes wird vermisst:
Elsie (Inge Landgut), die kleine Tochter von Frau Beckmann (Ellen Widmann).
Und während Kinder im Kreis den Reim:
"Warte, warte nur ein
Weilchen,
bald kommt Haarmann auch zu
dir
mit dem kleinen Hackebeilchen
und macht er Leberwurst aus
dir."
in textlicher Abwandlung eines
harmlosen Kinderreims ("Warte, warte nur ein Weilchen, Bald kommt auch
das Glück zu dir. Mit dem ersten blauen Veilchen Klopft es leis' an deine
Tür.") sprechen - unter Bezug auf den Kindermörder Haarmann -,
blickt Frau Widmann das Treppenhaus hinunter, das sich wie eine Spirale ins
Nichts zu ziehen scheint. Es ist leer. Keine Elsie zu sehen oder zu hören.
Die Gewissheit, dass Elsie dem unbekannten Mörder zum Opfer gefallen ist,
kommt sehr bald.
Fritz Lang ("Metropolis", 1927; "Das
Testament des Dr. Mabuse", 1933), der über die Verbrechen einiger Kindermörder
wie Haarmann oder Kürten (der als "Vampir von Düsseldorf"
schreckliche Publicity erlangt hatte) in der Zeitung gelesen hatte, ebenso übrigens
wie einen Pressebericht über Kriminelle, die auf eigene Faust einen solchen
Täter gesucht hatten, wendet sich mit "M" einer realistischen,
manchmal geradezu dokumentarisch akribischen Darstellung der Jagd auf einen
solchen Täter zu. "Ich wollte von solchen Monsterfilmen wie ,Metropolis'
oder ,Frau im Mond' wegkommen und einen intimeren, tiefergehenden Film machen",
äußerte Lang Jahre später in einem Interview.
Aber Lang wäre nicht Lang,
wenn er es bei einer solchen filmischen Schilderung belassen hätte. Durch
einen für die damalige Zeit erstaunlichen Einsatz von spärlich eingesetztem
Ton und einer spezifischen Schnittfolge spitzt Lang die Geschichte auf den Höhepunkt
der "Gerichtsverhandlung" am Schluss des Films zu.
Zunächst aber steht die Polizei
lange Zeit vor einem Rätsel über die Identität des Mörders.
Kommissar Lohmann (Otto Wernicke) steht unter dem Druck des Polizeipräsidenten
(Ernst Stahl-Nachbaur), der wiederum vom zuständigen Innenminister (Franz
Stein) bedrängt wird, endlich Ermittlungserfolge zu präsentieren.
Lang zeigt hier ein längeres Telefonat zwischen Minister und Polizeipräsident,
in dem letzterer erzählt, was die Polizei bislang alles unternommen hat,
um auf die Spur des Täters zu kommen. Dies zeigt Lang in verschiedenen
Szenen. Dann erfolgt etwas Erstaunliches: Lang präsentiert im Wechsel eine
Sitzung der Polizei und eine Besprechung zwischen den Bossen verschiedener Gangsterbanden
unter Leitung des sog. Schränkers (Gustav Gründgens). Beide Gruppen
überlegen, wie sie den Täter fassen können, die Gangster deshalb,
weil sie zum einen mit solchen Kindermördern nicht in einen Topf geworfen
werden wollen, zum anderen, weil ihre "Arbeit" durch die dauernden
Razzien der Polizei stark behindert wird.
Lang zeigt die Diskussionen in
beiden Gruppen und damit zugleich, wie sich die Überlegungen zwischen ihnen
ähneln, Gruppen, die ansonsten natürlicherweise gegeneinander arbeiten.
Obwohl beide Gruppen von der Arbeit der jeweils anderen nichts wissen, beginnen
parallel die Ermittlungsarbeiten der Gangster und der Polizei. Während
auf Vorschlag des Schränkers, eines Mannes, der wegen Totschlags in mehreren
Fällen gesucht wird, die Gangster die Bettler der Stadt systematisch in
verschiedenen Straßenzügen einsetzen wollen, um verdächtige
Personen zu ermitteln, beschäftigt sich auf Vorschlags Lohmann die Polizei
mit Akten aus psychiatrischen Anstalten über Patienten, die in den vergangenen
fünf Jahren als geheilt oder harmlos entlassen worden waren.
