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Mit
aller Macht
Filme
über US-Präsidenten handeln von mächtigen Männern. Sie erzählen
von persönlichen Schicksalen (Nixon),
basteln am Mythos des Übermenschen (Der
junge Mr. Lincoln),
decken Korruption und Betrug auf (Die
Unbestechlichen),
entwickeln Verschwörungstheorien (JFK
- Tatort Dallas),
machen sich über diese Spielarten des Hollywood-Kinos lustig (Dave)
und nutzen den Glamour des hohen Amtes für menschelnd-sentimentale Liebesgeschichten
(Hallo,
Mr. President).
In der Ära Clinton durfte der zum Actionhelden mutierte erste Mann im Staate
höchstpersönlich die Welt (Independence
Day),
seine Familie und sich selbst (Air
Force One)
retten und wurde zugleich immer wieder mit Skandalen, Sex-Affären und Mord
in Verbindung gebracht (Wag
the Dog, Absolute Power, Mord im Weißen Haus).
Es geriet aber immer wieder auch das politische System selbst ins Zentrum des
Blicks, (Amistad,
Der
Kandidat,
Bob
Roberts),
doch selten handeln diese Filme von einem Dilemma, in dem der richtige Weg nicht
nur steinig, verbaut oder verboten ist, sondern schlichtweg niemals existiert
hat. Und noch seltener erzählt ein Hollywood-Film nicht nur von diesem
Dilemma, sondern wird selbst zu ihm und trägt selbst die Konsequenzen seines
Themas.
Mike
Nichols' neuer Film Mit
aller Macht
war lange vor dem US-Start ein nationales Politikum. Man wußte: Basierend
auf dem Bestseller gleichen Titels würde diese Satire die Ereignisse um
den Präsidentschaftswahlkampf 1992 verarbeiten. Affären, schmutzige
Tricks, herrische Ehefrauen, ein brisantes Amt und ein womanizer. Mike Nichols
(Wer
hat Angst vor Virginia Wolff?, The Bird Cage)
ist ein routinierter, hierzulande indes entschieden zu wenig beachteter Regisseur.
John Travolta sollte den Kandidaten spielen, Emma Thompson schien für das
Hillary-Äquivalent wie geschaffen. Zudem bestärkten gerade Nichols'
Beteuerungen, sein Film habe nichts mit dem amtierenden Präsidenten zu
tun, die Erwartungen auf deftige und brisante Einzelheiten.
John
Travolta also ist Bill Clinton und heißt Jack Stanton, der als Gouverneur
irgendeines Staates im Süden der USA mit Hilfe seiner so energischen wie
taktisch geschulten Frau Susan (Emma Thompson) auf dem Weg ist, der neue demokratische
Kandidat für die kommenden Präsidentschaftswahlen zu werden. Als Wahlkampfmanager
haben die Stantons den afroamerikanischen Lehrer Henry Burton (Adrian Lester)
vorgesehen. Seiner Hautfarbe und seines Namens wegen, denn Henry ist der Enkel
eines legendären schwarzen Bürgerrechtlers.
Bevor
wir jedoch in den Gang der Ereignisse eingeführt werden, liefert Mit
aller Macht
selbst ein entscheidendes Interpretationsinstrument. Nachdem sich vor den stars
and stripes der Titel abgezeichnet hat, beobachten wir in Zeitlupe und Großaufnahme
die Hände eines Mannes. Sie schütteln andere Hände, greifen an
Ellenbogen und Schultern, stellen Verbindungen her. Aus dem Off hören wir
die Analyse zweier Männer, ganz so, als ob es nicht um Jack Stanton, sondern
um einen Boxer ginge: "Wie er das mit der Rechten macht! Ich habe das bis
heute nicht ganz begriffen. Und die Linke erst, ich könnte dir eine Menge
über die Linke erzählen - wie er sie auf Hände und Schultern
legt, phantastisch."
