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Menschenkind
Es
ist eine ungeheure und ungeheuerliche Geschichte, die Toni Morrison aus der
Zeit der Sklaverei erzählt. Sethe war Sklavin auf der Plantage „Sweet Home",
bis ihr mit ihren Kindern die Flucht gelang. Am Fluß, der den Sklavenstaat
von der Freiheit trennt, bringt sie mit Hilfe einer weißen Herumtreiberin
ihre Tochter zur Welt, die sie Denver nennt. Nun lebt sie in Freiheit und bescheidenem
Glück mit ihren Kindern. Aber dann kommt ihr altböser Feind, der Schullehrer
mit seinem bewaffneten Mob, und Sethe muß etwas Furchtbares tun, um sich
und den Kindern den Weg zurück in die Sklaverei zu ersparen.
Jahre
sind vergangen. Sethe lebt allein mit Denver, die beiden Jungen hielten es in
dem Haus, das von allen anderen gemieden wird und in dem ein Geist spukt, nicht
mehr aus. Eines Tages kommt Paul D., auch einer, der Sweet Home überlebt
hat. Er findet Arbeit, und es scheint, als könnten die drei eine Familie
werden. Eine Familie, die sich bald um ein Mädchen erweitert, das nicht
richtig sprechen kann, unkontrollierte Bewegungen vollführt und nicht weiß,
wo es herkommt und wer es ist. Nur einen Namen kann sie für sich nennen:
„Menschenkind".
Paul
D. ist ein wenig skeptisch. Er, der doch am Anfang den Fluch von Sethes Haus
hat nehmen können, argwöhnt, daß sie etwas Böses verkörpert.
Er verliert seine Ruhe, und schließlich verführt sie ihn in einer
Nacht und wird schwanger. Ein Freund erzählt ihm kurz darauf die wahre
Geschichte von Sethe: Als sie damals von den weißen Männern gejagt
wurde, hat sie sich in eine Scheune eingeschlossen, bereit, ihre Kinder eher
zu töten als sie dem Herrn von Sweet Home zu überlassen. Das jüngste
Kind starb, die andern überlebten. Seitdem wollte niemand mehr etwas mit
der Kindsmörderin zu tun haben, und auch Paul D. kommt damit nicht zurecht.
Nachdem
er sie verlassen hat, erkennt Sethe in „Menschenkind" ihre Tochter, die
aus dem Reich der Toten zu ihr zurückgekehrt ist. Sie verliert ihre Stellung;
bald verfällt das Haus, während „Menschenkind", deren Bauch sichtbar
wächst, immer tyrannischer wird. Nach ihrer anfänglichen Freude über
die wiedergewonnene Tochter wird Sethe unter deren aggressiven Schüben
immer apathischer. Denver muß ihre Angst überwinden und das Haus
verlassen, um Nahrung zu beschaffen. Sie erhält Unterstützung und
schließlich auch eine Stellung in der Stadt. Die Frauen versammeln sich,
um gegen das Böse im Haus ihre Gesänge anzustimmen. Gleich darauf
verschwindet „Menschenkind"; Denver beginnt den langen schweren Weg in
die Selbstbestimmung, Paul D. kehrt zu Sethe zurück, um sie zu trösten.
Dieser
Stoff ist, vielleicht gerade weil er so wuchtig und visuell angelegt ist, beileibe
nicht einfach zu verfilmen. Es geht ja zugleich um ein Kapitel aus der Befreiung
von der Sklaverei, um die Emanzipationsgeschichte eines jungen schwarzen Mädchens,
eine traumatische Familiengeschichte und nicht zuletzt um eine Geistergeschichte.
Für alle diese Geschichten hat das Hollywood-Kino seine Erzählformen
gefunden, die allerdings untereinander nicht unbedingt kompatibel sind. So ist
der Realismus, mit dem die ökonomische, kulturelle und sexuelle Ausbeutung
der Afroamerikaner beschrieben wird, in gewisser Weise bedroht von den fantastischen
Geschehnissen. Und daß „Befreiung" kein linearer historischer Prozeß
ist, sondern eine Situation der Verletzungen und ihrer Wiederkehr bedeutet,
ist mit den Mitteln der Literatur so genau wiederzugeben, wie es das Kino vor
eine Reihe formaler Probleme stellt. Wie gelingt es, Eindeutigkeit zu vermeiden
und die Subjektivität des Empfindens zu produzieren?
Demme
behilft sich zunächst, indem er die Chronologie des Geschehens aufbricht.
Die wirklichen Geschehnisse werden erst langsam kenntlich, eher durch Indizien
und kürzere flashes
zurück als durch epische Rückblenden. Auch wenn Sethe die Geschichte
von Denvers
Geburt
erzählt - die längste Rückblende- ändert der Film seine
Einstellungen: die Grenzen zwischen der Wirklichkeit, der Erinnerung und dem
Traum sind aufgelöst. Befreiung: das heißt vor allem mit den seelischen
Deformationen fertigzuwerden, die man erlitt, und mehr noch, seine Wahrnehmungsfähigkeit
(zum Beispiel für die Liebe) wiederzugewinnen. Und es heißt, einen
Prozeß in Gang zu setzen, der kein erlösendes Ende kennt: die Befreiung
für Sethe etwa schließt die Erfahrung der Zerstörung und Selbstzerstörung
mit ein.
