„Heute
redet man ja schon
von
Solidarität, wenn sich
Blair
und Schröder zum
Dinner
treffen.“ (1)
Die
Privatisierung der British Rail ist hochaktuell. Das von den Tories begonnene
Spielchen mit Zunahme von Unsicherheit auf den Bahnstrecken, staatlich verordneter
Arbeitslosigkeit, Unpünktlichkeit der Züge usw. verkaufen nun Tony
Blair und Labour – auch wenn es Überlegungen zur Revision der Privatisierung
gibt – als „dritten Weg“. Wohin? Der Drehbuchautor Rob Dawber war 18 lange Jahre
selbst in der Abteilung Signale und Telekommunikation bei British Rail beschäftigt
und schrieb seine Erinnerungen auf, als er sich im Urlaub bei einem Unfall am
Meer die Sehne zerrte. Ken Loach („The Flickering Flame“, 1997; „Mein Name ist
Joe“, 1998; „Bread and Roses“, 2000) setzte diese Erinnerungen in eine Geschichte
der ihm eigenen Art um.
Mitte
der 90er Jahre werden – für die beteiligten Arbeiter unsichtbar, wie über
Nacht – die Pläne der britischen Regierung zur Privatisierung der britischen
Eisenbahnen in die Tat umgesetzt. Die Bahnarbeiter in Yorkshire sehen eines
Morgens, wie zwei Männer das Firmenschild der British Rail gegen ein anderes
austauschen. Der Vorarbeiter verkündet ihnen mir nichts dir nichts: „Ihr
seid keine Bahnarbeiter mehr.“ Die Folge sind Entlassungen und das „Angebot“,
bei einer Art Leihfirma ihren Beruf fortzusetzen. Diese Firma „vermietet“ ehemalige
Bahnarbeiter für einzelne Aufträge. Wieder andere Arbeiter werden
an die Privatfirmen vermittelt, die jetzt das Geschäft des Bahnverkehrs
betreiben.
Der
von neoliberaler Ideologie geleitete Absturz der Bahnarbeiter in ungeregelte,
ungesicherte Arbeitsverhältnisse bei niedrigeren Löhnen führt
nicht nur zu privaten Verwerfungen und Entsolidarisierung, da die Ex-British-Rail-Angehörigen
jetzt zudem in Konkurrenz zueinander stehen. Er mindert zudem die Sicherheitsstandards
sowohl hinsichtlich des Bahnverkehrs, als auch der Arbeitsbedingungen.
Als
vier Bahnarbeiter den Auftrag erhalten, an einer Bahnstrecke im Auftrag einer
Leihfirma Kabel an einem verschütteten Hang wieder freizulegen und die
Schächte neu zu betonieren, fehlt der früher übliche Mann, der
die Strecke beobachten musste, um Unfälle zu vermeiden. Der Vorarbeiter
hatte den Männern schon angekündigt, von nun an dürfe die Zahl
der Todesfälle „eine erträgliche Anzahl nicht überschreiten“.
Da der Auftrag zur Tageszeit nicht zu erledigen ist, arbeiten die vier Männer
bis in die Nacht. Es kommt, wie es kommen muss: Einer der Arbeiter wird, ohne
dass es jemand bemerkt von einem Zug erfasst und liegt regungslos neben dem
Gleis. Unter den anderen kommt es zum Streit, vor allem zwischen den beiden
langjährigen Freunden Mick (Thomas Craig) und Paul (Joe Duttine), der sich
von seiner Frau getrennt hat und bei Mick lebt. Während Paul sofort einen
Krankenwagen rufen will, befürchten die anderen Entlassung und Strafanzeigen,
weil sie die Sicherheitsvorschriften nicht beachtet haben. Man entschließt
sich, den Verletzten vom Gleis weg auf die Straße zu transportieren. Gegenüber
den Behörden behaupten die drei Männer, der Verletzte, der wenig später
stirbt, sei von einem vorbeifahrenden Auto angefahren worden, als er an der
Betonmaschine arbeitete ...
