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Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in
der er lebt
Die sowohl exemplarische als auch
fragwürdige Geschichte vom schwulen Daniel (Bernd Feuerhelm). Seine Stationen
sind Sentimentalität, Luxus, Strandbad, Park, Klappe - und die rettende
Kommune. - Daniel, frisch in Berlin, trinkt mit Clemens (Berryt Bohlen) Kaffee,
sie kopieren die bürgerliche Ehe. »Schwule wollen nicht schwul sein,
sondern so spießig und kitschig leben wie der Durchschnittsbürger.
Schwule fordern vom Schwulen, ein Ästhet zu sein. Da die Schwulen vom Spießer
als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie, noch spießiger
zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Übermaß
an bürgerlichen Tugenden. Ihre politische Passivität und ihr konservatives
Verhalten sind der Dank dafür, daß sie nicht totgeschlagen werden.
Nicht die Homosexuellen sind pervers, sondern die Situation, in der sie zu leben
haben.« (Filmkommentar) - Vier Monate später. Daniel zieht zu einem
reichen, älteren Mann (Ernst Kuchling) in die Grunewaldvilla und lauscht
dem Hauskonzert: »Kennst du das Land«, die Arie der Mignon aus der
Oper von Ambroise Thomas. Der Filmkommentar erinnert an den Klavierspieler Heydrich.
»Solange Bildung und Kunst ein Mittel der Reichen und Mächtigen ist,
über die menschlichen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf der Welt
hinwegzutäuschen, sind sie radikal abzulehnen. Gerade den reichen Schwulen
ist die Hilflosigkeit der Unterdrückten gerade recht, um sie besser ins
Bett zu bekommen. Sie sind faschistisch, wie Träume es immer sind. - Daniel
entflieht dem Luxusbett, um die Freuden der Konsumwelt zu genießen. Seine
Arbeit als Kellner im Schwulencafe (man erkennt das ehemalige Moby Dick in der
Grolmannstraße) verschafft ihm »interessante Gespräche über
Film, Mode und Körperpflege« mit den dort verkehrenden Freizeitschwulen
(man erkennt Dietmar Kracht). Auf der Wannseeterrasse Deck 4 läßt
Daniel sich eincremen. »Trotzdem haßt ein Schwuler den anderen,
denn er sieht in ihm sein eigenes Unglück. Statt gegen eine Gesellschaft
zu kämpfen, der sie ihr Unglück verdanken, geben sie sich lieber selber
die Schuld.« - Zwei Jahre später findet Daniel schnellen Sex auf der
Straße und in Nachtlokalen. »An jeder Ecke bieten Schwule sich wie
Nutten an.« Mit einer Rose im Eingang einer Kneipe steht ein Partner (Manfred
Salzgeber). »2000 wechselnde Sexualpartner im Leben eines Schwulen sind
oft der Ersatz für den einen«: der Kommentar zur Fassade des Kleist-Casinos.
Die Kleist-Quelle und die Haci-Bar am Savignyplatz kommen ins Bild, während
der off-Sprecher für die Tunten plädiert: »Sie sind nicht so
verlogen wie der spießige Schwule.« Die Musik stimmt sich ein: »Was ist das Ziel in diesem
Spiel, das der Natur gefiel.« - Das Schwulsein wird zur Sucht. Daniel trifft im Park (es ist
der Volkspark beim RIAS) mit exotischen Lederleuten von der Sadomasoszene zusammen,
einer ist als Steven Adamczewski zu erkennen. Ȁhnlich wie bei den
Nazis, in Cowboyfilmen und beim Militär sehnen sich die Ledermänner
in eine Welt der Gewalt.« Es herrscht konzentrierte Stille. Die he-Schwulen befingern Ketten,
Ringe, Reißverschlüsse: »Sexuelle Hilfsmittel«. - Daniel
sinkt zum Pißbudenschwulen hinab. In den Klappen erfährt er, daß
Stricher und Rocker die Schwulen hassen. Auf der Straße möchten die
Passanten Schwule vergasen und kastrieren. Daniel sucht Trost in der Transvestitenkneipe
(Ellis Bierbar): »Ja, ich bin die tolle Frau von der Tingeltangelschau«.
Paul nimmt ihn in die schwule Wohngemeinschaft mit. Nackt läßt sich
Daniel von den emanzipierten Schwulen ein Manifest vortragen (es ist von Martin
Dannecker theoretisch abgesichert). Dieses will »den Pißbudenschwulen
und Parkfickern helfen, aus ihrer beschissenen Situation herauszukommen«.
