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The
Missing
Verschwimmende
Grenzen
Aussteiger
sind keine Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts; glaubt man dem Drehbuch von
The
Missing,
so gab es bereits im Wilden Westen Weisse, die auf der Suche nach einem natürlicheren
Leben die Lebensweise der Indianer übernahmen. Ein solcher Möchtegernindianer
ist Samuel Jones (Tommy Lee Jones), der zu Beginn des Films, nach zwanzig Jahren
Abwesenheit, seine Tochter Maggie (Cate Blanchett) besucht. Diese führt
mit ihren beiden Töchtern ein hartes Leben auf einer kleinen Ranch und
ist gar nicht begeistert, dass ihr Vater, nachdem er seine Familie einfach im
Stich gelassen hat, nun zurückkehrt.
Doch
schon bald werden die Dienste des Möchtegern-Rotbluts gebraucht: Maggies
älteste Tochter Lilly wird von Mädchenhändlern verschleppt. Die
Entführer sind Indianer, ehemalige Trapper eines Kavallerieregiments, die
unter der Anführung des dämonischen Hexers Pesh-Chidin desertiert
sind. Da die Behörden nicht bereit sind, die Bande dingfest zu machen,
beschliesst Maggie, selber die Verfolgung aufzunehmen. Doch dazu braucht sie
die Hilfe eines Fährtenlesers. So machen sich denn drei Generationen, Vater,
Tochter und Enkelin – die kleine Dot – auf, um Lilly zu retten.
Ron
Howard hat mit The
Missing
einen typischen Spätwestern gedreht. Wir schreiben das späte 19. Jahrhundert,
die Moderne klopft in Form von Telegraphie und Phonograph bereits laut an die
Türe; vorbei sind die romantischen Zeiten strahlender Pistolenhelden und
böser Wilder. Spätestens wenn gezeigt wird, dass die ach so heroische
Kavallerie hemmungslos plündert und die Indianer alles andere als gut behandelt,
verschwimmen die Grenzen zwischen zivilisiert und wild. Sind die kriminellen
Indianer nur das Produkt der rücksichtslosen Verdrängungspolitik des
weissen Mannes? Und was ist von einem Menschen wie Jones zu halten, der, um
ein naturnahes Leben zu führen, Frau und Kinder einfach sich selbst überlässt?
The
Missing
stellt die alten Westerm-Klischees gehörig auf den Kopf, macht es sich
dabei aber nicht so leicht wie seinerzeit Dances
with Wolfes,
der in simpler Umkehrung des alten Musters das Hohelied auf die Indianer sang
und die Weissen zu Barbaren machte. In Howards Film sind gut und böse keine
eindeutigen Kategorien mehr.
Dass
sich der Western nur noch als Anti-Western inszenieren lässt, ist keine
neue Erkenntnis. Im Grunde hat schon Sergio Leone dem Genre mit Once
Upon a Time in the West
den Todesstoss versetzt. In seiner Wildwest-Oper wurden die Klischees der Gattung
derart ausgiebig überhöht und stilisiert, dass es nachher eigentlich
nichts mehr zum Thema zu sagen gab. Und wem dieser Abgesang zu heroisch war,
der war spätestens mit Unforgiven,
der den Westen in Schlamm und Dreck versinken liess, zufriedengestellt. Howard
kommt mit seinem Film im Grunde Jahre zu spät. So ehrenvoll seine Absichten
sein mögen, sein Versuch der Neuschreibung des Westernmythos grenzt schon
fast an Leichenfledderei. Und in seinem eifrigen Bemühen, Verständnis
für beide Kulturen zu wecken, leistet sich der Film auch einige seltsame
Entgleisungen. So etwa, als Maggie von Pesh-Chidin mit einem bösen Zauber
belegt wird. Da kommt es dann zum interkulturellen Gottesdienst auf der Steppe:
Jones singt seine indianischen Gebete, Dot liest aus der Bibel, und mit vereinten
Kräfte und viel Liebe wird der Zauber gebannt. Das wirkt ziemlich grotesk
und nimmt den angeschnittenen Fragen auch einiges von ihrer Schärfe.
Ohnehin
nimmt die differenzierte Betrachtungsweise mit dem Fortlauf der Handlung immer
mehr ab. Besonders beim Bösewicht wird sehr dick aufgetragen, der Leibhaftige
selbst würde sich vor Pesh-Chidin fürchten. Je mehr die Handlung auf
Action setzt, desto holzschnittartiger wird der Film. Und bei der Musik hat
man sich völlig vergriffen: Der orchestrale Pomp, der im letzten Drittel
erklingt, würde gut zu Lord
of the Rings
passen, in einem Western wirkt er aber ziemlich deplaziert. Am Ende ist The
Missing
zu unausgegoren und auch zu harmlos, um wirklich interessant zu sein.
Simon
Spiegel
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
The
Missing
USA
2003 - Regie: Ron Howard - Darsteller: Tommy Lee Jones, Cate Blanchett, Evan
Rachel Wood, Jenna Boyd, Aaron Eckhart, Sergio Calderón, Eric Schweig,
Jay Tavare, Simon Baker, Val Kilmer, Steve Reevis, Ray McKinnon - FSK: ab 12
- Länge: 137 min. - Start: 12.2.2004
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