Und noch etwas wird in diesen
Anfangssequenzen mehr als deutlich: Lang zeigt, wie aufgebrachte Menschen zum
Mob werden, indem sie wahllos Männer verdächtigen, beschimpfen und
festhalten, die mit Kindern auf der Straße reden. In Gestalt von Kommissar
Lohmann lässt Lang verlauten, dass die Polizei auf das "Publikum"
bei den Ermittlungen nicht bauen könne: Entweder würden die Leute
nur andere verleumden und denunzieren, oder, wenn es darauf ankommt, wisse niemand
etwas oder könne sich nicht mehr erinnern. Man müsse schon auf den
eigenen Scharfsinn vertrauen.
Systematisch werden von der Polizei
alle Personen aufgesucht, die aus der Psychiatrie als harmlos oder geheilt entlassen
wurden, darunter auch ein gewisser Hans Beckert (Peter Lorre), ein unscheinbarer
Mann, in dessen Wohnung die Polizei aber zunächst nichts Belastendes findet.
Auf der anderen Seite kreisen die Bettler aufgrund eines Hinweises eines blinden
Luftballonverkäufers (Georg John) Beckert in einem Bürogebäude
ein, wo sich der in einem Verschlag auf dem Dachboden versteckt. Der Blinde
hatte das Lied wiedererkannt, das Beckert pfiff, als er der verschwundenen Elsie
einen Ballon gekauft hatte.
Inzwischen haben Lohmann und seine
Leute durch Spuren auf der Fensterbank in seiner Wohnung Beckert als vermeintlichen
Täter ausgemacht. Für Beckert wird es immer enger - bis ihn der als
Schutzmann verkleidete Schränker und seine Gangster im Bürogebäude
finden und in eine stillgelegte Schnapsfabrik schaffen, um ihm den "Prozess"
zu machen.
Lang setzte in "M" Ton
nur spärlich ein. Als Musik diente lediglich das einer Melodie aus der
Peer-Gynt-Suite von Grieg entnommene, gepfiffene Lied des Mörders Beckert.
In Straßenszenen - als die Bettler Beckert jagen - verzichtet Lang völlig
auf Geräusche. Berlin wird als eine zumeist düstere, ganz von der
Jagd bestimmte Kulisse präsentiert, in der es nur noch darum geht, einen
Mörder zu fangen. Während der unorganisierte Mob, der Unschuldige
verdächtigt, im Lauf der Handlung aus dem Blickfeld gerät, geraten
Gangster und Bettler ins Zentrum, die eine organisierte Form des Mobs darstellen
mit dem Ziel, Beckert zu fassen und zu ermorden.
Und dazwischen bewegt sich ein
Psychopath, der von dem damals noch unbekannten Peter Lorre derart überzeugend
gespielt wird, dass ihm diese Rolle zur internationalen Karriere verhelfen sollte.
(Lorre musste 1933 Deutschland verlassen und ging über Wien, Paris und
London schließlich in die USA.) Lorres Beckert ist gekennzeichnet einerseits
von Unscheinbarkeit, ja fast Harmlosigkeit, und dann wieder von einer in Mimik
und Gestik ausdrucksstarken Darstellung des Krankhaften, die kaum überboten
werden kann. In einer Szene steht er vor einem Geschäft und sieht ein Mädchen,
das sich im Schaufenster spiegelt. Beckert bricht hier innerlich zusammen, dem
inneren Zwang, diesem Mädchen zu folgen, ihm Süßigkeiten zu
kaufen, es dadurch zum Mitgehen zu bewegen, kann er nicht widerstehen. Äußerlich
bleibt er gefasst, ganz auf sein Ziel ausgerichtet, den nächsten Mord zu
begehen.