Disziplin und Moral sind erforderlich, bewußt »schwuler zu werden«
und »mit den Negern der Black Panther und der Frauenbewegung gegen die
Unterdrückung von Minderheiten zu kämpfen«.
Mit dem Aufruf »Werdet stolz
auf eure Homosexualität! Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen!
FREIHEIT FÜR DIE SCHWULEN!« hätte der Film sein happy end, wenn nicht zu den starken
Worten die abgebildeten jungen Männer ein allzu hilfloses Bild böten.
Mit bürgerlichen Tunten ist keine Revolution zu machen. Hatte dies der
Film nicht zuvor ausgiebig zu beweisen versucht?
Darf man nun lachen oder nicht?
Der analytische Filmkommentar ist offensichtlich parodistisch und ernstgemeint
in einem. Ernsthaft vorbereitet hat Praunheim Film und Text bereits im Jahr
1969, zusammen mit dem ambitionierten Taxenfahrer Sigurd Wurl. Das war das Jahr,
in welchem der § 175 des Strafgesetzbuches fiel und damit die Kriminalisierung
der widernatürlichen
Unzucht
unter Männern. Mit den ersten Aufführungen des Films, 1971, begann
die Schwulenbewegung in der Bundesrepublik. Praunheims Schwulenfilm und seine
Ausstrahlung im Fernsehen (1972 im 3. Programm des WDR, 1973 im 1. Programm
- außer Bayern -) ist als Ereignis mit dem 26. Juni 1969 zu vergleichen
- dem Tag, als sich in der new yorker Stonewall Bar zum erstenmal Schwule (gegen
die Polizei) zur Wehr setzten - auf der Christopher Street, deren Namen zum
Inbegriff der schwulen Freiheitsbewegung wurde.
Der Vergleich führt jedoch
nicht weiter. Denn erstens hat Praunheim während der Produktion von NICHT
DER HOMOSEXUELLE nicht von den Vorgängen im fernen Amerika, wie er beteuert",
gewußt. Und zweitens richten sich seine vehementen Attacken nicht gegen
fremde Unterdrücker - wie gegen die Heterobullen in der Stonewall Bar -,
sondern gegen das eigene Lager. Die Situation, in der der Homosexuelle lebt,
ist hausgemacht: das ist die These des Films. Praunheim trat als Nestbeschmutzer
auf. Verwirrung, Empörung, Bestürzung im Schwulenlager war die Folge,
aber auch Bewegung, Aktion, coming out und Solidarität. Rückblickend
zeigt sich, daß der Schwulenfilm etwas bewirkt, ja Epoche gemacht hat.
Er ist »mittlerweile legendär«.
Die kämpferisch-pathetischen
Manifestsätze des Films verlieren angesichts der professionell-kühlen
Bilder Robert van Ackerens ihre Verbindlichkeit und werden selbst eins der Phänomene,
die der Film beschreibt: der analytische Berufsschwule ist eine der vielen Facetten,
die den Reichtum des Films ausmachen. Der Film unternimmt Unvereinbares (Wirkliches/Fiktives,
Beschriebenes/Analysiertes, Dokumentiertes/Inszeniertes) und gewinnt doch Balance
und Authentizität in der vorsätzlichen »diffusen Künstlereinstellung«
(Praunheim) des Filmmachers. Indem dieser Material organisiert, das er quasi
als Feldforscher gefunden hat, macht er sich gleichzeitig zum Gegenstand der
Beschreibung selbst. Der Film funktioniert, da Praunheim die Vielfalt der Daniel-Identitäten
ist: der Film, den Gesetzen des Zeitablaufs gehorchend, führt sie nacheinander
vor. Der Lederfreund, der Antiquitätenhändler-Freund: das privat Vorgefundene
wird im Film öffentlich gemacht. Praunheim selbst wird öffentlich.
NICHT DER HOMOSEXUELLE ist sein coming out. Seine Eltern, so berichtet er, erfuhren
erst durch den Film, daß ihr Sohn homosexuell ist. Gerade weil die Modelle
des Schwulenfilms auch Travestie sind - das politische Pathos in rosa Licht
getaucht wird -, die schlimmsten Heteroklischees über die Welt der Perversen
bestätigt und gleichzeitig zerstört werden - Bild und Ton einander
zum Zeugen aufrufen und dementieren -: gerade in dieser überreichen Widersprüchlichkeit
stellt sich etwas her, was - in der Person des Filmmachers - wirklich ist, authentisch,
lebendig und menschlich. Mit anderen Worten: der Film sprach, nachhaltig, an.