Ken
Loach inszenierte „The Navigators“ (wie schon seine früheren Filme, die
übrigens alle auch im englischen Fernsehen ausgestrahlt wurden) weder als
klassenkämpferische Agitprop-Platitüde, noch als sozialromantische
Verklärung des Arbeiterdaseins. Nomen es omen. Die Arbeiter navigieren
durch ihr (Arbeits-)Leben, das von derart vielen Unwägbarkeiten geprägt
ist, wie Matrosen durch das von Nebel bedeckte Meer, die sich fragen, ob ihr
Kompass noch funktionier.
Loach
lässt seinen Film als Groteske beginnen. Im Frühstücksraum der
British Rail, die schon nicht mehr existiert, feixen die Bahnarbeiter über
die von seiten ihres Vorarbeiters vorgetragenen neuen Pläne, deren Sinn
sie nicht verstehen. Warum bleibt nicht alles beim Alten? Es hat doch wunderbar
geklappt – die Zusammenarbeit, die Regelung der Konflikte mit den Vorgesetzten,
die Sicherheit (seit langer Zeit hat es keinen tödlichen Unfall mehr gegeben).
Und nun soll das alles über den Haufen geworfen werden? Unrentabilität
ist das Zauberwort, das alle Verhältnisse umzustürzen scheint.
Aber
Loach verfällt nicht in eine düstere, phlegmatische oder depressive
Stimmung. Als die Schilder von British Rail abgehängt werden und einige
Wochen später das Schild eines Privatunternehmens nochmals durch ein anderes
ersetzt wird, wundern sich die Männer und fragen sich, wie oft diese Wechsel
wohl noch stattfinden. Loach zeigt die Derbheit, den Sarkasmus, mit denen die
Betroffenen die Veränderungen kommentieren, und den tief verwurzelten Humor,
den sie sich nicht nehmen lassen.
Als
ihr Vorarbeiter Harpic (Sean Glenn) verkündet, Todesunfälle müssten
auf ein akzeptables Maß reduziert werden, fragt Gerry (Venn Tracey): „Was
ist ein akzeptables Maß?“ Harpic: „Zwei pro Jahr.“ Gerry: „Aber niemand
ist in den vergangenen 18 Monaten getötet worden.“ Jim (Steve Huison):
„Melden sich Freiwillige?“ Keiner meldet sich. Was Harpic da ankündigt
und die anderen mit Sarkasmus bedienen, ist die Schätzung der Firmenleitung
über vermutete Todesunfälle angesichts der Folgen ihrer Preisgabe
von Sicherheitsstandards.
Jeden
Mittag holt einer der Arbeiter Essen bei einem nahe gelegenen Laden und behauptet,
er würde jedesmal eine Dose Thunfisch umsonst dazu bekommen. Als ein Kollege,
den die anderen so ein bisschen als Strecken-Clown behandeln und dem man ansieht,
dass er gerne und viel isst, auch mal versuchen will, Thunfisch gratis zu bekommen,
behauptet der Verkäufer in dem Laden, er führe keinen Thunfisch. Der
Bahnarbeiter bleibt bei seiner Behauptung, wird leicht aggressiv, eine Kundin
mischt sich ein, und die Kollegen, die sich vor dem Geschäft vor Lachen
kaum halten können, müssen ihn davon abhalten, eine Schlägerei
mit dem armen Verkäufer anzufangen.
