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My Brother Tom
It’s Raining Tom
Die ca. 15jährige Jessica (Jenna
Harrison) ist verträumt, lieb zu Igeln – und gut zu vögeln, denkt sich ihr
Lehrer und Nachbar, der dauernd um sie herumscharwenzelt und sie in die
Theater-AG locken will, um ihre Talente zu entfalten. Doch hat er nicht die
Rechnung mit dem igelköpfigen Tom (der talentierte Ben Whishaw, zu
zweifelhafter Bekanntheit gekommen durch seine Hauptrolle in „Das Parfum“) gemacht, der wie ein Mädchenwunder von
Bäumen fällt - und immer vor Jessicas Füße.
Tom ist ein beliebtes Ziel für
Molotov-Cocktails, mit denen ihn die wenig sensiblen Nachbarjungen von den
Bäumen holen wollen, er betrachtet die Welt gerne durch bunte Glassplitter und
er kennt einen geheimen Ort am Waldsee, wo Ente, Igel und Hase sich ein
Stelldichein geben und man sich gut bis auf die Knochen nassregnen lassen kann.
Ich wette, die Haupt- und
Hautdarsteller haben sich während der Dreharbeiten mindestens drei schwere
Lungenentzündungen eingefangen, denn nackt oder durchnässt liegen sie
nächtelang auf dem englischen Waldboden herum, der – Robin Hood wusste noch,
warum er immer so witterungsfreundlich bekleidet war – schon eher zu den
kühleren Europas zählt. Aber die Jugend von heute ahnt nichts mehr von
Vorkehrungen für den Aufenthalt in der freien Natur und ihr Regisseur Dom
Rotheroe will davon nichts ahnen, denn sonst müsste seine Naturmystik weniger
mystisch ausfallen.
Rotheroes Rechnung ist klar: „Im
guten Wald ist alles gut. In der bösen Welt ist alles böse. Der gute Wald ist
immer da“, sagen sich die zwei jungen Wilden, die sich in einer Mischung aus
Nehberg und Neandertal gebärden und in Höhle und Moos den Ballast einer
Zivilisation auswerfen - plakativ schreiend, bemüht sinnlich und ziemlich
undifferenziert -, den durchschnittlich belastenden Ballast einer netten
Zivilisation, mit netten Priestern, netten Eltern, netten Schwestern, netten
Lehrern: nett bis bis zur Vergewaltigung eben, welche, glaubt man dem Film,
eine pädagogische Standardmaßnahme ist.
Adoleszente Verwirrung und
Sensitivität, die ja doch so viel hergeben kann fürs Kino, schnurrt in „My
Brother Tom“ zur Formel zusammen: Wir misstrauen den Erwachsenen, weil sie uns
körperlich vergewaltigen. Von subtileren, z.B. sozialen, Gewalten will dieser
Film wenig wissen. Und dass ein Beichtpriester nicht eines autarken
Jugendlichen bester Freund sein wird, sollte zumindest das Fernsehen auch in
die entlegenere britische Provinz getragen haben, aber wahrscheinlich guckt
Jenna nie fern.
Die Kamera führte übrigens Robby
Müller, und die erinnert stark an den von ihm gefilmten „Breaking the Waves“, (den heimlichen Dogma-Film
# 1, also). Müller holt tatsächlich alles raus, was man so mit wilder,
kalkuliert unberechenbarer Kamera herausholen kann aus dem „Ich schmier dir den
Dreck der Natur in die Haut“-Stoff und demonstriert dabei noch einmal, wie unangenehm
suggestiv der Dogma-Stil doch eigentlich immer gewesen ist. Dabei fällt auf,
dass (spätestens heute, 2006) die Zeiten der Wackelkamera wohl endgültig vorbei
sind.
„My
Brother Tom“ ist eine Art positives „Blair
Witch Project“. Der Wald, der dort ja (unterschwellig) eigentlich die größte
Angst einflößte, ist hier Angst lösend und befreiend. „Blair Witch Project“
nutzte die Verunsicherung der am TV und Computer aufgewachsenen Kids für den
Thrill, „My Brother Tom“ baut auf dieselbe Unkenntnis, um die Mär vom „guten“
Wald zu erzählen. Doch was können Forste dafür, wenn sie immer missverstanden
werden?
Vielleicht aber ist das nur nicht
mein Film. Vielleicht ist „My Brother Tom“ ein Film für Mädchen, die sich mit
Dreizehn ein Pferd gewünscht haben, aber nie eins gekriegt haben.
Andreas Thomas
My Brother Tom
Großbritannien 2001 - Regie:
Dom Rotheroe - Darsteller: Jenna Harrison, Ben Whishaw, Honeysuckle Weeks,
Michael Erskine, Adrian Rawlins, Judith Scott, Richard Hope, Jonathan Hackett -
FSK: ab 16 - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 110 min. - Start: 10.10.2002
Auf DVD seit September 2006,
erhältlich bei: Good!Movies
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