zur
startseite
zum
archiv
Mother India
Wie schön, wenn einem nicht alles geschenkt wird:
Fremdelnde Anmerkungen zu Mehboob Khans dörflichem Bollywood-Nationalepos
"Mother India" (1957).
Die "westliche" (sprich: unsere) Aufnahme von Bollywood-Filmen
ist in der Regel bestimmt von einem Amüsement der Aneignung, das wahlweise
von den zärtlichen Gefühlen des Camp bis zur offen über beide
Ohren grinsenden Belustigung über das Exotisch-Exzentrische reicht. Tragik,
Klamauk, Song and Dance, alles wild vermischt und dargebracht in einem Repräsentationsmodus,
der das Innere der filmischen Welt nicht bruchlos zu beobachten versucht, sondern
sich stets exhibitionistisch nach außen, ans Publikum richtet, überdeutliches
Chargieren und theatrales frontal staging inklusive: Das erfüllt in uns ganz eigentümliche Bedürfnisse,
wir klopfen diesen Filmen kumpelhaft auf die Schulter, wie jenen überschwänglichen
Freunden, die in ihrer naiven Art liebenswert und peinlich zugleich sind. Keine
guilty pleasures, mit denen man sich ungern in der Öffentlichkeit sehen
lässt: Es weiß eh jeder über ihre Macken bescheid, man zwinkert
sich halt verstohlen zu, wenn sie wieder mal einen gar argen Anfall entgrenzter
Gefühligkeit kriegen. Wir durchschauen sie ganz und gar, sind wir uns sicher,
aber wir genießen ihre Gegenwart: Integration als latente Demütigung,
fraglos mit besten Absichten.
Da tut es richtig gut, einen Bollywood-Film zu sehen und sich
so richtig fremd zu fühlen, gerade, wenn es sich um ein Werk handelt, das
ein Haushaltsname indischer Popularkultur ist, wie The Wizard of Oz oder Star Wars für unsereins: Mother India, das ist einer der einflussreichsten und populärsten Hindi-Filme
überhaupt, oder - wie es die Tagline für den englischsprachigen Raum
will - "the Indian 'Gone with the Wind'". Die Überlebensgeschichte der Mutter Radha, die von
ihrer Hochzeit an über 40 Jahre überspannt, wirft, so habe ich mir
sagen lassen, allerlei allegorische Netze zu Indiens Mythenwelt und jüngerer
Geschichte aus und ist inzwischen selbst indischer Nationalmythos geworden.
(Der Film war nicht zuletzt ein Geschenk der Filmindustrie an die Republik Indien
zum 10-jährigen Unabhängigkeits-Jubiläum.)
Die duldsame, starke Radha (Nargis) zieht in einem kleinen Bauerndorf
ihre Söhne auf, muss das Verschwinden ihres Gatten verkraften und den Nachstellungen
des hinterlistigen Geldverleihers widerstehen. Es gibt schwere Arbeitsunfälle,
Kindstod, Dürre, Überschwemmung, einen pittoresken Großbrand
und hübsche, sehr "gemalte" Studio-Wolkenhimmel, gefährliche
Schlangen, niedliche Kinder, übermütigen Slapstick, großes Pathos,
Feste mit Massen-Tanzszenen, Gesang bei der Feldarbeit, Kapitalismuskritik satt
und eine Freudianische Inversion, auf die sogar das passionierte Muttersöhnchen
Hitchcock stolz gewesen wäre: Am Ende muss Radha eigenhändig ihren
rebellischen Sohn Birju (Sunil Dutt) aufhalten, als dieser das Kollektiv bedroht,
was in einer wirklich gruseligen Sterbeszene kulminiert. (Nargis und Co-Star
Sunil Dutt wurden übrigens während der Dreharbeiten ein Paar, was
ihre Mutter-Sohn-Beziehung im Film nicht gerade weniger neurotisch erscheinen
lässt.)
So weit, so Masala. Aber die bunte Gewürzmischung aus Schicksalsschwere
und eskapistischem Spaß verweigert sich der leichten Verdauung durch westliche
Augen. Mir zumindest hat dieser Film Arbeit abverlangt, und das keineswegs nur
wegen der handelsüblichen Länge von knappen drei Stunden. Dass das
Kommerzkino aus Mumbai unseren Sehgewohnheiten nicht entspricht, das bedeutet
nicht bloß die Verheißung eines exzessiven, regressiven, "puren"
Kinos, als das Bollywood in diesen Breiten gerne gefeiert und vermarktet wird.
Das ist auch eine Forderung (und eine Gelegenheit), sich (u.a.) mit Metaphern,
Wertprioritäten und nicht zuletzt Erzählrhythmen auseinander zu setzen,
die dem eigenen kulturellen Code fremd sind.
Mal ist die Handlung eigenartig zerdehnt, z.B. wenn Sorgenkind
Birju (den Sunil Dutt wie ein ständig zwischen Gutmütigkeit, boshaften
Momenten und Tobsucht schwankendes Gorillajunges anlegt) durch sein patzig-rebellische
Verhalten wieder und wieder Konflikte heraufbeschwört, ohne dass sich die
erzählte Situation ändern würde. (In einem Hollywood-Film würde
man ihn nach 20 Minuten aus dem Dorf jagen, oder seiner Mutter ein Ultimatum
stellen, auf jeden Fall HANDELN.) Dann wieder geht alles ganz schnell, kippen
Stimmungen urplötzlich in ihr Gegenteil um, bricht Melodramatik in burleske
Situationen aus und werden diese wiederum bedrohlich. Mit jenen Hypothesen zum
Fortgang der Handlung, die wir im klassischen Hollywoodkino eingeübt haben,
kommen wir hier nicht weit. Hinter uns keine psychologisierende Biographie der
Figuren (eine Radha vor der Hochzeit, mit der die Handlung einsetzt, scheint
es nie gegeben zu haben), und vorne weit und breit kein wirklich verlässliches
Ende in Sicht.
Nicht nur die erzählerische Ökonomie, auch die wiederkehrenden
Motive und Gefühle selbst bleiben eigenartig unbegehbar für ungeschulte
Augen, was nicht zuletzt an den starken hindu-mythologischen Bezügen der
Handlung liegen mag.
Das alles heißt freilich nicht, dass sich Mother India nicht lohnt, im Gegenteil. Eine ehrliche Auseinandersetzung
mit Selbstbildern einer fremden Kultur darf das Gefühl der Differenz nicht
verleugnen. Der Versuch, diese zu überwinden, bietet uns dafür ein
Reservoir der Bilder, Gefühle und Erfahrungen, das weit über die cheap thrills überkandidelter Song and Dance-Szenen hinausgeht. Sollte
jemand beispielsweise die eindrucksvollsten Bilder von Demütigung sammeln,
die die Filmgeschichte hergibt, dann wird er nicht auskommen ohne jene qualvolle
Szene, in der Raaj Kumar mit seinem Mund eine Haustür öffnet.
Joachim Schätz
Dieser Text ist zuerst erschienen bei:
Mother India
Indien 1957
OT: Bharat Mata (Hindi)
172 Minuten
Regie: Mehboob Khan
Drehbuch: Wajahat Mirza, S. Ali Raza
Genre: Drama / Musical
Darsteller:
Nargis: Radha
Sunil Dutt: Birju
Rajendra Kumar: Ramu
Raaj Kumar: Shamu (Radhas Mann)
Kanhaiyalal: Sukhilala Jilloo Maa
Kumkum: Champa Chanchal
Mukri: Shambu
Sheela Naik: Kamla Siddiqui
Sajid Khan: Young Birju
zur
startseite
zum
archiv