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Moderne Zeiten
"Modern
Times. A Story of
industry,
of individual enterprise -
humanity
crusading in the
pursuit of happiness."
"Moderne Zeiten" ist
sicherlich auch und vor allem eine Liebesgeschichte -wie fast alle Chaplin-Filme,
insbesondere aber "Lichter der Großstadt". Eine Love-Story, die sich so ganz von den postmodernen
Romanzen unterscheidet. Aber Chaplin wäre nicht Chaplin, wenn er es dabei
belassen hätte. Die vorsichtige, und dennoch intensive Liebesgeschichte
zwischen den erfolglosen Fabrikarbeiter und dem armen Mädchen Paulette
Goddard, dessen Vater bei einem Konflikt zwischen demonstrierenden Arbeitslosen
und Polizisten während der Weltwirtschaftskrise erschossen wird und deren
beide kleine Geschwister ins staatliche Waisenhaus transportiert werden, ist
eingebettet in eine der wohl schärfsten und zugleich mit der typischen
Chaplinschen Komik versehenen Kritiken des (damals) modernen Kapitalismus, die
man sich vorstellen kann.
Chaplin ist einmal mehr der "Loser",
der Ausgestoßene, aber nicht irgendein Verlierer, nicht einer, der vor
Selbstmitleid zerfließt, sondern einer, der das beste aus seinem ihm auferlegten
Schicksal zu machen versucht, einer, der nicht aufgibt, ein Stehaufmännchen,
der seine ganz besondere Art hat, gegen die Umstände der Zeit zu rebellieren.
Die Figur des Tramps katapultiert Chaplin hier aus der Zeit des Kapitalismus,
wie er seit dem 19. Jahrhundert herrschte, in den fordistischen Kapitalismus
der späten 20er Jahre. Der Tramp ist kein Aufsteiger, keiner, der aufsteigen
will, aber er ist einer, der letztlich siegt.
Schon in der Anfangssequenz in
der modernen Fabrik, in der (fast) alles automatisiert erscheint, macht Chaplin
überdeutlich, wen er im Visier hat: Henry Ford, den Erfinder der Fließbandarbeit,
und den Taylorismus (1), zusammen später als Fordismus (2) bezeichnet,
ein System der Industriearbeit, in der der einzelne zum wirklichen Rädchen
im Getriebe des Maschinensystems und deren Besitzer verkommt oder verkommen
soll. Menschenmassen drängen in die Fabrik wie eine Schafherde. Wenn man
aufmerksam hinsieht, erkennt man unter lauter weißen Schafen ein schwarzes,
das Chaplins Tramp symbolisiert.
Die Fabrik wird zur modernen
Schlachtbank. Ein über allem thronender Direktor überwacht, per Kamera,
den gesamten Ablauf - und doch zeichnet Chaplin selbst diesen Herrn als Menschen:
Der Direktor versucht sich an einem Puzzle, bevor er wieder zum Antreiber wird.
Der Tramp, der hier zum Rädchen zu verkommen droht, steht am Fließband,
um je zwei Muttern festzuziehen, und in der Pause bewegt sich unser Tramp noch
immer im Rhythmus des Arbeitsgangs am Fließband - bis er schließlich
über das Band in die Maschine hineingezogen wird.
Auch die sich unter dem Deckmantel
des Fortschritts verbergende Technikgläubigkeit erfährt bei Chaplin
harsche Kritik - am Beispiel einer Essmaschine, die dem Direktor von einer Fa.
Bellows angeboten wird und für deren Test unser Tramp als Versuchskaninchen
herhalten muss. Die Maschine soll Zeit sparen und würde die Fabrikarbeiter
selbst in den Zeiten, in denen sie ihren natürlichen Bedürfnissen
nachgehen wollen - also in Zeiten der Freiheit vom Fordismus - zu Anhängseln
der Maschine degradieren. Das Experiment geht schief, die Maschine fängt
an zu "spinnen" und das Versuchskaninchen muss fast Metallmuttern
schlucken, die ein Techniker beim Versuche, die Maschine zu reparieren, auf
dem Teller deponiert hat.
Doch es wäre verfehlt zu
meinen, der Tramp würde sich alldem bedingungslos unterwerfen. Er wird
"irre". Er schraubt an den Knöpfen am Kleid einer Sekretärin
herum, bringt alles durcheinander. Er zaubert aus der eintönigen Mechanik,
die das Fabriksystem beherrscht, ein Ballett, mit der Ölkanne in der Hand
- und wird schließlich in die Irrenanstalt überwiesen. Nicht die
Maschinen und das System des Fordismus sind irre, sondern derjenige, der sich
ihnen nicht unterwerfen kann und will.
