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Die
Mutter – The Mother
So
jung kommen wir nicht mehr zusammen
Roger
Michell erzählt im Film „Die Mutter“ von der skandalisierten Liebe einer
60-Jährigen zu einem jungen Mann
Ein
Paar karierte Filzpantoffeln, ordentlich hinter der Haustür aufgestellt:
eine Ikone des Spießertums. In Roger Michells Spielfilm „Die Mutter“ rücken
die Hausschuhe gleich zu Anfang in Großaufnahme ins Bild. Sie werden leer
bleiben. Dabei sollte es eigentlich nur der Abschied für einen ganz normalen
Familienbesuch werden, wo sich die Großeltern aus der Provinz für
ein paar Tage bei Kindern und Enkeln in der Hauptstadt einquartieren. Er (Peter
Vaughan) ist schon ein bisschen schwach im Kopf und in den Beinen. Doch sie
sorgt dafür, dass die Schuhe richtig geschnürt sind und nichts im
Koffer fehlt. Nach ihrer Ankunft in London werden die beiden mit Basilikumrisotto
im Kühlschrank und dem Handwerker allein gelassen. Doch abends hebt Großpapa
das Glas auf Kinder und Enkelkinder.
Kurz,
nachdem man sich auf ein langes Leben zugeprostet hat, stirbt Toots nach einem
Herzanfall in einer Londoner Klinik. Und allein mit Gummibäumen und Erinnerungen
hält die Witwe es in der heimischen Doppelhaushälfte nicht aus. Also
kehrt May zu Sohn Bobby (Steven Macintosh) und Schwiegertochter nach London
zurück. Die versuchen zwar, lässige Miene zum bösen Spiel zu
machen. Für ein Zimmerchen mit Verpflegung reicht es, doch einen eigenen
Platz gibt es für die rüstige alte Dame nicht. Tochter Paula (Cathryn
Bradshaw), die sich deutlich ärmlicher als allein erziehende Creative-Writing-Lehrerin
durchschlägt, ist zwar emotional zugewandter und kann die Großmutter
auch als Babysitterin gut brauchen. Doch sie hat eigene Konflikte mit der Mutter
auszutragen, die sie als Quelle ihrer quälenden Persönlichkeitsdefizite
sieht. Nur einer ist offensichtlich bereit, sich unbefangen auf die alte Frau
einzulassen: Darren, ein gescheiterter Ex-Studienkollege des Sohnes, der sich
jetzt mit Handwerksarbeiten sein Auskommen sichert und tagtäglich an einem
Wintergarten für dessen Notting-Hill-Eigenheim schraubt. Irgendwann kommen
sich May und Darren auch körperlich näher, problematisch nicht nur
wegen der Unterschiede in Alter und sozialem Stand, sondern auch, weil der –
außerdem verheiratete – Mann zugleich der Liebhaber von Tochter Paula
ist.
Dass
auch Frauen über sechzig sexuelle Gelüste empfinden, darf mittlerweile
nicht mehr als Geheimnis gelten. Dass sie sich mit Kerlen weit unter dem eigenem
Alter einlassen, gilt immer noch gerne als Skandal. Regisseur Roger Michell,
der zuletzt an Großproduktionen wie „Notting Hill“ und „Changing Lanes“
seine Handwerksroutine bewiesen hatte, inszeniert die ungleiche Affäre
mit einer anziehenden visuellen Flüchtigkeit, die sich gerne in Spiegelbildern
und Unschärfen verliert (Kamera: Alwin Küchler). Spiegelungen, zwischen
denen May (leidenschaftlich ernsthaft: Ann Reid) langsam zu sich selbst findet,
erstmals in ihrem Leben. Darren verwandelt sich dabei mit zunehmend schärfer
werdender Belichtung vom charmanten Loner mit Herz zu einem sexuellen Draufgänger,
der seiner eigenen Verlorenheit davonläuft. Eine auch sozial präzise
angelegte Figur, von Daniel Craig mit heftiger Glaubwürdigkeit zwischen
Sexyness und Schmuddelbart gespielt. Und auch der durchlaufende Mutter-Tochter-Konflikt
zwischen Paula und May trifft immer wieder die wunden Punkte zwischen töchterlichen
Verletzungen und mütterlicher Lebensrealität.
Dabei
kann die Personage des Films durchaus Anspruch darauf erheben, die entsprechenden
Milieus der aufstrebenden Londoner middle-classes repräsentativ zu vertreten.
Schließlich ist Drehbuchautor Hanif Kureishi (siehe Interview auf Seite
25) als scharfsinniger Chronist der aufkommenden Thatcher-Ära bekannt geworden.
Jetzt sind die damals erschrocken konstatierten Verwerfungen zum gesellschaftlichen
Seelennormalzustand geworden. Während Paula wenig hoffnungsvoll dem Durchbruch
als Autorin hinterherjagt, hetzt Bobby auf Handy-Abruf zu neuen Taten, Ehefrau
Helen hat gerade eine Luxus-Pullover-Boutique eröffnet. Der Zusammenbruch
dieses Geschäfts treibt die Geschichte zu ihrem bitter befreienden Ende.
Im
Vordergrund ist es ein anderer Auslöser. Die Kinder finden ein Skizzenbuch
der Großmutter, das neben Topfblumenporträts auch eindeutig Pornografisches
enthält. Eine billige Idee, um die Handlung zum Klimax voranzutreiben:
Auch die anderen größeren Schwächen dieses eigentlich sympathischen
Films gründen in dem Versuch, das vor uns ausgelegte Sittenbild durch allzu
konstruierte Plotwendungen und unnötig drastische Zuspitzungen handlungstreibend
zu verschärfen. Fruchtbarer wäre es gewesen, sich ganz auf die Kraft
der Figuren zu verlassen und bei der Milieuzeichnung noch ein bisschen zuzulegen.
Jetzt wird manche psychologische Nunancierung der Verzerrung durch die Wucht
der dramatischen Effekte geopfert. An der vorzüglichen Qualität der
Darsteller und der Darstellung ändert das nichts. Und allein schon wegen
Daniel Craig sollte man sich „The Mother“ unbedingt in der Originalfassung ansehen.
Silvia
Hallensleben
Diese
Kritik ist zuerst erschienen im:
Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Die
Mutter - The Mother
Großbritannien
2003 - Originaltitel: The Mother - Regie: Roger Michell - Darsteller: Anne Reid,
Peter Vaughan, Anna Wilson Jones, Daniel Craig, Danira Govich, Harry Michell,
Rosie Michell, Izabella Telezynska, Steven Mackintosh - FSK: ab 12 - Länge:
112 min. - Start: 9.10.2003
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