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Memento
Grauenhafte Einsamkeit der Amnesie.
Wenn Leonard Shelby morgens in seinem Hotelzimmer aufwacht, kann er sich an
nichts mehr erinnern. Wie er dorthin gekommen ist. Ob das sein Zimmer ist. Und
warum seine Frau nicht neben ihm liegt. Jeden Morgen dieselben Gedankengänge.
Sein mentaler Rundum-Check zur Selbstvergewisserung. Cogito ergo sum? Für
Shelby zu einfach, es fehlt ihm die letzte Gewissheit einer relativierenden
Autorität. Und bedingungslose Subjektivität kann in seiner Situation
tödlich sein.
Einen Racheengel wie Leonard Shelby
hat das Kino noch nicht gesehen. In „Memento“, dem zweitem Film von Christopher
Nolan, rast er zielstrebig aber ohne Plan durch eine weitläufige Kulisse
geschichtsloser Urbanität. Diese Geschichtslosigkeit doppelt sich in der
Figur des „Lonesome Wolf“: Shelby hat nach einem Überfall auf sich und
seine Frau sein Kurzzeitgedächtnis verloren. Seine Frau starb an den Folgen
des Überfalls. Seit diesem traumatischen Ereignis löschen sich alle
neuen Erinnerungen innerhalb weniger Minuten unwiderruflich aus seinem Speicher.
Shelbys Welt ist in Puzzleteile zerfallen, die er mühevoll zusammenhalten
muss, um an das Bild des Mörders seiner Frau zu gelangen. Shelbys eigene
Bilder allerdings haben ihre Signifikanz verloren.
Die Einheit von Gegenständlichkeit
und Repräsentation ist in seinem verzerrten Wahrnehmungsmustern aufgehoben.
Diesen Zusammenhang muss er permanent neu herstellen – und doch bleibt es letztlich
immer nur Resultat einer gezielten Täuschung. Nolan hat einen effektvollen
aber genialen dramaturgischen Kniff gefunden, um Shelbys mentale Kondition in
eine angemessene narrative Form zu bringen. Da das flüchtige Gedächtnis
von Shelbys Bildern jeglichem Zeitgefüge entbunden ist, kann Nolan die
einzelnen Sequenzen in umgekehrter Reihenfolge montieren. Und so seinen Film
zurück zum Anfang erzählen – bis zu dem Punkt, an dem das Gedächtnis
seine Unschuld verlor. Nolan wirft die Kausalität der Ereignisse kurzerhand
über den Haufen. Der Zuschauer wird genauso hilflos wie Shelby durch das
schieflagige Zeitkontinuum getrieben. Ein klassischer Schizo-Effekt.
Funktionieren kann das für
den Zuschauer aber nur, weil Shelbys Handlungen längst nicht mehr das Resultat
logischer Schlüsse sind, sondern nur noch reflexhafter Übersprungshandlungen
- ausgelöst durch äußerst wacklige Indizien, die er selbst zusammengetragen
hat: Polaroids von Orten und Menschen. „Wer sind sie sie? Was wollen sie von
mir?“ Menschen wie Natalie und Teddy, die immer wieder seine Wege kreuzen, ohne
dass ihre Motive schlüssig werden. Oder Zettel mit gekritzelten Notizen.
„Kann ich ihnen trauen?“ Erinnerungen an seine Frau. „Wie kann ich mich daran
erinnern, dich zu vergessen?“ Liebe ist die einzige feste Größe in
Shelbys kognitivem Schwundzustand, weil Liebe schon immer da gewesen ist und
auf ewig unauslöschlich bleibt. Ein romantisches Ideal. „What’s your last memory?“ – „My wife...“ – „Oh, that’s sweet!“ – „...dying.“
Macht durch Wissen. Die Totalität
der unauflösbar ineinander verschränkten Wahrnehmungsparameter „Gegenständlichkeit“
und „Repräsentation“. Die Wissen um die komplexen Zusammenhänge dieser simplen Dialektik
schafft nach Innen das betäubende und gleichsam gefährliche Gefühl
von Gewissheit und nach Außen hin klare (Macht-)Verhältnisse. Nur
waren die Parameter, die solche Realitätskonzepte konstituieren, immer
schon variabel, Folge von kulturellen oder sozialen Umdeutungen über längere
Zeiträume. Das macht Shelbys Realität so angreifbar. Und Nolan lässt
den Zuschauer mit dessen derangierten Bildern allein. So wird für Shelby
die Erkenntnis der Konstruktion von Geschichte zum Albtraum eines pathologischen
Entfremdungsprozesses. Seine Bilder haben keine Geschichte mehr, darum sind
sie auch so beunruhigend.
Und weil auf sein Gedächtnis
kein Verlass mehr ist, hat Shelby seinen Körper in letzter Konsequenz in
ein Notizbuch verwandelt. Über seiner Brust prangt der tätowierte
Schriftzug „Er vergewaltigte deine Frau und töte sie.“ Nur zur Erinnerung.
Seine gesamten Recherchen hat er auf diese Weise dokumentiert, entrissen dem
Schwarzen Loch seines schuldbeladenen Unterbewusstseins. Eine Liste von Fakten
und Erinnerungsfragmenten, in die eigene Haut gebrannt: „Gehe nicht ans Telefon“.
Oder: „Erinnerung ist Verrat“. Shelbys Gedächtnis hat sich buchstäblich
in sein Körper eingeschrieben, gleichzeitig wird seine mentale Störung
in den Schriftzeichen mittelbar. Der Körper ist Text geworden.
Ein postmoderner Mythos ist mit
„Memento“ in das Sujet des „Film Noir“ eingebrochen, dem klassischen Genre des
Vergessens und Verdrängens. Es wird auch berichtet, dass „Memento“ der
neue Lieblingsfilm Slavoj Zizeks sei. Was nicht verwundert. Wer mit Lacan in
Hollywood auf Spurensuche geht, wird auch mit den Werkzeugen des Dekonstruktivismus
bei Chandler fündig. Aber die Pop-Philosophien liefern nur den bedeutsam
aufgeschäumten Subtext eines brillianten Vexierspiels.
Durch die Umkehrung der Chronologie
gelingt die Wiederherstellung von Shelbys Urzustands der Unschuld, der
seinen Rachefeldzug erst bedingt. Die Schuldfrage überlässt Nolan
der Aleatorik der Zeichen und Hinweise - die natürlich niemals zufällig
sind. Seine bewusstseinserweiternde Entschlüsselung einer „Matrix“-ähnlichen Realität
sorgt in „Memento“ für merkwürdig psychotronische Unschärfen
im Verhältnis von dem, was wir sehen, zu dem, was wir erkennen. Nolans
Beitrag zu Heisenbergs hundertstem Geburtstag.
Andreas
Busche
Dieser
Text ist zuerst erschienen in der: taz
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Memento
USA
2000 - Regie: Christopher Nolan - Darsteller: Guy Pearce, Carrie-Anne Moss,
Joe Pantoliano - FSK: ab 16 - Länge: 117 min. - Start: 13.12.2001
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