Chaplins Weg aus dem Fordismus
ist eine Art individuelle Rebellion, aber keine individualistische. Wieder arbeitslos
geworden, wird er durch einen der vielen "dummen", prächtig und
komisch inszenierten Zufälle zum Anführer einer kommunistischen Demonstration,
und ein ebensolcher "dummer Zufall" - der unabsichtliche "Genuss"
von Rauschgift im Gefängnis - verschafft ihm die Gelegenheit, ein paar
Ausbrecher zu überwinden, wofür er vom Sheriff zur Belohnung wieder
freigelassen wird.
Auch hier verdeutlicht Chaplin
unverblümt ein Markenzeichen des Systems: Nur wer sich, und sei es zufällig,
"verdient" macht, wird belohnt. Chaplin "garniert" dieses
Strukturmerkmal mit einer guten Portion Komik, die allein es - wie die ganze
Geschichte des Films - erträglich machen kann. Der Tramp rebelliert - in
einer Mischung aus inszeniertem Zufall und individuellem Trotz gegen die Vereinnahmung
von Millionen.
Doch der zum Fabrikarbeiter respektive
Arbeitslosen degradierte Tramp ist, wie gesagt, nicht einer jener individualistischen
"Helden", die sich in blindem Egoismus ergehen. Als ihn das wunderschöne
Mädchen, die gerade ein Brot gestohlen hat (garniert mit der Zeitungsmeldung
"Pöbel stiehlt Brot"), bei der Flucht in die Arme fällt,
bekennt er sich statt ihrer des Diebstahls. Gerade in dieser Szene verdeutlicht
Chaplin seinen Helden als einen durchaus nicht nur menschenfreundlichen Zeitgenossen.
Denn auch wenn er von der jungen Frau sofort begeistert ist, hat er auch im
Sinn, wieder ins Gefängnis zu kommen - denn dort geht es ihm immer noch
besser, als wenn er als Arbeitsloser durch die Straßen ziehen müsste.
"Wir werden ein Zuhause
haben, selbst wenn ich dafür arbeiten muss", sagt er nach der Entlassung
aus dem Gefängnis zu Paulette Goddard - und fortan kämpfen beide gemeinsame
um ihre Position in einer fast aussichtslosen Lage. Auch die Szene im Kaufhaus,
in der der Tramp mit dem Empfehlungsschreiben des Sheriffs als Nachtwächter
einen Job bekommt, verdeutlicht dies. Endlich kann man sich einmal den Bauch
vollschlagen, Rollschuhfahren, das Leben, wenn auch nur eine Nacht lang, genießen.
Man lebt von einem Tag zum anderen.
Als Gegenbild zur Essmaschine
zeichnet Chaplin eine Szene, in der er als Assistent eines Mechanikers wieder
eingestellt wird, dieser durch die Zahnräder der Maschine getrieben wird
und stecken bleibt und der Tramp ihn füttert - zwar nicht unbedingt erfolgreich,
aber zutiefst solidarisch und menschlich.
Als die junge Frau - die sich
mit Tanzen auf der Straße ein paar Cent verdient - von einem Cafébesitzer
als Tänzerin eingestellt wird, bekommt auch unser Tramp eine Chance, zunächst
als Bedienung - das geht schief -, dann als Sänger, der, weil er die Manschette
beim Tanz verliert, auf den seine Liebste den Text des Liedes geschrieben hatte,
einen dem Italienischen ähnlichen Text erfindet, ein Kauderwelsch, mit
dem der Tramp zum ersten Mal Erfolg hat. Und in diesem Moment, in der die Chance
für beide, sich auf eigene Füße zu stellen, so groß erscheint,
will die Polizei die junge Frau, die als Landstreicherin gesucht wird, verhaften
Der Tramp wird wieder zum Tramp
- und die Schlussszene zeigt beide (im Unterschied zu anderen Chaplin-Filmen,
in denen der Tramp allein wieder loszieht), wie sie die Landstraße entlang
gehen.
