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Mein Onkel
„Er
ist ein wandelndes Wollen
und
Zögern, sein Sein ist Diskretion.
Aber
natürlich ist diese Leichtigkeit,
mit
der Monsieur Hulot die Welt
berührt,
genau die Ursache aller
Katastrophen,
denn sie folgt nie
den
Regeln des Anstands und der
sozialen
Wirklichkeit. Monsieur
Hulot
besitzt das Genie der
Ungelegenheit.
Das heißt aber nicht,
dass
er linkisch oder ungeschickt
wäre.
Er ist im Gegenteil die
Grazie
selbst, ein Traumwandler,
und
die Unordnung, die er verursacht,
ist
die der Zärtlichkeit und der Freiheit.”
(André
Bazin, frz. Filmkritiker)
Selten
ist in einem Film die Trennung der Welt in einen lebendigen, lebenslustigen
und einen „gereinigten”, sterilen, lustfeindlichen, rationalistischen Teil derart
schlagend und überzeugend in Szene gesetzt worden wie in „Mon Oncle”. Tati
spielt Hulot als Onkel des kleinen Gérard, dessen Eltern, Monsieur und
Madame Arpel (in grandioser Pose: Jean-Pierre Zola und Adrienne Servantie),
in einem supermodernen, vollautomatisierten Haus leben, in dem Sauberkeit und
Kälte, Ordnung und Monotonie die wichtigsten Rollen spielen. Ein wasserspeiender
Blechfisch wird nur bei „wichtigem” Besuch angestellt. Die Küchengeräte
verrichten alle Hausarbeit fast von alleine. Ein vollautomatisches Garagentor
hat die gleichen runden Bullaugen-Fenster wie das Schlafgemach der Arpels. Ein
efeuähnliches Gewächs rankt sich wie festgenagelt und in Form eines
Kerzenständers an einer Blechwand hoch. Der Garten des Hauses besteht aus
Beeten, in denen sich zumeist Steine und vereinzelt Zierbäumchen befinden.
Ein Weg schlängelt sich vom hermetisch verschlossenen Tor zum Haus. Keiner
darf diesen Weg verlassen.
Madame
Arpel, im grünen Morgenmantel, putzt und putzt und putzt ... auch das von
Monsieur gesteuerte Auto, wenn der mit Sohn des morgens das Haus verlässt.
Der Gatte arbeitet bei Plastac, einer Schlauchfabrik, die im Baustil sehr der
Wohnung der Arpels ähnelt.
Hulot
hingegen wohnt irgendwo anders, dort, wo die Welt noch in Ordnung, das heißt
eben nicht in vollständiger Ordnung zu sein scheint: in einem alten verwinkelten
Haus, in dem er, um zu seiner Dachwohnung zu kommen, erst einmal eine Treppe
hinauf und um verschiedene Ecken herum laufen muss. Hulot wohnt im kleinstädtischen
Milieu, das (im Film) durch eine verfallene Mauer und ein verrostetes Gitter
von der hypermodernen Welt seiner Schwester und seines Schwagers getrennt ist.
Der Hund der Arpels treibt sich tagsüber mit anderen Hunden im „alten”
Milieu herum, und abends bringen ihn seine Freunde nach Hause. Aber auch Hund
geht brav auf dem vorgeschriebenem Weg zum Haus.
Betritt
Hulot die Welt der Arpels, scheint er verloren. Aber Tati spielt Hulot – wie
immer – als einen Mann, der nicht aufgibt, sondern versucht, sich in einer fremden
Umgebung zurechtzufinden. Für Gérard ist sein Onkel die einzige
Verbindung zur Wärme der anderen Welt. Die Arpels jedoch beschließen,
dass Hulot eine feste Arbeit und die feste Hand einer Frau benötigt.
Zu den
Höhepunkten des Films zählt Hulots verzweifelter Versuch, in der Schlauchfabrik
sich den Gegebenheiten anzupassen. Dabei schläft er ein. Und kurze Zeit
später produziert er statt Schläuchen wurstähnliche Plastikschlangen.
Ein
anderer Höhepunkt: Madame Arpel lädt zur Gartenparty mit Monsieur
Pichard, einem Kollegen ihres Mannes, samt Frau, der eingebildeten Nachbarin
und einigen anderen Gästen. Die Nachbarin will Madame Arpel mit ihrem Bruder
verkuppeln. Doch der legt sie versehentlich statt des Hundes an die Leine, die
er an ihrem Ohrring befestigt. Jedenfalls endet die Party im Chaos und Madame
Arpel steht am Schluss entsetzt vor ihrem Haus: „Mon jardin” ist das einzige,
was sie noch herausbringt.
Trotz
modernster Technik, pseudomodernem Schnickschnack – wie etwa einem Sofa, auf
dem man nicht sitzen kann und das Hulot, praktisch wie er ist, eines Nachts
umdreht, um darauf schlafen zu können –, und ebenso pseudomodernem Getue
erweist sich diese Welt, die sich der Zeit weit voraus wähnt, als Reproduktion
des alten kleinbürgerlichen Miefs in anderem Gewand.
Schon
hier, noch stärker aber in „Playtime” erweist
sich Tatis Komik als Ausdruck einerseits eines Hin- und Hergerissenseins, andererseits
aber auch der Behauptung des modernen Individuums in einer tragikomischen Welt.
Selten hat ein Schauspieler und Regisseur diese Spannung zwischen Abhängigkeit
und Autonomie des Subjekts in derart plastischer und zugleich humorvoller Art
visualisiert, ohne dass die zweifellos vorhandenen Übertreibungen zur Unglaubwürdigkeit
führen würden.
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in der filmzentrale
Zu
diesem Film gibt es im archiv
der filmzentrale mehrere Kritiken
(Mon
oncle)
Frankreich
1958, 110 Minuten
Regie:
Jacques Tati
Drehbuch:
Jacques Lagrange, Jean L’Hôte, Jacques Tati
Musik:
Franck Barcellini, Alain Romans, Norbert Glanzberg
Director
of Photography: Jean Bourgoin
Schnitt:
Suzanne Baron
Produktionsdesign:
Henri Schmitt
Darsteller:
Jacques Tati (Monsieur Hulot), Jean-Pierre Zola (Monsieur Arpel), Adrienne Servantie
(Madame Arpel), Lucien Frégis (Monsieur Pichard), Betty Schneider (Betty),
Jean-François Martial (Walter), Dominique Marie (Nachbarin), Yvonne Arnaud
(Georgette, Dienstmädchen), Adelaide Danieli (Madame Pichard), Alain Bécourt
(Gerald Arpel)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0050706
©
Ulrich Behrens 2004
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