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N.U.
- Nettezza Urbana
N.U. beobachtet den Tagesablauf von Straßenkehrern
in Rom. Der Film beginnt und endet an einem Bahngelände in den Außenbezirken.
Männer in schweren Mänteln im Morgengrauen um eine Feuerstelle, dann
beim Besenreinigen an einem Brunnen. Mit dem Tempo der sich allmählich
ins Stadtinnere vorarbeitenden Straßenkehrer komponiert Antonioni wie
ein pointillistischer Maler minimale (an-insenierte) Episoden um private Lebensausschnitte,
wie sie sich unmittelbar auf der Straße ereignen und, indem sie Abfall
hinterlassen, direkt von den stoisch fleißigen Kehrern beseitigt werden.
Diese Form ist weder blanke Sozialreportage noch neutraler Impressionismus.
Die Kamera ist auf den jeweiligen Ort und die sich darin ankündigende Situation
orientiert, die Straßenkehrer sind beiläufig präsent oder treten
ins Bild wie Figuren, die in ihrer Tätigkeit das letzte Wort sprechen:
Ein Holzverschlag auf der Rückseite eines Blumenstands. Der Bürgersteig
daneben wird mit der Ware dekoriert, während aus einem Berg verknüllter
Zeitungen ein Wohnungsloser aus seinem Nachtquartier auftaucht und gleichzeitig
dahinter am Straßenrand im Hellen die Blumenreste beseitigt werden. Ein
gut gekleidetes älteres Paar kommt auf einer Brücke der Kamera entgegen
und überquert die Straße; es ist im Streit, der Mann zerreißt
einen Brief und wirft ihn fort, die Fetzen schiebt ein in diesem Moment ins
Bild tretender alter N.U.-Mann weiter vor sich her. Ein Durchblick aus dem ersten
Stockwerk auf eine enge Straße, eine junge Frau wirft ein Müllpaket
hinunter, einem alten Müllmann vor die Füße. Man sieht die Männer
vor kolossaler Trümmerkulisse bei der Pause, ihr ärmliches Essen in
alten Konservendosen aufwärmend, und zugleich ihr savoir vivre, wenn sie
Spitzenmuster aus dem Brotpapier ausschneiden, den Mantel ausbreiten zur Siesta,
sich über eine Steinbrüstung lehnen, um den Ausblick zu genießen.
Man sieht sie den Müll auf Pferdewagen laden, das Herumstochern nach Brauchbarem,
die Fahrt hinaus, bei der ein Junger plötzlich eine gefundene, düster-dunkle
Karnevalsmaske probiert. Noch kurioser ihre Endstation, wenn aus hüttenähnlichen
Ställen eine Schweineherde ins glänzende Abendlicht drängt, um
sich aus den Abfallbergen Futter zu holen.
Antonioni wollte ursprünglich für N.U.
ein Bach-Präludium von einem Saxophon interpretieren lassen. Weil sich
die Produktionsfirma gegen dieses Sakrileg verwahrte, setzte er das Bach-Klavierstück
gegen Passagen einer blues-ähnlichen bis explosiv-freien Saxophon-Improvisation
von Giovanni Fusco ab (damit begann eine jahrelange Zusammenarbeit zwischen
Antonioni und Fusco). Die Musik bindet die Szenen stärker als der bloß
illustrierende Kommentar zu einem vieldeutigen Ensemble. Es gibt darin Überdeutliches
wie das Plakat mit dem Filmtitel »Jedem sein Schicksal« an einer
Hauswand oder das für fast alle seine Filme typische Bild vom traurigen
jungen Paar oder den immer mokant inszenierten Blitz-Auftritt zweier Nonnen.
N.U. ist ein ästhetischer Gegenentwurf zur damals
bestimmenden neorealistischen Dokumentarfilmschule, von deren Methode, z. B.
bei Paolucci, sich Antonioni abgrenzte: »(Er) machte seine Dokumentarfilme
nach genau festgelegten Kriterien, in Sequenzblöcken, wie ich sagen würde,
die ihren Anfang, ihr Ende, ihre eigene Ordnung hatten; diese Blöcke bildeten
zusammengesetzt, eine bestimmte Parabel, die dem Dokumentarfilm seine Einheit
gab. Es waren einwandfreie Dokumentarfilme, auch in formaler Hinsicht; dennoch
hielt ich es für notwendig, ein wenig mit der systematischen Anordnung
des Stoffs im Ablauf des Dokumentarfilms zu brechen. So kam es, vor allem als
ich ein bestimmtes Material in Händen hatte, daß ich eine vollkommen
freie Montage zu machen versuchte ..., eine poetisch freie Montage, auf der
Suche nach bestimmten Ausdruckswerten nicht so sehr durch eine Montage-Ordnung,
die mit einem Anfang und einem Ende den Szenen Sicherheit gäbe, sondern
in Form von Lichtblitzen, in losgelösten, isolierten Einstellungen, in
Szenen, die keine Verbindung miteinander hatten, die jedoch eine mittelbare
Vorstellung von dem geben sollten, was ich ausdrücken wollte und von dem,
was die Substanz des Dokumentarfilms selbst ausmachte, im Fall von N.U. also
vom Leben der Straßenkehrer einer Stadt.« [M.A.
in Die Krankheit der Gefühle, Ein Gespräch mit Studenten des Centro
Sperimentale di Cinematografia in Rom 1961, aus: Theodor Kotulla (Hrsg.), Der
Film. Manifeste-Gespräche-Dokumente, Bd.2, München 1964]
Auch die Motivwahl und der Bildaufbau des Films sind
geprägt von Antonionis individuellem Formverständnis. Es ist der erste,
bereits sehr wirkungsintensive Film mit den für ihn typischen Städte-Bildern:
Straßenfluchten, Mauereinfassungen an Flüssen, nie auf touristische
Aura abzielenden Gebäudekomplexen. Bilder voller Gegensätze mit zerrissenen
Häuserfronten, unbebaut verwahrlosenden Grundstücken - Resten von
Architektur, die den Agierenden nicht bewußt scheint, aber ihre Grundstimmung
mitträgt und in Dämmerstimmung und im Glanz von Regenwasser einen
Ton trauriger Schönheit behält.
Am Ende von N.U. sieht man bereits ein »Antonioni-Bild«,
das von Leere statt Weite und Leben spricht: ein Zug fährt über den
Bahndamm und dahinter breitet sich ein öder Platz mit einem einzelnen Häuserblock
und einer Reihe von Fahnenmasten aus. Ein einzelner Straßenkehrer überquert
ihn auf dem Weg nach Hause.
Claudia Lenssen
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: Michelangelo Antonioni; Band 31 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1987.
Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung der Autorin Claudia Lenssen und des Carl Hanser Verlags.
N.U.
(NETTEZZA URBANA).
Italien
1948
Regie
und Drehbuch: Michelangelo Antonioni - Kamera: Giovanni Ventimiglia. - Musikalische
Beratung: Giovanni Fusco (Jazz-Arrangement J. S. Bach). - Produktion: I.C.E.T.,
Mailand. - Organisation: Vieri Bigazzi. - Format: 35 mm, sw. – Original-Länge:
11 min. - Verleih: in der BRD nicht verliehen.
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