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Neben
der Spur
Der Putenhof im Wendland, ein Musterheim für
Jugendliche. Karl-Heinz Dellwo präsentiert mit diesem Dokumentarfilm ein
Vorbild. So soll es sein. Ein Ideal und eine Idylle. Wir hören seine Off-Stimme,
ein wenig getragen, ein wenig emotional. Die Montage des Films nimmt sich Zeit,
die Stimmung wird weich, ja, auch poetisch. Zeit, sich zu öffnen. Und genau
das ist das Unverwechselbare und das Politikum dieses Films: Dellwo ergreift
Partei für die Kinder und Jugendlichen nicht nur verbal, sondern komplett,
wie soll ich sagen, mit empathischem Gemüt. „Hier sind Jugendliche, die
unterschiedlich in ihrer Kindheits- und Jugendentwicklung gestört wurden.
Und doch trägt jeder sein Potenzial mit sich, verzerrt, verschlossen, oftmals
missachtet und niedergedrückt. Es dabei zu belassen, wäre nur der
Akt eines gesellschaftlichen Verrats, der jeden einschließt“. Unerlässlich
sei „der verbündete Blick aus der eigenen Jugend“ (Dellwos Stimme im Film).
Der Lagerleiter: „Auch ich war mal das schwarze Schaf. Auch ich mache Fehler“.
Dellwo könnte das Eingeständnis toppen.
Ihm war zwanzig Jahre lang wegen Mordes-mit-Geiselnahme (Stockholm 1975) die
Freiheit entzogen worden. Im Film bleibt jedoch der Fokus auf die Jugendlichen,
die „Buhmänner“. Sie sind es, von denen wir etwas erfahren wollen. Sie
kommen zu Wort. Im Heimalltag. Saubere Bilder. Lassen sie die Erwachsenen an
sich heran? Der Heimleiter. Die Reittherapeutin. Der Hofbetreuer. Die Berufsvorbereitungsschule
Lüchow. Handwerk im Trabi-Club Salzwedel (www.trabi-saw.de). Kann man den
Jugendlichen vorwerfen, nicht sozialisiert zu sein, wenn sie Kinder einer Nation
sind, die ihrerseits nicht sozialisiert war, vor kurzem noch, in der Zeit der
KZs und Vergasungen?
Der Film kommt zu seinem großen Thema, von
unten her. Die Heimkinder sind auf ihrer jährlichen Reise nach Theresienstadt.
Sie arbeiten dort. Sie fällen Holz. Sie laufen an den steinernen Baracken
entlang, am hölzernen Galgen vorbei. Sie sind keine Besucher, aber Arbeiter
und Gäste. Gastarbeiter. Sie verlangen eine Pause. Plenum. Sie feiern mit
der Lagerleitung, der von Terezin. Sie genießen die Freizeit. Es ist Sommer.
Sie baden im Fluss. Sie hören von dem, was war, und sie nehmen wahr, was
geblieben ist. Eine Erfahrung für sie. Eine sinnliche, handwerklich erarbeitete.
Hier freiwillig Rosen gepflanzt zu haben, 3000 Rosen, ist etwas anderes und
mehr, als von Erwachsenen gesagt zu bekommen, was sie von Theresienstadt, von
den KZs denken sollen. Jetzt sprechen sie in Dellwos Kamera über ihre eigenen
Erfahrungen. Sie sprechen, und das ist mehr, als ihnen zu widersprechen. Dellwos
Off-Schluss: „Kein Jugendlicher ist einfach. Diese hier besonders nicht. Nur
– was sollte ihr Fehler sein, wo sie zu allererst nur das Unglück hatten,
mit schlechten Karten in der Hand geboren zu werden?“ Mit einem optimistischen
Lied endet das Manifest. Neben der Spur überholt es sich besser.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: Konkret
Neben
der Spur
BRD
2006
Regie:
Karl-Heinz Dellwo; 81 Minuten
Die
DVD ist erschienen bei Bella Storia Film, zu beziehen über: www.bellastoria.de
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