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Mein
kleines Kind
Eine
Frau bekommt ihr viertes Kind. Eine Hausgeburt. Familie, Freunde, Hebamme und
zwei Ärzte sind dabei. Eine Freundin lässt die Kamera laufen. Diese
Szene wird später Teil eines Dokumentarfilms sein. Wird im Kino und im
Fernsehen gezeigt werden. In einer Zeit, in der „Baby-Doku-Soaps“ auf allen
Privaten nur so boomen (während - und weil - die Geburtenrate es bekanntlich
ja noch zu wenig tut): „Schnulleralarm – Wir bekommen ein Baby“, „Hallo Baby“,
„Mein Baby“ oder „Wir machen ein Baby“ sind die freudigen Titel zum Thema „schönstes Erlebnis
im Leben“, ist ein Dokumentarfilm zum Thema Kinderkriegen ganz im Trend und
nichts Besonderes, sollte man meinen.
Der
Film „Mein kleines Kind“ von Katja Baumgarten ist kein besonderer Film, denn
er ist weit mehr als das. Katja Baumgarten ist auch nicht nur werdende Mutter,
sondern gelernte Hebamme und Filmemacherin, und die Freundin ist Gisela Tuchtenhagen,
eine versierte Kamerafrau. Sie und Katja Baumgarten zeigen, skizzieren, dokumentieren
- dabei immer die Waage zwischen Intimität und Diskretion haltend und trotz
aller notwendiger Nähe nie exhibitionistisch - wie Baumgarten selber in
der 21. Woche ihrer Schwangerschaft erfährt, dass ihr Kind so schwer behindert
ist, dass es nicht lebensfähig sein wird. Im Film berichtet Baumgarten
vom „Schlimmsten, was passieren konnte“, und von ihrer Unfähigkeit, dem
„neutralen“, gemeinhin üblichen, Angebot des Frauenarztes nachzugehen,
den Fötus im Uterus töten zu lassen und eine vorzeitige Geburt einzuleiten.
Sie zeigt die Ultraschallaufnahmen, anhand derer der Arzt einen schweren Herzfehler,
einen offenen Rücken, einen Wasserkopf, eine Schädigung namens Trisomie
erkannt hat, Aufnahmen, in denen sie selber nur das lebendige Wesen sieht, ihr
„kleines Kind“.
Baumgarten trägt
das Kind, einen kleinen Jungen, den sie Martin nennt, zuhause aus. Sie wird
später sagen: „Jede Hand, die ihn berührt hat, gehörte zu jemand,
der ihn geliebt hat.“ Sie hat vermieden, dass er ihr nach der Geburt weggenommen,
an Apparate angeschlossen, sofort operiert wird. Eine Medizin, die sich vorbehält,
einem kranken Fötus im Mutterleib das Leben nehmen zu können (über
neunzig Prozent der ratlosen Frauen in solcher Lage stimmen diesem Verfahren
zu), fühlt sich andererseits verpflichtet, das Leben natürlich ausgetragener,
todkranker Kinder mit allen Mitteln zu verlängern.
Zwei kaum zu vereinbarende
Sehweisen stehen sich gegenüber in diesem Film. Der Wert der Funktionalität
steht gegen den Wert des mütterlichen Instinktes. Alles, was eine Frau
im 5. Schwangerschaftsmonat will, ist das Kind in ihrem Leib zu beschützen.
Die Medizin hingegen geht rein rational vor, wenn sie in eben dieser Phase eine
Art „Unwirtschaftlichkeit“ des natürlichen Austragens attestiert, und sie
kann das letztlich nur tun, solange sie die Gefühle der Mutter vernachlässigt,
und indem sie den kleinen Mensch im Bauch der Mutter kurzerhand zu einem disfunktionalen
Gebilde, das die Bezeichnung „Mensch“ noch nicht verdient, erklärt.
Allein schon angesichts
der üblichen Praxis dieser vorzeitigen, aufgrund moderner pränataler
Diagnostik immer häufigeren, „Schwangerschaftsabbrüche“ ist der Film
„Mein kleines Kind“ von enormer Wichtigkeit, denn er artikuliert endlich einmal
den schrecklichen Konflikt, in dem sich jährlich allein in Deutschland
schätzungsweise bis zu 2000 Frauen befinden, aus der Perspektive einer
Betroffenen. Aber er wirft auch viel weiter, tiefer gehende Fragen auf: Fragen
nach unserem Verhältnis zum eigenen Sein, Fragen nach unserem menschlichen
Selbstverständnis.