Dies Situation kulminiert nach seiner Festnahme durch die Bettler
und Gangster. Beckert wird einem Tribunal der Unterwelt vorgeführt. In
einem dunkeln Raum der ehemaligen Schnapsfabrik führt der Schränker
als "Vorsitzender Richter" die "Verhandlung", angefeuert
durch den organisierten Mob. Selbst ein "Verteidiger" (Rudolf Blümmer)
wird dem Mörder zur Seite gestellt. Und nun geschieht etwas, was so aktuell
ist, dass einem zeitgenössische Debatten und Auseinandersetzungen um Kindesmissbrauch
und -mord unweigerlich in den Sinn kommen. Während der Schränker den
Tod Beckerts mit unnachgiebiger Härte fordert, von den anwesenden Bettlern
und Gangstern in einer emotional aufgeheizten Atmosphäre unterstützt,
weil man nicht zulassen könne, dass ein solcher Mörder "den 51"
bekommt (Schuldunfähigkeit wegen Unzurechnungsfähigkeit, statt Gefängnis
oder Todesstrafe Psychiatrie), dann irgendwann als geheilt entlassen werde und
wieder Verbrechen begehe, versucht Beckert verzweifelt, in die Enge getrieben
und voller Angst, "sich zu erklären". Er könne sich gegen
den inneren Zwang nicht wehren, und wenn er wieder ein Mädchen umgebracht
habe, wisse er hinterher nicht mehr, was er getan habe. Es sei, als würde
er durch sich selbst ständig verfolgt. Er wolle nicht töten, er müsse.
Sein "Verteidiger" unterstützt Beckert, fordert wie dieser, keine
Lynchjustiz auszuüben und Beckert den Behörden auszuliefern. Wenn
es sich herausstelle, dass Beckert bei der Ausübung der Morde nicht zurechnungsfähig
gewesen sei, hätte niemand, auch der Staat nicht, das Recht, ihn zu töten.
Lang ist in seiner Inszenierung
in gewisser Hinsicht gnadenlos - denn "M" ist ein klares, uneingeschränktes
Plädoyer gegen Lynchjustiz und gegen den Einzug von Moral und Emotionen
in das Rechtssystem. In diesem Sinn war "M" in einer Zeit des Aufkommens
des Nationalsozialismus - auch wenn Lang dies vielleicht nicht geahnt oder zumindest
in seinen Ausmaßen nicht absehen konnte - auch eine klare filmische Stellungnahme
gegen diese Vermischung von Moral und Recht, die im NS-Rechtssystem ("gesundes
Volksempfinden", "Willensstrafrecht") weitgehend Einzug fand.
Der Film endet sozusagen mit einem klaren "Halt! Bis hierher und nicht
weiter!" Lohmann, der von einem Gangster erfahren hat, wo der Schränker
Beckert versteckt hält, dringt in die "Gerichtsverhandlung" ein
und nimmt Beckert fest, der vor ein ordentliches Gericht gestellt wird. Das
Urteil bleibt unbekannt. Die letzte Szene zeigt einige der weinenden und verzweifelten
Mütter, von denen eine sagt: "Davon [durch die Verurteilung] werden
unsere Kinder nicht wieder lebendig, man muss eben noch besser auf die Kinder
Acht geben."
Das "Fehlen", das Defizit
scheinen allmächtig. Das Brandzeichen "M" auf der Schulter des
Mörders, die Inquisition und die sich in Pöbelaktionen verkehrende
Hilf- und Ratlosigkeit lassen eine Gesellschaft aus den Fugen geraten. Eines
der abscheulichsten Verbrechen lässt eine Stadt, eine Großstadt,
ja die größte Stadt Deutschlands, Berlin, aus den Fugen geraten.
Harmlose Menschen werden zum Mob, Kriminelle und Bettler organisieren eine Verfolgungsjagd
mit dem Ziel, durch eine in jeder Hinsicht ungerechte "Verhandlung",
die nur als Makulatur für ein justizförmiges Verfahren da steht, ein
schon feststehendes Urteil zu vollstrecken. Gerade diese "Verhandlung"
erinnert an die blutigen Folgen der Inquisition. Eine Schein-Moral - geboren
aus Angst, Fassungslosigkeit und Schmerz - ersetzt das aufgeklärte Bewusstsein.