Demme
hat seinem Film nicht nur dramaturgisch eine eigene Struktur gegeben, die sich
von der Vorlage respektvoll entfernt. Es ist, als würden sich auch die
Bilder des Films mit den verschiedenen Stadien von Traum, Erinnerung und Befreiung
öffnen. Im ersten Teil sind wir, wie die Protagonisten (vor allem Denver),
an das Haus in der Bluestone Road gebannt. Nur die Erinnerung verläßt
diesen Ort, an dem die Arbeiter tagein, tagaus vorbeiziehen, ohne mit den Bewohnern
in Kontakt zu treten. Am Ende ist Denver in die Stadt gegangen, und wir sehen
das Haus durch ihre Augen von außen, wie etwas Vergangenes. Auch das Gefängnis
der Wahrnehmung ist verschwunden.
Dem
Film stehen für seine vernetzte Dramaturgie des Wechsels zwischen subjektivem
und objektivem Empfinden bemerkenswerte Schauspieler zur Verfügung. Die
als TV-Moderatorin berühmte Oprah Winfrey ist sehr genau in der Rolle der
Sethe, eine Frau, die sich selbst behaupten will, und die doch von den Gespenstern
der Vergangenheit gepeinigt wird, die junge Kimberly Elise als Denver verfügt
über großen Nuancenreichtum, Trotz, Sehnsucht, Angst und Mut: Von
allen Figuren muß sie die größten Widersprüche der Gefühle
durchleben. Und Danny Glover sieht sowieso aus, als wäre die Rolle des
Paul D. extra für ihn geschrieben. Die größte darstellerische
Herausforderung hat aber Thandie Newton in der Rolle von „Menschenkind"
zu bewältigen. Sie macht das mit größtmöglicher Empathie
und schauspielerischer Selbstentäußerung. Genau hier aber beginnt
das Problem.
Toni
Morrison läßt „Beloved", wie die Figur im Original heißt,
gleichsam in den Lücken der Beschreibungen, in den blinden Stellen der
Erinnerung erstehen, sie ist aus den Träumen verschiedener Menschen zusammengesetzt
und verschwindet auch immer wieder in einem Text, der selbst in den Träumen
zu forschen scheint. „Menschenkind" ist die Bruchstelle zwischen den Welten,
die Gestalt gewordene Sehnsucht und Anklage. So etwas aber kann man nicht spielen.
Thandie Newton bleibt nichts anderes übrig, als ihre Figur zwischen „Behinderung"
und „Unwirklichkeit" changieren zu lassen, sie mit möglichst vielen
Tempo- und Stimmungswechseln bis zum Schluß in Bewegung zu halten.
Demme
hat uns auf das Auftreten des Phantastischen geschickt vorbereitet, als er Paul
D. ins Haus von Sethe treten und bemerken läßt, daß es einen
Geist beherbergt. Nicht böse, sagt Sethe, nur traurig. Er schiebt diesen
Geist fast buchstäblich aus dem Haus, als er es zu toll treibt. Und dann
kommt „Menschenkind" in das Leben der gerade sich bildenden kleinen Gemeinschaft
und muß die Illusion zerstören, man könne ein Heim gegen die
Erinnerung errichten. Die Grenzen zwischen der Geschichte und dem Privatleben
sind nicht zu schließen, und so ist es auch folgerichtig, daß Demme
sich weder für das Epos noch für das Kammerspiel entscheidet, sondern
für etwas drittes. Eine Ästhetik des Eindringens und Ausschließens,
der Gefangenschaft und Befreiung. Eine Geschichtslektion, einerseits, und andererseits
ein Film, der die Seelen-Ikonographie von DAS SCHWEIGEN
DER LÄMMER
in ganz anderem Zusammenhang fortsetzt. Und radikal ist der Film auch insofern,
als er keinen „guten" Weißen, keinen Mythos der Versöhnung anbietet.
Die Befreiung hat erst begonnen, und die Vergangenheit ist nie vorbei.
Georg
Seeßlen
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Menschenkind
BELOVED
USA
1998. R: Jonathan Demme. B: Akosua Busia, Richard La Gravenese, Adam Brooks
(nach dem Roman von Toni Morrison). P: Edward Saxon, Jonathan Demme, Gary Goetzman,
Oprah Winfrey, Kate Forte. K: Tak Fujimoto. Sch: Carol Littleton, Andy Keir.
M:
Rachel Portman. T:
Willie D. Burton. A:
Kristi Zea, Tim Galvin. Ko:
Colleen Atwood. Sp:
Steve Rundell. Pg: Touchstone/ Harpo Films/Clinica Estetico. V: Buena Vista.
FBW:
besonders wertvoll. L:
172 Min. St: 15.4.1999. D: Oprah Winfrey (Sethe), Danny Glover (Paul D.l, Thandie
Newton (Menschenkind), Kimberly Elise (Denver), Beult Richards (Baby Suggs),
Lisa Gay Hamilton (Sethe, jung), Albert Hall (Stamp Paid), Irma P. Hall (Ella).
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