Gerade in diesen Szenen des Traums
vom Glück, des Immer-wieder-auf-die-Beine-Kommens, des Nicht-Aufgebens
entpuppt sich Chaplin in seinen Filmen als jemand, der von einer tiefen, ja
man könnte sagen "abgrundtiefen" Menschlichkeit geprägt
ist - nicht etwa von jener Sorte Gutmenschentums, das die Postmoderne oftmals
prägt, nein. Bei Chaplin verbindet sich Solidarität gegenüber
anderen (hier der jungen Frau) mit dem individuellen Widerstand gegen etwas
Entfremdetes, Millionen Menschen Aufoktroyiertes - und mit einer fast schon
als natürlich erscheinenden Respektlosigkeit vor dem spezifischen privaten
Eigentum, das den Kapitalismus prägt (besonders deutlich zu sehen in der
Kaufhausszene), aber auch mit einer zwar nicht frontalen Kritik, aber dennoch
distanzierten Sicht auf den Kollektivismus (er gerät nur zufällig
in eine kommunistische Demonstration).
Dass für Chaplin einzig
die Kunst, der Film, das Kino die spezifische Rebellion gegen die Entfremdung
und das Elend seiner Zeit darstellen, wird nicht nur in "Moderne Zeiten"
sichtbar. Auch Kirche und Polizei bekommen klar zu spüren, was Chaplin
von ihnen hält (etwa in der Szene, als er der Frau des Kaplans im Büro
des Sheriffs gegenübersitzt).
Dass "Moderne Zeiten"
zu jenen wenigen Filmen gehört, die alle Zeiten zu überdauern scheinen,
liegt an seiner Grundaussage, die bis heute als aktuell gelten kann, wenn auch
unter veränderten Umständen modifiziert werden müsste. Es sind
jene Prozesse der Sozialdisziplinierung (3) in der Moderne, die der Historiker
Gerhard Oestreich vor etlichen Jahren beschrieben hat, die seit Beginn des Kapitalismus
wirken und in modifizierter Form noch immer wirken, die den Grundton von "Moderne
Zeiten" angeben. "Moderne Zeiten" ist daher im wahrsten Sinn
des Wortes ein moderner und anti-modernistischer Film zugleich.
Und der letzte große Stummfilm,
der gedreht wurde. Chaplins jahrelange Abneigung gegen den Tonfilm hinderte
ihn allerdings nicht darin, selbst in diesem Film gezielt Ton an einigen Stellen
einzusetzen - etwa in der Szene mit der Frau des Kaplans, als man während
des Teetrinkens die Geräusche des Magens zu hören bekommt. Oder in
der Caféhausszene, als Chaplin singt - damals eine faustdicke Überraschung.
Prägend für den Film ist auch die eindrückliche Verzahnung von
Tragik und Komik, vor allem wenn es Chaplin gelingt, die extreme Traurigkeit
der Geschichte in Komik aufzulösen, ohne dass die Tragik dabei verloren
ginge. Und last but not least prägt Chaplins Spiel selbst ein guter Schuss
Selbstironie, etwa bezüglich der zuweilen zu Tage tretenden Unbeholfenheit
des Tramps. Chaplins Tramp ist ein Held, aber kein postmoderner Held ohne Fehl
und Tadel (und ohne wirkliches Leben), sondern ein Held des Alltags - mit allen
Schwächen und Fehlern.
Man könnte sagen: "Moderne
Zeiten" ist für das fordistische Zeitalter, was Kubricks "2001:
A Space Odyssee" für die Postmoderne ist. So unterschiedlich beide
Filme in ihrer Konzeption, ihrer Inszenierung, ihrer Darstellung auch sein mögen,
so ähnlich sind sie doch in ihrer tiefgehenden und prinzipiellen zivilisationskritischen
Grundaussage. Dass "Try it again", das am Schluss von Kubricks Meisterwerk
durchscheint, stellt sich bei Chaplin dar als unverbrüchlicher Optimismus
des Tramps, der zum Fabrikarbeiter wurde, und wieder zum Tramp werden musste,
dem nur die Kunst, das Varieté, das Spielerische bleiben, um zu leben
und zu überleben. Try it again. Das Verlorensein, der Verlust, das Defizit
bekommen den Tramp nicht klein.
Ursprünglich hatte Chaplin
ein anderes Ende des Films im Auge. Die junge Frau sollte als Nonne im Kloster
"enden", der Tramp allein wieder fortziehen. Diese Szene wurde auch
gedreht - doch zum Glück entschied sich Chaplin für das Ende zu zweit:
Zwei Tramps ziehen, mit allem Mut, den sie haben, die Landstraße entlang.