Die Polizei und die Politik (Minister) sind lange Zeit hilflos und machtlos
gegenüber dem, was geschehen ist und weiter geschieht. Nur der Bedächtigkeit
und Nüchternheit eines Kommissars, Lohmann, ist es zu verdanken, dass letztlich
ein Lynchmord verhindert wird.
Die Präzision und akribische
Genauigkeit in der Darstellung dieser Geschichte ist wohl auch dem Umstand zu
verdanken, dass der Produzent des Films, Seymor Nebenzahl (Nero-Film), Lang
weitgehende Freiheit bei der Umsetzung ließ. Der Film war schließlich
auch ein Risiko. Denn es war nicht gerade üblich, einen Film ohne irgendeine
Liebesgeschichte zu drehen und die Öffentlichkeit gleichzeitig mit einem
derart sensiblen und schwierigen Thema zu konfrontieren. Dementsprechend unterschiedlich
waren auch die Reaktionen. In der "Weltbühne" warf eine Kritikerin
Lang vor, der Film sei "ein hohes Lied auf die Asozialen, ein hohes Lied
auf die Gewalttätigen, Verbrecherromantik der schlimmsten Sorte" -
eine Meinung, die dem Film in keiner Weise gerecht wird. Andere lobten Lang
für seinen Mut. Und auch in den USA erfuhr der Film im wesentlichen
positive Bewertungen.
• D V D •
Wer den Film
- wenn auch ohne Bonusmaterial auf der DVD selbst - in einer glänzend restaurierten
Fassung sehen möchte, der greife zu der in der Reihe "Die großen
deutschen Filmklassiker" von DeAgostini herausgegebenen DVD. Diese DVD
enthält den Film in einer Länge von 117 Minuten. Der Film hat nun
statt der ursprünglichen 3.208 Meter Film immerhin 3.024 Meter. Fehlendes
Filmmaterial wurde aus verschiedenen Archiven gesammelt und der Film 2000 im
Nederlands Filmmuseum und dann nochmals für die deutsche DVD-Ausgabe 2002
restauriert. Die DeAgostini-DVD wird mit dem üblichen 16-seitigen Begleitheft
zum Film verkauft, das etliches Hintergrundmaterial und Bilder enthält.
Wertung: 10
von 10 Punkten.
Prädikat:
Besonders wertvoll.
Ulrich Behrens
Dieser Text
ist zuerst erschienen bei:
Zu diesem Film
gibt's im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken
M - Eine Stadt sucht einen Mörder
Deutschland 1931, 117 Minuten
Regie: Fritz Lang
Drehbuch: Thea von Harbou, Fritz Lang, auf Basis eines Zeitungsartikels
von Egon Jacobson
Musik: Thea von Harbou, gepfiffenes Motiv aus der "Peer-Gynt"-Suite
von Edvard Grieg
Kamera: Karl Vaß, Fritz Arno Wagner
Schnitt: Paul Falkenberg
Produktionsdesign: Emil Hasler, Karl Vollbrecht, Edgar G. Ulmer
Darsteller: Peter Lorre (Hans Beckert), Ellen Widmann (Frau Beckmann),
Inge Landgut (Elsie Beckmann), Otto Wernicke (Inspektor Karl Lohmann), Theodor
Loos (Inspektor Groeber), Gustav Gründgens (Schränker), Friedrich
Gnaß (Franz, der Einbrecher), Fritz Odemar (Der Betrüger), Paul Kemp
(Taschendieb mit sechs Uhren), Theo Lingen (Der Bauernfänger), Rudolf Blümmer
(Beckerts Verteidiger), Franz Stein (Minister), Ernst Stahl-Nachbaur (Polizeichef),
Georg John (blinder Luftballonverkäufer)
© Ulrich Behrens 2005
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