Denn Praunheim reagierte als Betroffener,
der persönlich erfahren hat, was im Schwulenlager Selbstunterdrückung
bedeutet, Selbsthaß und Schuldgefühle. Der Film tut grad nicht, was
in dieser Situation sonst als wohlfeiler Ausweg dient, nämlich den Schwulen
als Opfer der (Hetero-)Gesellschaft hinzustellen und über die Diskriminierung
von außen zu klagen. Statt
dessen soll Praunheims aggressive und provozierende
Selbstkritik aus der schwulen Subkultur hinaushelfen. Gegenstand der Kritik
ist damit der schwule, verlogene, anpassungswillige Kleinbürger, der sich
vom kommerziellen Sexgetto bereitwillig aufs Sexuelle reduzieren läßt,
gesprächsunfähig wird, Gefühl und Kommunikation verliert und
mit Lust sich selbst gegenüber repressiv verhält, obwohl die alte
Unterdrückung durch die Gesellschaft längst ihre Wirksamkeit verloren
hat. »Die Situation, die die Schwulen in Clubs und Saunen treibt, das
eben ist die schizophrene Subkultur« (Praunheim).
Praunheim reibt sich mit seinem
Film als Minderheit in der Minderheit an der schweigenden Mehrheit konservativer
und reaktionärer Schwulengesinnung. Er will das (schwule) System verändern,
dessen Teil er bleibt. Das gewährleistet in der Tat intensive Lernprozesse.
Zu lernen ist etwas aus der schwulen Wende, die Praunheim schon im Jahr 1970
konstatiert. Das ist für ihn die Änderung des schwulen Rollenverhaltens:
vom femininen zum maskulinen Ideal,
nämlich von der Tunte, deren Gebaren Protest gegen die Rollenerwartung
war, zum Lederschwulen, dessen Gebaren Anpassung (Überanpassung) an die
Repressionsmechanismen der Gesellschaft sind. Glaubt man dem Film, haben die
Schwulen damit selbst ihre Situation ins politisch Perverse verkehrt, ins Reaktionär-Faschistische.
Der Film setzt gegenüber dieser Wende heilsam Aggressionen und Selbst-Haß
frei. Schluß mit der Augenwischerei des »Schwul ist gut und fick,
bist du die Hepatitis kriegst« (Praunheim). Statt dessen verraten im Film
die Karikaturen und Stereotypen, werden sie nur genug freigelegt, ihren Mechanismus.
Vergessen wir nicht, daß zu den Stereotypen auch der Kommentar selbst
gehört; die hohe Stimme Volker Eschkes sagt neunzigmal »schwul«,
und das war vor vierzehn Jahren ein Wort, das Emotionen freisetzte, böse
vor allem. Auch die schwule Subkultur fühlte sich getroffen. Was eben der
Film bezwecken wollte.
Da Praunheim mit diesem Film auch
sich selbst treffen wollte, oder doch eine seiner Identitäten, ist der
Film gleichzeitig eine einverständliche Beschreibung der berliner schwulen
Subkultur. Dieser Aspekt macht das Entertainment aus, das den Film der Eindimensionalität
dogmatischer Indoktrination enthebt. Wahrscheinlich ist es der Unterhaltungswert,
der den Film schließlich doch in die Fernsehprogramme hievte. Hofnarr
von Praunheim - ein bis zwei Narren hielten die höfisch-rechtlichen Anstalten
damals aus - stellte sich und seine Szene dort mit deutlicher Resonanz aus,
wobei er durchaus auf die Ausgewogenheit zwischen Botschaft und Parodie achtete.
Die ersten Sequenzen des Films hatte er sowohl mit Bernd Feuerhelm als auch
mit Dietmar Kracht gedreht, noch unentschieden, wer die Rolle des Daniel spielen
sollte. Schließlich nahm er Bernd Feuerhelm, um das parodistische Element
zu mäßigen. Es ging ihm darum, den Freiraum politisch zweckmäßig
zu nutzen, den ihm die Aufbruchsstimmung jener Jahre verschafft hatte, konkreter:
der Dramaturg der Produktionsfirma Bavaria in München, Werner Kließ.
