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Mystery Train
"Train
I ride, sixteen coaches long
Train
I ride, sixteen coaches long
Well
that long black train
got
my baby and gone." (1)
Durch das Fenster eines Zuges
öffnet sich der Blick auf ein Memphis der Artefakte: verfallene Kleinfabriken,
Häuser, die Abfälle der Zivilisation, auf scheinbar unbewohnte Häuschen,
die blau und rot gestrichen sind. Memphis, Tennessee, ein verlassener Ort, ein
Ort der Vergangenheit. Melancholisch, fast romantisch wirkt der Blick Jarmuschs
auf ein Amerika der Gegenwart, das er in der Vergangenheit verortet. Robby Müllers
Kamera schwenkt langsam durch die verlassenen Straßen von Memphis, dem
Ort des Blues und dem Ort einer Legende: Elvis Presley.
Ein junges japanisches Pärchen,
Jun und Mitsuko kommen mit dem Zug an, einen großen roten Koffer tragen
sie zusammen mit einem Stock. Die junge Frau wirkt agil, gespannt, ihr Freund
hingegen macht ein ernstes Gesicht, ist ruhig, redet nur, wenn Mitsuko ihn etwas
fragt, Jun scheint aber nur depressiv. Mitsuko will nach Graceland, um Elvis
wieder zu begegnen - in Bildern und anderen Erinnerungsstücken. Jun steht
nicht auf Elvis. Er hält Carl Perkins für den großen Star von
Memphis. Beide besuchen das Sun Studio, in dem die Größen des Blues
ihre berühmten Songs aufnahmen. Doch die Führerin prasselt ihren eingeübten
Text herunter, so dass die beiden nur wenig mitbekommen. Im Radio ertönen
die Lieder des Blues (angekündigt übrigens von Tom Waits). Das Verfallene
der Stadt korrespondiert mit den Erinnerungen an die Stars, vor allem Elvis.
Jun und Mitsuko streiten, aber leise. Sie küssen sich. Sie sind glücklich,
"Weit weg von Yokohama" (wie diese erste Episode des Films heißt),
ihrer Heimatstadt. Sie streifen durch die Straßen, bis es dunkel wird
und beide in einem verfallen Hotel für 22 Dollar die Nacht eine Bleibe
finden. An der Rezeption sitzen der ganz in rot gekleidete alte Nachtportier
(Screamin' Jay Hawkins) und der junge Hotelboy (Cinqué Lee), der zumeist
vor Müdigkeit einnickt. Mitsuko versucht, durch Grimmassen Jun zum Lachen
zu bringen - vergeblich, doch Jun behauptet, er sei glücklich. Die beiden
schlafen miteinander - und mitten in der Nacht, irgendwann nach 2 Uhr ertönt
Elvis "Blue Moon" aus dem Radio.
Am Morgen, als sie das Zimmer
gerade verlassen wollen, ertönt ein Schuss.
"Train
train, comin' 'round,
'round
the bend
Train
train, comin' 'round the bend
Well
it took my baby,
but
it never will again (no, not again)." (1)
Auch die zweite der drei Episoden
("Ein Geist") des Films kreist um das Hotel, den Elvis-Song und den
Schuss am Morgen. Die Italienerin Luisa (Nicoletta Braschi) will ihren verstorbenen
Mann nach Rom bringen. Doch das Flugzeug kann nicht starten, so dass sie eine
Nacht in Memphis verbringen muss. Ein Zeitungsverkäufer (Sy Richardson)
dreht ihr ein halbes Dutzend Zeitschriften an, in einem Restaurant erzählt
ihr ein Mann (Tom Noonan), er habe vor genau einem Jahr den Kamm von Elvis bekommen,
den er nun - wie von Elvis vorausgesagt - einer Italienerin verkaufen würde.
Luisa gibt ihm 20 Dollar für den Kamm und, um ihn los zu werden. Auch sie
verbringt die Nacht in dem besagten Hotel und teilt sich das Zimmer mit Dee
Dee (Elizabeth Bracco), einer redseligen jungen Frau, die sich gerade von ihrem
Freund Johnny (Joe Strummer) getrennt hat und nach Natchez zu einer Freundin
fahren will, um alles hinter sich zu lassen. Dee Dee kann nur schlafen, wenn
es nicht still ist, und so ertönt aus dem Radio Elvis "Blue Moon",
während Luisa der Geist von Elvis erscheint.
