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Nach
der Hochzeit
Viel weiß man nicht von Jacob Petersen, wenn
man ihn zu Beginn des Films bei seiner Arbeit mit Straßenkindern in Indien
beobachtet. Wobei der idealistische Asket, dem auch düstere, verschlossene
und bittere Züge eigen sind, regelrecht aufblüht. Hier hat jemand
seinen „Ort im Leben“ gefunden, denkt man noch – da streckt die längst
überwunden geglaubte Vergangenheit eine Hand nach ihm aus. Ein reicher
Fabrikant aus Dänemark, Jørgen, wäre bereit, durch eine jährliche
Spende die Arbeit des sich am Rand der Pleite bewegenden Waisenhauses zu unterstützen.
Einzige Bedingung: Jacob muss persönlich nach Kopenhagen reisen, um die
Modalitäten zu regeln. Der ist davon alles andere als begeistert; zudem
feiert sein Ziehsohn Pramod in wenigen Tagen seinen Geburtstag.
Als Jacob dann doch in der saturierten, postmodernen
Welt von Bang & Olufsen eintrifft, scheinen sich seine Befürchtungen
zu bewahrheiten: Ein erstes Treffen zeigt Unternehmer Jørgen von einer
geradezu beleidigenden Boniertheit und Oberflächlichkeit. Zugleich wirkt
Jørgen, privat ein liebevoller Familienvater und Ehemann, fahrig und
getrieben, was nicht nur damit zusammenzuhängen scheint, dass seine Tochter
Anna am folgenden Wochenende den schmierigen Karrieristen Christian heiraten
soll. Auch könnten sich die Verhandlungen über die Spenden-Modalitäten
verzögern, weil Jørgen noch andere Projekte ins Auge gefasst hat.
Zur Entschädigung der Wartezeit wird Jacob zur Hochzeit eingeladen, wo
allerlei Überraschungen auf den Fremden warten: Nicht nur ist Jørgen
mit Jacobs Ex-Geliebter Helene verheiratet, auch erfährt Jacob, dass er
wohl der leibliche Vater der Braut ist.
Grandiose, äußerst dicht gearbeitete 30
Minuten benötigen Regisseurin Susanne Bier und Drehbuchautor Anders Thomas
Jensen („Adams
Äpfel“, fd 37 779), um einen
Versuchsaufbau zu erstellen, der das zentrale Thema ihrer Filme „Open Hearts“
(fd 35 737) und „Brothers – Zwischen Brüdern“ (fd 36 986) variiert. Dabei
ist es an Jørgen, den entscheidenden Satz zu sprechen: „Nur können
wir nicht alles bestimmen in dieser Welt!“ Gleichwohl widmet sich Jørgen
entschieden einer makabren, aber vernünftigen Form der Familienplanung;
denn er ist todkrank und möchte, dass Jacob seinen Platz einnimmt. Wenn
er Jacob fragt: „Kann man nur auf der anderen Seite des Erdballs Hilfe von dir
erwarten?“, wird die ethische Dimension des intendierten Rollentauschs sichtbar.
Jacob hatte einst, drogensüchtig und unstet, seiner Heimat den Rücken
gekehrt; durch Helene und Jørgen erfährt man, dass sein karitatives
Engagement vielleicht nur eine Flucht vor sich selbst war. Jørgen bietet
Jacob den Vorsitz einer hochdotierten Stiftung an, wenn er nicht nach Indien
zurückkehrt. Dieser muss erkennen, dass es einen alternativen „Ort im Leben“
für ihn gibt: bei seiner Tochter, der Ex-Freundin und den Zwillingen, die
so gerne mit ihm Fußball spielen. Zudem könnte er in Indien wesentlich
mehr bewirken, wenn er sein persönliches Glück in den Dienst der Sache
stellt.
Mads Mikkelsen spielt hervorragend, wie sich Jacob
allmählich öffnet und sich in Kopenhagen immer heimischer fühlt.
Beginnt der Film als Auseinandersetzung zwischen dem zurückhaltenden Idealisten
und dem mephistophelisch-freundlichen Super-Kapitalisten, der die moralische
Verkommenheit der Ersten Welt in nuce zu bestätigen scheint, weitet er
sich im zweiten Teil zur Tragödie des todgeweihten Jørgen (mit eindrucksvoller
körperlicher Präsenz gespielt von Rolf Lassgård), der seinen
Reichtum zur Sicherung seiner Familie einsetzt und dessen parvenühaftes
Gehabe sich als Ausdruck echter Verzweiflung erweist. Angesichts der Komplexität
dieses Rollentauschdramas, bei dem einige Nebenfiguren wie Christian allzu offensichtlich
nur den Status einer Schachfigur besitzen, setzt Susanne Bier sehr überlegt
auf eine Dramaturgie der Blickwechsel, die stets in unterschiedliche Richtungen
weisen (müssen). Erneut nutzt das Team Bier/Jensen die großen Themen
Zufall, Unfall, Krieg und Tod, um die Flexibilität der Institution Familie
und die Ansprüche auf individuelle Sicherheit und Glücksansprüche
zu erproben. Ob hinter den Schicksalsmächten eine ideologische Position
oder nur eine zwar schwarz gewirkte, aber unverbindliche Spielfreude an Drehbuchmöglichkeiten
steckt, lässt sich dabei nicht entscheiden; aber die Maschinerie der soziologischen
und emotionalen Experimente funktioniert routiniert auf hohem Niveau.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-dienst
Nach
der Hochzeit
Dänemark / Schweden 2006 - Originaltitel: Efter Brylluppet / After the Wedding - Regie: Susanne Bier - Darsteller: Mads Mikkelsen, Rolf Lassgård, Sidse Babett Knudsen, Stine Fischer Christensen, Christian Tafdrup - FSK: ab 12 - Länge: 119 min. - Start: 1.2.2007
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