Dieser, zuvor Redakteur der Zeitschrift film und Praunheim-Rezensent, hatte die Möglichkeit der Produktion
»eines HomosexuellenFilms« erkannt (Etat: 250 000 Mark).
Das Unschickliche und Ungeschickte
des Schwulenfilms war es, das Realität aufdeckte. Der vorsätzliche
Dilettantismus machte Provokation - und aus Ästhetik Politik. Die Abwesenheit
von Professionalität und Kommerzialität brachte das Unikum eines Kampffilms
zuwege, der sich jederzeit genießen ließ. Er sprach, damals durchaus
ungewohnt, Kopf und Bauch an und vermittelte die real existierenden Widersprüche.
Nicht als ästhetisches Werk besteht der Film, sondern als Waffe, als Provokation
im Einsatz. Der Einsatz des Films (die Aufführung) erfolgte überall,
auch in den USA und in Kanada, zum Zwecke nachfolgender Diskussion. »Die
Diskussionen, die dieser Film sowohl bei Hetero- als bei Homosexuellen ausgelöst
hat, sind möglicherweise wichtiger als der Film selbst.«
Die Diskussion, meist die wenig kontrollierte Freisetzung von Emotion, war ihrerseits
Mittel: für eine Therapie, in der Praunheim in der Doppelrolle von Therapeut
und Patient auftrat. Sie verfolgte das Ziel, das Selbstbewußtsein der
Minderheit zu entwickeln (schwul bleibt schwul) und eine Solidarität der
Minderheiten zu schaffen (Schwule, Frauen, Neger, Juden). Ersteres war im Film
angelegt, letzteres war ihm aufgesetzt - als verbales Postulat.
Das erste pädagogische Ziel
wurde durch den Film erreicht. Die Kommunikation unter den deutschen Schwulen
setzte ein. Die Schwulenbewegung Anfang der 70er Jahre war die Folge; Höhepunkt
war 1973 der Demonstrationszug beim Pfingsttreffen schwuler Aktionsgruppen auf
dem Kurfürstendamm in Berlin. Das zweite Ziel, mit Hilfe der diversen Minderheiten
das bürgerliche System zu verändern, erreichte, wie man heute weiß,
weder Praunheim noch ein anderer.
Die Aufführung des Films
im deutschen Fernsehen wurde zum Skandal. Der WDR, der den Film bei der Bavaria
(München) in Auftrag gegeben hatte, zeigte ihn am 31.Januar 1972 in seinem
Programm allein. Die für dasselbe Datum vorgesehene gemeinsame Ausstrahlung
im ARD-Programm scheiterte im letzten Moment. Mit einer Mehrheit von sechs gegen
vier Stimmen hatte die Ständige Programmkonferenz der ARD in München
auf Vorschlag des Südwestfunk-Programmdirektors Hans Joachim Lange die
Absetzung des Films beschlossen - aus Gründen der Fürsorge für
die homosexuelle Minderheit. Befürchtung: »Der Film könnte geeignet
sein, Vorurteile gegen Homosexuelle zu bestätigen oder zu verstärken.«
Der Fernsehdirektor des Bayerischen Fernsehens, Helmut Oeller, gab für
den Mehrheitsbeschluß jedoch das Argument preis: »Wir stehen als
öffentliche Anstalt im Dienste der Mehrheit.« Als ein Jahr später,
am 15.Januar 1973, doch eine Aufführung im ARD-Programm zustandekam, schaltete
sich Bayern, da es sich nun einmal in den Dienst der Heteros gestellt hatte,
aus dem Programm aus. Es erntete dafür Lob und Tadel. Karlheinz Böhm,
Kolumnist einer populären TV-Zeitschrift, verurteilte in seiner Kolumne
(»Mein Programm«) die Absetzung. »Aus Protest bleibt heute
die Röhre kalt.« Der Schwulenfilm fand seine ersten Engagierten.
Das Fernsehen hatte im unmittelbaren
Anschluß an den Film für die Ausstrahlung modellhafter Diskussionen
gesorgt. Deren Zweck illustrierte im ARD-Programm Moderator Reinhard Münchenhagen.
Er verließ seinen Platz, sagte: »Es war einmal einer, der sagte,
er sei ein Berliner, obwohl er keiner war. Ich sage nichts, sondern handele«
- und setzte sich unter die Schwulen. Im übrigen wurde zum Schluß
der Sendung eine Organisationsadresse für alle Schwulen bekanntgegeben.