Derart
auf die Inszenierung und Wirkung Jack Stantons vorbereitet, verfolgen wir alles
weitere. Wir sehen, wie der integre Henry Burton seine Hemmungen ablegt und
Teil des seltsamen Wahlkampfteams wird: "Ich will an etwas glauben. Ich
will an etwas teilhaben, das Geschichte machen wird. Dieser Typ mag die Menschen
wirklich." Wir bezeugen die Affären von Jack Stanton, seine schmierige,
verlogene Art, Menschen zu überzeugen und zu Tränen zu rühren,
durchschauen die billige Kampagne, erkennen die zentrale Rolle seiner Frau Susan,
die Politik macht, während Jack bei Bier und Rippchen amerikanische Volksweisen
singt. Und je mehr Henry selbst in diesem Gewühl von Provinzialität,
nationaler Bedeutung, Betrug, Liebe und Heuchelei aufgeht, desto schwerer wird
es, Abstand zu dem zu finden, auf dessen Funktionsweisen wir schon in der ersten
Szene des Films vorbereitet wurden.
Wir
sind dabei, wenn der Demokrat dank der brillanten Troubleshooterin Libby (Kathy
Bates) und des rabiaten Rednecks Ferguson (Billy Bob Thornton) eine angehängte
Affäre als Lüge entlarvt und langsam zum Spitzenkandidaten aufsteigt.
Welche Lügen und leere Versprechungen, rhetorische Kniffs und abgefeimte
Grabenkämpfe hier im einzelnen welche Rolle spielen, ist spannend zu beobachten,
letztlich aber fast unwichtig. Entscheidend ist eher, wie viel und doch zugleich
wie wenig Distanz Mit
aller Macht
zwischen uns und den Kandidaten legt. Wir durchschauen das Spiel, die Inszenierung
Jack Stantons, um im nächsten Augenblick dennoch auf irgendeine Weise gepackt
und von ihm berührt zu sein. Was genau den Bann bewirkt, ist schwer zu
sagen. Klar ist nur, daß es direkt mit dem einhergeht, was wir eindeutig
als Heuchelei, Schauspiel und Lüge erkennen können. Mit ähnlicher
Hilflosigkeit angesichts dieser dialektischen Figur hatten Begleiter wie Henry
und Libby stets auf "das Besondere" an Jack Stanton verwiesen.
Die
bezeichnendste Szene spielt sich direkt nach dem Selbstmord Libbys ab, die das
Spiel der Stantons und ihr skrupelloses Streben nach Macht nicht mehr ertragen
konnte. Am Sarg seiner alten Freundin zitiert Jack Stanton ehrlich und schamlos
zugleich aus ihrem Abschiedsbrief: "Ich bin so maßlos enttäuscht
von dir!" Die Wahrheit, die kurz vor der Wahl des Präsidentschaftskandidaten
durchaus seine Chancen schmälern könnte, wird einerseits von Stanton
selbst ohne Zwang ausgesprochen und seine Verbundenheit zu Libby dadurch für
Momente spürbar. Zugleich verkommt die Rede zur perfekten Wahlkampf-Show,
indem Stanton Libbys Enttäuschung als Aufforderung verkauft, "noch
besser" zu werden.
Die
Demarkationslinie zwischen Verachtung und Mitgefühl ist immer in Bewegung.
Und weil wir damit selbst ständig zwischen Verurteilung und emotionaler
Komplizenschaft stehen, kann Mit
aller Macht
uns das Dilemma eines Systems vorführen, innerhalb dessen ein Mann wie
Jack Stanton nicht die beste, sondern die einzige Wahl wird. Mit der gleichen
Präzision der ersten Szene führt Mike Nichols' Satire permanent die
Perfidie eines politischen Systems vor, dessen Regeln keine Gewinner im moralischen
Sinne kennen kann.
Genaugenommen
geht es in diesem Film weder um Bill Clinton, noch um dezidiert politische Entscheidungen
oder Skandale. Seine Stärke liegt darin, weit über die Oberfläche
des Phänomens "Weißes Haus" oder "Bill Clinton"
hinauszugehen. Mit
aller Macht
führt ein menschliches Prinzip vor, das uns aus der Kunst und speziell
dem Kino bestens bekannt ist. Von etwas berührt zu sein, obwohl (und gerade
weil) uns die Künstlichkeit und der inszenatorische Charakter dessen voll
bewußt ist, gehört nicht nur zu unserer Erfahrungswelt im Kino, sondern
hat grundsätzlich mit der Frage zu tun, wie wir für uns Glaubwürdigkeit,
also Realität herstellen. Davon handelt Mit
aller Macht
ebenso, wie er auch ein Film über die Fähigkeiten des Schauspielers
John Travolta ist.
Jan
Distelmeyer
Diese Kritik ist zuerst erschienen in: epd film
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