Das
alles ist nicht böse gemeint. Es ist Teil ihres Lebens wie die Solidarität
– nicht die organisierte, konstruierte, oberflächliche, angeblich „objektive
Interessen“ ausdrückende Solidarität, sondern eine, die ihr Leben,
ihre Erfahrungen, ihr Zusammensein bei der Arbeit und zu Hause selbst schuf,
sozusagen eine gewachsene, über die nicht viel geredet wird. Als dieser
Zusammenhang zwischen ihnen verloren zu gehen droht, nachdem einer der ihren
tödlich verunglückt, drückt sich in der Lügengeschichte
vom angeblichen Autounfall immer noch so etwas aus wie Solidarität. Allerdings
eine aufgezwungene. Denn die neuen Arbeitsbedingungen, bei denen von seiten
der neuen Herren der Bahn auf Sicherheit der Fahrgäste und der Beschäftigten
herzlich wenig Wert gelegt wird, zwingen die Arbeiter, sich auf neue Verhältnisse
einzustellen. Wer arbeiten will, muss diese neuen Bedingungen auf Gedeih und
Verderb akzeptieren.
Die
Frage der Schuld am Tod des Kollegen ist komplizierter, verwickelter geworden.
Sie sind in den Strudel der neoliberalen Veränderungen hineingerissen –
und machen mit. Was sollen sie sonst auch tun?
Loach
demonstriert am Beispiel dieser Männer in einem kleinen Ausschnitt der
Arbeitsverhältnisse, wie eine ganze Gesellschaft nicht einfach von oben
nach unten, sondern eben auch in die umgekehrte Richtung sich zum Teil prinzipiellen
Veränderungen anpasst, anpassen muss, weil der Zug in diese Richtung abgefahren
ist. Loach benutzt jedoch seine Figuren nicht als Helden, die über allem
stehen. Er zeigt sie durchaus als wirkliche Menschen mit all ihren Schwächen.
Sie navigieren nun in eine andere Richtung, weil ein anderer Kurs befohlen wurde
– und stochern weiter im Nebel herum. Die Überschaubarkeit der Verhältnisse
ist verloren gegangen, der Mut und eine enorme Gelassenheit sind die Grundpfeiler,
auf denen sie auch künftig einen Weg für sich und untereinander finden
werden und müssen.
Nur
eines ist ihnen deutlich geworden: Der Kitt, der ihre verantwortungsvolle Arbeit
zusammenhielt, die Sicherheitsstandards, sozusagen die ethische Durchdringung
ihrer stupiden, aber dennoch so wichtigen Arbeit für sich selbst und vor
allem für die Fahrgäste, ist zerbröckelt, zerstört worden.
Die „Zugunglücke“, nicht nur in Großbritannien, zeugen von diesem
produzierten Verlust. So spricht der Film auch Bände darüber, was
es heißt, wenn Dienstleistungsbetriebe, in denen es auf Sicherheit, Verlässlichkeit
usw. primär ankommt, privatisiert werden und Rentabilität zum alles
beherrschenden Faktor solcher Unternehmen wird.
Loachs
Filme sind keine Kassenschlager. Sie bieten kein Mainstream-Kino. Trotzdem lohnt
sich der Blick in eine Welt, die im deutschen Kino schon lange nicht mehr existiert.
Loachs „The Navigators“ ist ein dokumentarisch angelegtes tragikomisches Drama.
Aber die Bilder, die Loach zeigt, betrügen nicht. Sie sind auf eine geradezu
„leichte“ Weise zu entschlüsseln, weil sie ehrlich sind – ob man mit ihnen
nun übereinstimmt oder nicht.
Ulrich
Behrens
(1)
Ken Loach in einem Interview in „Die Zeit“:
http://www.zeit.de/2002/42/Kultur/200242_loach-interview.html
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei CIAO.de
The Navigators
[The Navigators] Großbritannien, Deutschland, Spanien 2001
Start: 16.11.2001
Verleih: First Look Pictures Releasing
Laufzeit:
92
FSK:
6
Drehbuch:
Rob Dawber
Regie:
Ken Loach
Darsteller:
Dean Andrews, Thomas Craig, Joe Duttine, Steve Huison, Venn Tracey, Andy Swallow,
Sean Glenn, Charlie Brown, Juliet Bates, John Aston, Graham Heptinstall, Angela
Saville, Clare McSwain, Megan Topham, Abigail Pearson