In Münster. Dort fand die erste Demonstration der deutschen Schwulenbewegung
statt.
Die Fernsehdiskussion gab Volkes
Stimme nicht wieder. »Fernsehen propagiert Sittenzersetzung«, notierte
die Presse. »Ist es pervers, nicht homosexuell zu sein?«
Zur »öffentlichen Zusammenrottung schwuler Intellektuellenhaufen
zum Kampf gegen die vom Grundgesetz geschützte Familie« gibt eine
Zeitung unter dem Titel »Aufstand der Perversen« das Urteil eines
Taxifahrers wieder: »Jetzt weiß ich, warum Hitler die schwulen Säue
ins KZ gesteckt hat.« Diese Meinung »wundert uns in der Tat nicht« nach
dem »Auftritt des Anarchokommunisten Rosa von Praunheim in der Runde intellektueller
Gesäßsexualisten«. »Menschen unterster Kulturstufe«
»dürfen im Fernsehen straffrei junge Menschen fürs schwule Heerlager
rekrutieren«: diese Pressesätze stellen ein Bürgerkriegsinszenarium
auf: der Kampf gegen die Untermenschen im eigenen Land. Praunheim hatte die
Emotionen erfolgreich aufgeheizt. Das ging auch der intellektuellen Presse zu
weit. Wolf Donner bemängelte, daß der Film so »unpolitisch«
ist: »Daß Homosexualität eine Klassenfrage ist - das mußte
man in Praunheims Film eher erraten.«
In den Diskussionen, die den Filmaufführungen
folgten, bekam Praunheim gerade von seiner Zielgruppe, den Schwulen, böse
Worte zu hören. Diese bezogen sich freilich nicht auf das Versäumnis,
die Klassenfrage zu erörtern. Sie war statt dessen Gefühlsausbruch.
Schon die Erstaufführung des Films, auf dem Forum des Jungen Films während
der Berliner Filmfestspiele 1971, platzte unter dem betroffenen Publikum wie
eine Bombe. »Es gab eine wütende, nahezu brutale Diskussion, voller
Anschuldigungen, Ausfälle, Gehässigkeiten und widersprüchlichen
Analysen der homosexuellen Lage«, schrieb die Süddeutsche
Zeitung und kommentierte diese »immense
Provokation« als »richtig, nützlich, notwendig«. Praunheim
gelang es, die schwule Entrüstung, deren Ausmaß ihn allerdings überraschte,
strategiegemäß zu kanalisieren. 1971 gründete sich im Anschluß
an die Aufführung des Films im berliner Arsenal-Kino die erste deutsche
politische Schwulengruppe, 39 weitere folgten in den nächsten Jahren.
Große Resonanz hatte Praunheim
in den USA und in Kanada. Da dort die Schwulen bereits organisiert waren, stieß
die Inauguration der Schwulenbewegung freilich ins Leere. Gegenstand der Diskussionen
war das Kampfmittel selbst: der Nutzen von Provokation und Entrüstung.
1972 lief der Film in New York im Museum of Modern Art. Die anschließende
kontroverse Diskussion wurde auf einem halbstündigen Film festgehalten.
Er dokumentiert die Entrüstung eines Publikums, das sich im Schwulenfilm
nicht wiedererkannt hatte und den Film als schwulenfeindlich einzustufen bereit
war. Das Diskussionsdokument wurde in Amerika im Anschluß an die Filmaufführung
in den folgenden Jahren gezeigt. So auch 1977 in der Veranstaltung des Film
Forums in New York, das den Film zwei Wochen lang im ausverkauften Vandam Street
Theatre wiederaufführte. Dort erfuhr Praunheim überraschenderweise
Zustimmung. Der Schwulenfilm wurde als Insiderkritik akzeptiert. Die Aufführungen
im new yorker Firehouse der Gay Activists Alliance und im Glines Gay Art Center
zeitigten zweierlei Reaktion. Spontan zollte »eine militante Gemeinde
von radikalen Tunten, Lederleuten, Päderasten, alten und jungen Schwulen
ungeheuren Applaus«; in der Diskussion gab es eine aggressive und wilde
Wortschlacht, Wutgeheul und Beschimpfungen, deren Ausmaß und Erfindungsreichtum
»die Sex Pistols übertreffen«. Ein Filmdokument dieser Diskussion,
gefilmt von Wieland Schultz-Keil, ist im Besitz Praunheims, ein Videoband, in
den USA eingesetzt, dokumentiert die schwulenpolitische Brisanz des Films. Die
Reaktionsfilme zwangen das amerikanische Publikum, sich nicht nur mit Praunheims
Schwulenfilm, sondern auch mit den eigenen - aufgezeichneten - Reaktionen zu
befassen, so während der Aufführung von NICHT DER HOMOSEXUELLE 1978
auf dem Gay Cultural Festival der Christian Association at the University of
Pennsylvania und der Gays at Penn in Philadelphia.