Und vielleicht ist es auch der Liebe Chaplins zu Paulette Goddard (die er, im
Alter von 43 Jahren, mit 20 kennen und lieben lernte und mit der er zehn Jahre
zusammenlebte) zu verdanken, dass er diesen Schluss wählte - der übrigens
weder kitschig, noch romantizistisch daher kommt.
• D V D •
Wer sich selbst
oder jemand anderem ein schönes Geschenk machen will, greife zur Chaplin
Collection, die in zwei getrennt erwerbbaren Boxen zu erwerben ist. Eine der
beiden Collections enthält neben "Moderne Zeiten" noch Chaplins
"The Kid", "Lichter der Großstadt" und "Der Zirkus".
Die Collection enthält zu jedem Film umfangreiches Bonusmaterial auf zusätzlichen
DVDs. Die Filme wurden eigenes für diese Boxen durch die Cineteca Bologna
Bildrestauration digital abgetastet und bieten ein hervorragendes Filmvergnügen.
Zudem enthalten sie zu jedem Film ein 16 Seiten umfassendes Booklet mit zusätzlichen
Informationen.
Die Zusatz-DVD
zu "Moderne Zeiten" enthält u.a.
- "Chaplin
Today - Moderne Zeiten", eine 26 Minuten lange Dokumentation, in der die
Brüder und Regisseure Luc und Jean-Pierre Dardenne zur Bedeutung des Films
sprechen.
- David Robinson,
der wohl bedeutendste Biograph Chaplins, gibt eine Einführung in den historischen
und filmischen Kontext (6 Min.)
- In einem
5-Minuten-Featurette werden geschnittene Szenen gezeigt, u.a. das Nonsens-Lied
in der ursprünglichen Länge
- "Hinter
den Kulissen im Maschinenzeitalter" präsentiert einen von der US-Regierung
geförderten Lehrfilm, in der die Fließbandarbeit der 30er Jahre gefeiert
wird (42 Min.)
- "Symphony
in F", ein von Ford in Auftrag gegebener Musikfilm von 1940, der ebenfalls
die Fließbandarbeit feiert.
- Ausschnitte
aus Filmen der Chaplin-Reihe (23 Min.)
- 250 Fotos,
geschnittene Szenen und vorbereitende Skizzen; Filmplakate.
Für Chaplin-Freunde
ist diese Box sicherlich ein absolutes Muss.
Wertung
Film: 10 von 10 Punkten.
Prädikat:
Besonders wertvoll.
Wertung
DVD (Box): 10 von 10 Punkten.
Ulrich Behrens
Dieser Text
ist zuerst erschienen bei: www.follow-me-now.de
Zu „Moderne
Zeiten“ gibt’s im archiv mehrere Texte
ANMERKUNGEN:
(1) Zum Begriff Taylorismus vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Taylorismus
(2) Zum Begriff Fordismus vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Fordismus
(3) Zum Theorieansatz Sozialdisziplinierung vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialdisziplinierung
Für eine genauere Beschäftigung mit diesem Konzept
vgl.: U. Behrens: "Sozialdisziplinierung" als Konzeption der Frühneuzeitforschung
- Genese, Weiterentwicklung und Kritik, zu finden unter:
http://www.follow-me-now.de/Sozialdisziplinierung.pdf, Veröffentlicht
auch in: Historische Mitteilungen 12/1999, S. 35-68.
Moderne Zeiten
(Modern Times)
USA 1936, 87 Minuten (DVD: 83 Minuten)
Regie: Charles Chaplin
Drehbuch: Charles Chaplin
Musik: Charles Chaplin
Kamera: Ira H. Morgan, Roland Totheroh
Schnitt: Willard Nico
Darsteller: Charles Chaplin (Ein Fabrikarbeiter), Paulette Goddard
(Mädchen), Henry Bergman (Cafébesitzer), Stanley J. Sandford (Big
Bill, Arbeiter), Chester Conklin (Mechaniker), Hank Mann, Louis Natheaux (Einbrecher),
Stanley Blystone (Sheriff), Allan Garcia (Direktor), Sam Stein (Vorarbeiter),
Juana Sutton (Frau mit Knopfkleid), Jack Low, Walter James (Arbeiter), Dick
Alexander (Sträfling), Dr. Cecil Reynolds (Kaplan), Myra McKinney (Frau
des Kaplans), Lloyd Ingraham (Gefängnisdirektor)
© Ulrich Behrens 2005
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