Al die beiden morgens das Zimmer
verlassen, hören auch sie den Schuss.
Johnny hat seine Arbeit verloren
und eine Pistole in der Tasche, mit der er herum fuchtelt. Sein Kollege Ed ruft
den Bruder von Dee Dee, den Friseur Charly (Steve Buscemi) an, damit der und
ein Freund namens Will (Rick Aviles) Johnny zur Vernunft bringen. Gemeinsam
fahren sie durch Memphis, gehen in einen Schnapsladen - da schießt Johnny
auf den Mann hinter dem Tresen. Die drei flüchten, fahren die halbe Nacht
durch Memphis, bis sie ebenfalls im besagten Hotel untertauchen. Die Polizei
sucht bereits nach ihnen. Sie saufen die zwei Literflaschen fast leer, die
sie im Schnapsladen haben mitgehen lassen. Am Morgen kann Charlie Johnny gerade
noch daran hindern, sich in den Kopf zu schießen. Beim Handgemenge löst
sich ein Schuss, der Charlie im Bein trifft.
Jun und Mitsuko reisen mit dem
Zug weiter.
Luisa besteigt in letzter Minute
das Flugzeug nach Rom.
Charlie, Will und Johnny verlassen
mit dem Auto Memphis, um in einem anderen Bundesstaat einen Arzt für Charlie
zu suchen - "Verloren im All" (so der Titel der dritten Episode).
"Train
train, comin' down,
down
the line
Train
train, comin' down the line
Well
it's bringin' my baby,
'cause
she's mine all, all mine
(She's
mine, all, all mine)." (1)
Und obwohl damit die Geschichte
des Films erzählt ist, ist sie dennoch nur in ihrem äußeren
Gerüst wiedergegeben. Denn "Mystery Train" ist einer jener Filme,
von denen es richtig ist zu behaupten, dass eigentlich nur die Bilder sprechen.
Selbst wenn man sich die (teilweise spärlichen) Dialoge nicht anhören
würde, verdeutlichen die Bilder der Stadt und der wenigen Menschen, auf
die wir treffen, doch ausschließlich - unterstützt von der Musik
- die Atmosphäre eines fast nostalgischen Blicks Jarmuschs auf ein Amerika
der Vergangenheit, dass doch umso aktueller und gegenwärtiger ist. Jarmusch
zeigt - das mag paradox klingen - die Menschen, die dieses Amerika wirklich
ausmachen. Es ist nicht das Amerika der Politiker, der Wirtschaft, der Medien,
Hollywoods usw. Andererseits, und obwohl nichts davon zu sehen ist, scheint
dieses Mächtige Amerikas durch alles hindurch: durch den Verfall und die
Menschen, die wir sehen, durch das Hotel, das irgendeinem Weißen gehört,
der in jedem Zimmer Elvis-Portraits aufhängen ließ, durch die einsamen
Straßen usw. Der Geist Elvis und damit der nostalgische Blick auf einen
jener hoch geputschten medialen Stars ist allgegenwärtig für alle,
die durch den Film geistern - selbst für Johnny, den alle Elvis nennen,
was er nicht mag.
Für Jarmusch scheinen all
diese Ausgestoßenen, Randfiguren und Ausländer, wie die beiden jungen
Japaner und die italienische Witwe, die Hotelangestellten, der Zeitungsverkäufer
die wirklich Handelnden in diesem Amerika zu sein. Aber dieser Schein trügt
auch. Die Verlorenen in diesem Universum, denen der Geist von Elvis erscheint
oder nachgeht, weit weg von ihrer inneren oder äußeren Heimat, sind
fremdbestimmt und eigenbestimmt in einer widersprüchlichen Weise. Überhaupt
scheint Jarmuschs Heimatverständnis, wenn man denn davon sprechen kann,
ein zutiefst gespaltenes zu sein. Alle - Jun, Mitsuko, Luisa, Dee Dee, Johnny
usw. - sind auf einer mysteriösen Suche nach ihrer inneren Heimat, obwohl
sie doch scheinbar in Memphis heimatlich verortet zu sein scheinen - selbst
zum Teil das junge japanische Paar, etwa wenn Jun behauptet, Yokohama sei wie
Memphis, man müsse sich in der japanischen Stadt nur einige Häuser
wegdenken, wenn er dann später genau dieses Gefühl wieder verneint,
während Mitsuko jetzt genau dies empfindet. Das erinnert an Jarmuschs "Night
on Earth", in dessen einer Episode Helmut, der deutsche Taxifahrer aus
der DDR verzweifelt, aber auch unbeirrbar versucht, in New York als Taxifahrer
zurecht zu kommen - und eine kurze Freundschaft mit einem Kunden schließt.