Die Publikumsreaktionen anläßlich
der Aufführung 1979 in Montreal veranlaßten Praunheim, sich mit Anita
Bryant zu vergleichen, der publikumswirksamen Schwulenjägerin jener Jahre
- jedoch als Kritiker des eigenen Lagers und des therapeutischen Effekts halber. Von Le Berdache, dem Verbandsorgan der Vereinigung
für die Rechte der schwulen Gemeinde in Quebec, wurde ihm vorgeworfen,
nur das Negative zu zeigen. Der Artikel erschien sogleich in englischer Übersetzung
in Boston. Die Empörung erledigte sich nicht mit der jeweiligen Veranstaltung.
Sie hievte Praunheim auf die Titelseiten der schwulen Zeitungen. Ebenfalls im
Jahr 1979 wurde er als »Trouble-Shooter« auf dem Titel der Zweiwochen-Zeitung
Gay News vorgestellt - neben Anita Bryant.
Riesenversalien zielen auf sein Konterfei: IS THIS HOMOSEXUAL GIVING US A BAD
NAME? Innerhalb der Schwulenbewegung und ihrer Presse war Praunheims Rolle als
»Gay Cinema's Enfant Terrible« - so die Überschrift in The Advocate im Januar 1980 - fixiert."'
Nicht seine Argumentation, sondern seine Bilder zählten und ihr Vermögen,
die alleräußersten Effekte: Hysterie im schwulen Publikum zu erzeugen,
es aus der beharrlichen Anpassung wenigstens an diesem Punkt herauszulösen.
Doch Ende der 70er Jahre wollte das Publikum eine Bestätigung für
die Erfolge der Schwulenbewegung haben, und Praunheims Film von 1970 bot keine
schwule Love Story, sondern erinnerte an das, was immer noch nicht erledigt
war.
Der Heteropresse in den Staaten
verschloß sich die Dimension des Films. Vincent Canbys Statement in der
New York Times zufolge ging es dem Film lediglich ums verbale Manifest: »ein
militant marxistischer Aufruf für ein Ende der Schwulenunterdrückung«.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: Rosa von Praunheim; Band 30 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1984, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung
des Carl Hanser Verlags
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation,
in der er lebt
Regie, Buch, Ton: Rosa von Praunheim. - Kamera: Robert van Ackeren,
Rosa von Praunheim (nicht aufgeführt). - Kamera-Assistenz: Dieter Milster.
- Schnitt: Jean-Claude Piroue. - Musik: Archivaufnahmen. - Maske: Hans-Peter
Knöpfle. - Regie-Assistenz: Pia Richter-Haaser, Johannes Flütsch.
- Theoretische Mitarbeit: Martin Dannekker, Sigurd Wurl. - Darsteller: Bernd
Feuerhelm (Daniel), Berryt Bohlen (Clemens), Ernst Kuchling (Der Reiche), Dietmar
Kracht, Steven Adamczewski, Manfred Salzgeber (alle uncredited), u.v.a. - Sprecher:
Volker Eschke, Michael Bolze, Rosa von Praunheim. - P: Bavaria Atelier GmbH
im Auftrag des WDR. - Produzent: Werner Kließ. - Herstellungsleitung:
Lutz Hengst. - Produktionsleitung: Dieter Minx. - Aufnahmeleitung: Peter Skwara.
- Drehort: Berlin. - Produktions-Kosten: ca. 250 000 DM. - Format: 16 mm, Farbe
(Kodak). – Original-Länge: 67 min. - Uraufführung: 4.7. 1971, Internationales
Forum des jungen Films, Berlin; 2.9. 1971, Hamburger Filmschau. - TV: 31.1.
1972 (WDR III); 15.1. 1973 (ARD, außer Bayern). - Verleih: Freunde der
Deutschen Kinemathek (16 mm).
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