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Memento

Salamitaktik

Wer aus diesem Film kommt, ist geplättet. "Memento" erfordert 100 Prozent Konzentration. Der Zuschauer kriegt die Geschichte von Leonard rückwärts erzählt. Am Anfang wissen wir exakt so wenig wie die Hauptfigur Leonard, der sich fragt, wo er gerade ist; am Filmende jedoch sind wir klüger als er, denn er kann sich immer nur etwa die letzten fünf Minuten seiner Geschichte merken. Scheibchenweise rückwärts erfahren wir, warum er zu Filmbeginn (Plot-Ende) Teddy erschießt,- falls es unserer Kombinationsfähigkeit gelingt bis zum Filmende (Plot-Anfang) durchzuhalten ...

Die Welt des Leonard Shelby (Guy Pearce) zerfällt in viele kleine Teilchen, weil sein Langzeitgedächtnis nicht mehr funktioniert. Das bedeutet, dass er sich etwa alle fünf Minuten neu orientieren, neu definieren muss, aber weil er sich auf seine Krankheit "konditioniert" hat, kann er sich zumindest durchgängig merken, dass er sich nichts merken kann. Sein Gedächtnis ersetzt er durch "Mementos", Polaroidfotos von Personen und Orten, mit knappen Texten beschriftet, wie: "Teddy. Dont believe his lies." oder: "My hotel". Wichtigere Daten lässt er sich auf den Körper tätowieren, darunter den Merksatz "John G. raped and murdered my wife", dessen Ergänzung lautet: "Find him and kill him". Diese Botschaft des alten Leonard, der seine Frau (und gleichzeitig sein Gedächtnis) verlor, ist sein Erbe an den neuen Leonard, sein rudimentäres Überbleibsel, einen Fünf-Minuten-Menschen, dem, hätte er nicht diese Mission zu erfüllen, offenbar kein Lebensziel mehr bleiben würde. Stück für Stück erleben wir nun rückwärts mit, in welchen Kurzzeitgefängnissen Leonard immer aufs Neue erwacht, immer wieder rekonstruiert, wo er ist, mit wem er es zu tun hat und welche Erkenntnisse er versucht festzuhalten, damit er in der nächsten Etappe weiter vorwärts kommt auf der Suche nach dem Mörder. Ihm gemein haben wir die völlige Unwissenheit über das "Vorher", wir unterscheiden uns von ihm, weil wir das "Danach" kennen.

Geisterhaft bewegt sich Leonard durch seine Etappen. Einzig beseelt vom Rachegedanken knüpft er Kontakte zur Halbwelt, stellt er Nachforschungen an in schmierigen Bars und Hotels, kritzelt er hastig Notizen, bevor das Gedächtnis versagt, um dann wieder fast vorne anzufangen ...

Die Handlung von "Memento", eine angestrebte fragwürdige Rache an einem Mörder, ist nicht aufsehenerregend oder neu, in dieser Variante allerdings so neu wie unwahrscheinlich, da im Normalfall bewaffnete Menschen mit derartigen Hirndefekten sicherheitsverwahrt werden. Geben wir also aufgrund verminderter Plausibilität den B-Film- oder Film-Noir-Zuschlag. Auch über neurologische/psychische Erkrankungen gibt es ein paar Filme, selten oder nie zuvor aber konnte sich der Zuschauer so gut in eine Person mit einer Hirnerkrankung einfühlen wie hier. Das ist die unbestrittene Leistung von "Memento". Das Problem mit "Memento" ist nur, dass wir Leonard und sein verschachteltes Prinzip nach etwa der Hälfte des Films verstanden haben, dass wir aber weitere 60 Minuten dazu gezwungen sind, nicht nur die Leistung von Leonard (seine Quälerei) nachzuvollziehen und mit ihm zusammen alle fünf Minuten erneut Ordnung in sein Chaos zu bringen, sondern dass wir außerdem noch behalten müssen, was wir aus seinen späteren Erinnerungsphasen aufgeschnappt haben, um zu einer Art Gesamtergebnis zu gelangen. Das aber, bei aller Liebe, ist eine Tour de Force, deren sittlicher Nährwert, sitzt man endlich erschöpft vom Film beim wohlverdienten Bier, sich nicht wirklich erschließen will - oder habe ich da etwas vergessen?

6 von 10 Punkten

Andreas Thomas 

 

Diese Kritik ist zuerst erschienen bei: filmrezension.de

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 


Originaltitel: Memento (USA 2001); Darsteller: Carrie-Anne Moss, Joe Pantoliano, Guy Pearce; Regie: Christopher Nolan; Drehbuch: Christopher Nolan nach einer Kurzgeschichte seines Bruders Jonathan; Länge: 113 Minuten; FSK: ab 16 Jahre

 

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