Worin liegt der Wert eines
Menschen? Allein in seiner Leistungsfähigkeit, Gesundheit, Verwendbarkeit?
Man sollte meinen, ein paar Jahrhunderte Zivilisation incl. Religionen und Aufklärung
müssten mehr bewirkt haben, als eine Übertrumpfung der grausamen natürlichen
Selektion durch eine durch Menschen beschlossene, und daher unvergleichbar grausamere
„vernünftige“ Selektion. Was prägt unser Menschenbild? Warum werden
Alte, Kranke, Behinderte aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt? Beides, der Umgang
mit „nutzlosen“ Alten, wie der Umgang mit „nutzlosen“ Ungeborenen zeugt von
der grundlegenden Unfähigkeit, uns als vergängliche Kreaturen begreifen
zu können oder zu wollen, und es zeugt von der Ideologie unserer Zeit,
dass nicht der Mensch an sich wichtig ist, sondern immer nur seine produktive
Leistung und seine Leistungsfähigkeit. Der Wert des Menschen unserer Zeit
ist zunächst einmal der Wert seiner Arbeitskraft – Freizeit und Unterhaltung,
Fitness und Urlaub sind weniger für den Menschen an sich gemacht, sie dienen
eher der Erhaltung seiner Leistungsfähigkeit.
Die Zweckmäßigkeit
ist oberste Maxime in unserer Welt. Wir leben um zu funktionieren, um zu arbeiten,
den „Wohlstand“ zu vermehren. Das Ziel ist nicht eigentlich der Mensch, sondern
der Betrieb der großen Produktionsmaschine. Wir haben keine Zeit für
unsere Alten oder Behinderten, weil untätige, leistungsschwache Menschen
nicht so wichtig sind wie das Herstellen von Produkten, oder Menschen die das
tun. So machen wir uns selber zum Mittel zum Zweck, zu Produktionsfaktoren.
Wir sind
eigentlich
weniger, als dass wir produzieren. Wir können deshalb
nicht innehalten, um uns schauen, uns selbst wahrnehmen, im „Hier“ und im „Jetzt“
sein, weil wir keine Zeit dazu haben, weil wir immerfort meinen, Leistung vollbringen
zu müssen. Ein zweckfreies Existieren ist uns schlechterdings unheimlich,
weil es uns mit Fragen an uns selbst konfrontiert.
Wenn einmal jemand anhält,
dann sollten wir uns glücklich schätzen. Katja Baumgarten sitzt an
einem schönen Junitag in einem Park. Sie spürt den Konflikt zwischen
menschlicher Funktion und menschlichem Sein am eigenen Leib. Gegen alle „Unvernunft“
kann sie sich nicht von ihrem Kind trennen, so wenig wie von ihrem Gefühl
für ihr Kind. Ein tieftrauriger und ein ruhiger Pol ist sie hier im Grünen,
und im Hintergrund flitzen ab und zu Jogger, Inline-Skater, Radfahrer durchs
Bild.
Ihr Kind darf zur Welt kommen, darf nach wenigen Stunden in den Armen der Mutter sterben. In keinem Augenblick seines Lebens war es ein „Ding“ oder eine Ansammlung von Krankheits-Symptomen. Katja Baumgarten hat ihrem Kind buchstäblich ein Leben geschenkt, weil sie es hat nie zum Objekt werden lassen. Jeder, der Zeuge dieser im Film dokumentierten, so bewegenden Geschehnisse ist, wird sich auch beschenkt fühlen können, mit Leben, oder mit Liebe, in einer ziemlich lieblosen Welt.
Andreas
Thomas
Dieser
Text ist zuerst erschienen in der filmzentrale
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Kritiken
Mein
kleines Kind
Deutschland
2001
88 Minuten
Regie:
Katja Baumgarten
DV/DVcam -> 35mm Film
dt. OF
und dt. OF m. engl. Untertitel
FSK: freigegeben ab 12 Jahren
Kamera
und Ton: Gisela Tuchtenhagen
Zweite
Kamera, Filmerzählung, Montage: Katja Baumgarten
Tonmischung:
film.ton.werkstatt. Thomas Wolter
englische
Übersetzung: Alex Escher, Frank R. Suchy
Untertitelung:
HOLLAND-SUBTITLING, Leiderdorp (NL)
Eine
Produktion von Katja Baumgarten, hp: www.viktoria11.de
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