Auch in "Mystery Train"
ist das notwendig gebrochene Heimatgefühl durchströmt von Liebe (bei
den beiden jungen Japanern in einer der wunderbarsten Szenen des Films), Solidarität
(zwischen Johnny, Charlie und Will) und Zuversicht (Luisa und Dee Dee). Jarmusch
löst das Mysteriöse der Geschichte in Schicksalhaftes, Verwobenes,
die drei Episoden Verbindendes auf. Aber das Mysteriöse bleibt trotzdem
stets in Spuren vorhanden. Man könnte auch sagen, dass das Geheimnisvolle
durch die invisible hand der gesellschaftlichen Konstruktion, der alle unterliegen,
erzeugt wurde bzw. wird. Aber auch das erklärt nicht alles. Warum auch?
Es geht ja gerade nicht um eine restlose Erklärung des Geschehens, sondern
um einen eigenen Blick auf das Amerika der Gegenwart und seine Geschichte. Oder
anders formuliert: um das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremden im Verhalten
der Beteiligten. Was an ihrem Verhalten ist genuin eigen, also Ausdruck von
Eigensinn und Eigenhaben, um mit Alexander Kluge und Oskar Negt zu sprechen,
was fremdbestimmt. Wenn Johnny aus Verzweiflung über den Verlust seiner
Arbeit in einer ungerichteten Art zur Waffe greift, die er zuletzt gegen sich
selbst wenden will, so scheint der Ausgangspunkt so klar wie das Ende unbestimmt.
Er und die beiden anderen verlassen Memphis. Was aus ihnen wird, ist wiederum
doppelt bestimmt oder müsste jedenfalls doppelt bestimmbar sein. Jun und
Mitsuko sind ihren nostalgischen und damit identitätsstiftenden Mysterien
(Elvis und Perkins) nachgegangen. Sie verlassen Memphis in einem anderen Bewusstsein,
auch wenn dessen genauere Bestimmung offen bleibt. Luisa hat den Geist Elvis
gesehen, einen, der selbst nicht weiß, warum er ihr erschienen ist.
In uns allen lebt Elvis (oder
welches medial zurecht geschneidertes Mysterium auch immer), aber wie: wer bestimmt
darüber? Das Mysterium, die postmoderne Legende selbst scheinen ein jedenfalls
nicht nur von mächtigen Institutionen definierbares Etwas. Und so verhält
es sich ganz offenbar auch mit der Geschichte, mit Amerika - und hier findet sich
das Substrat des Films und auch die tiefe Sympathie Jarmuschs für seine
Protagonisten.
Wertung: 10 von 10 Punkten.
Ulrich Behrens
Dieser Text
ist zuerst erschienen in:
(1)
"Mystery Train" (Text und Musik: Doc Pomus, Mort Shuman).
Mystery
Train
(Mystery
Train)
USA
1989, 113 Minuten (DVD: 106 Minuten)
Regie:
Jim Jarmusch
Drehbuch:
Jim Jarmusch
Musik:
John Lurie, sowie Naomi Neville, Roy Orbison, Sam Philips, Richard Rodgers
Kamera:
Robby Müller
Schnitt:
Melody London
Darsteller: Masatoshi Nagase (Jun), Youki Kudoh (Mitsuko), Screamin' Jay Hawkins (Nachtportier), Cinqué Lee (Hotelboy), Nicoletta Braschi (Luisa), Elizabeth Bracco (Dee Dee), Sy Richardson (Zeitungsverkäufer), Tom Noonan (Mann in Café), Stephen Jones (Geist von Elvis), Joe Strummer (Johnny, genannt Elvis), Rick Aviles (Will Robinson), Steve Buscemi (Charlie, Dee Dees Bruder), Vondie Curtis-Hall (Ed), Tom Waits (Stimme des Radio-DJ)
©
Ulrich Behrens 2005
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