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Die
Mitte
Die
Mitte
ist der einzige Film, der es sich traut, mit einem bundesweiten Kinostart in
direkte Konkurrenz zum absehbaren Blockbuster The
Day after Tomorrow
zu treten. Allzuviel Mut braucht er dafür aber wohl nicht, denn das Zielpublikum
vom Dokumentarfilm Die
Mitte
sitzt vermutlich ohnehin nicht bei Popcorn und Cola im Weltuntergang. Von Europa
will Stanislaw Mucha erzählen, und macht sich auf die Suche nach der geographischen
Mitte - und findet zahlreiche davon. Von Bayern bis zur Ukraine finden sich
Dörfer, die einen Anspruch erheben, die Mitte zu sein. In fast allen steht
ein Gedenkstein. Alle Gedenksteine sehen gleich aus. Und die Bewohner beteuern,
ihre Mitte sei die richtige. Die Suche nach der Mitte und das Aufdecken der
erstaunlichen Ähnlichkeiten im Habitus der Mitte-Bewohner ist eine gute
Idee, aber leider trägt sie keinen ganzen Film. Ein schöner Kurzfilm
hätte aus Die
Mitte
werden können, aber nach dem fünften oder sechsten Dorf in Der
Mitte
beginnt man, deren Bewohnern mit Gleichgültigkeit zu begegnen. Sicherlich
ist das Näherbringen insbesondere der osteuropäischen Nachbarstaaten
ein lobenswertes Unterfangen, aber dass die Mitte Europas mit ihrer Erweiterung
sich alle paar Jahre ein wenig verschiebt, ist reichlich trivial.
Auch
Regisseur Mucha scheint zu merken, dass eine gute Idee manchmal keinen ganzen
Film füllen kann, und so schweift auch er mit der Zeit ab von seinem Konzept
und beschränkt sich weit gehend darauf, den Menschen zuzusehen: Die Kamera
steht dann etwa in einem Kiosk, beobachtet die Menschen, die ihre Tageszeitung
kaufen und sich dabei von der Kamera beobachtet fühlen. Klingt langweilig?
Ist es auch. Da wäre es fast besser gewesen, noch ein paar mehr Gasthöfe
zu sehen, die sich "Mitte Europas" nennen oder "Zur Mitte",
noch ein paar mehr Markierungen, die unter ausgestopften Rehen oder Gartenzwergen
die Mitte Europas markieren. Es gibt, so viel durchaus zugestanden, einige durchaus
gelungene Szenen: Wenn Mucha im fernen Osten Europas einen ganzen Hügel
voller Gedenkkreuze besteigt oder sich durch ein gigantisches Lager ausrangierter
Fernseher führen läßt, dann ist das vor allem visuell aufregend.
Nur entscheiden hätte er sich sollen, für einen Film: einen, der die
Mitte sucht, einen, der den Osten und
seine Menschen beobachtet, oder einen, der die grotesken Ansammlungen von Überresten
des Glaubens oder des Konsums und die traurigen Geschichten der Menschen erzählt.
Letzteres
wäre am interessantesten gewesen, und die Erzählungen von einer Familie,
deren Mitglieder sich allesamt früher oder später aufknüpften
aus wirtschaftlicher und ideeller Verzweiflung, die Trauer und Probleme jener,
deren Leben kaum eine Gemeinsamkeit mit den Menschen im Westen Europas aufweisen
mag, hätte man gern ausführlicher gesehen als in ein paar Sequenzen.
Im Kommunismus war sie gezwungen zu arbeiten, und man hatte ihr das Reisen verboten,
erzählt eine Frau, heute darf sie nicht arbeiten und kann nicht mehr reisen,
aus Armut.
Mucha
wandte sich von der Suche nach der Mitte ab, als die Idee zu dünn wurde,
von den Menschen wendet er sich ab, ohne dass man versteht, warum. Er geht zurück,
macht sich wieder auf seine sinnlose Suche, und wenn er am Ende des Films an
einem neuerlichen Gedenkstein zur Mitte ein paar Schweizer Touristen trifft,
fragt man sich, warum niemand früher auf die Idee kam: Ein GPS-Gerät
haben die Schweizer dabei, und der Mitte Europas wird sodann per Satellit auf
den Leib gerückt. Eine gute Idee, denn so hat die Suche ein Ende. Ein netter
Film hätte es sein können, wäre er kürzer in der Mitte geblieben
oder länger bei den Menschen, die etwas zu erzählen haben. So bleibt
ein unentschiedenes Pendeln zwischen den Welten, aber vielleicht ist es auch
diese unsichere Ziellosigkeit, die Mucha zeigen wollte: die Unsicherheit all
derer, die nicht wissen, wo sie das neue Europa hinführt.
Benjamin
Happel
Diese
Kritik wird zuerst erscheinen in:
Die
Mitte
Deutschland
2004 - Regie: Stanislaw Mucha - Darsteller: Pawel Bartoszewicz, Marc Baumgartner,
Ralf Buberti, Dariusz Blaszczyk, Michal Hirko, Raja Horodetska - Prädikat:
besonders wertvoll - FSK: ohne Altersbeschränkung - Länge: 86 min.
- Start: 27.5.2004
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