Nichts als die Wahrheit
Schon den Titel dominiert sie, und auch während des Films wird sie am
häufigsten genannt und am erbittertsten gesucht: die Wahrheit. Ihr Inhalt
könnte - gerade angesichts der jüngsten Debatte um die Veröffentlichung
der Adolf Eichmann-Memoiren - brisanter kaum sein. Denn es geht um Josef
Mengeles Wahrheit, um die der sogenannten Nachgeborenen, um die der
deutschen Justiz und letztlich um die Wahrheit von und in Auschwitz. Was
das Verhältnis zwischen Wahrheit, Film und Titel angeht, so hat Nichts als
die Wahrheit kürzlich erst eine bemerkenswerte Wandlung erfahren: Bei der
Umwandlung des Arbeitstitels "After the Truth" in den aktuellen
Verleihtitel ist aus dem Zustand "nach der Wahrheit" jetzt radikal sie
selbst geworden.
Dieser Wahrheit nun jedoch als Kritik-Strategie eine andere, vielleicht
"die richtige" gegenüberzustellen, hieße die Problematik dieses Films zu
kopieren. Ein Weg, nicht allein einer eindrucksvollen Behauptung mit einer
anderen zu antworten, liegt darin, nach der Funktionsweise eben dieser
Titel gebenden Wahrheit in Roland Suso Richters Film zu fragen; und
danach, in welchem Kontext sie entsteht und was sich mit ihr anfangen
lässt.
Nichts als die Wahrheit erzählt eine spekulative Geschichte. Josef
Mengele, "der Todesengel von Auschwitz", ist entgegen offizieller Angaben
nicht 1979 in Südamerika ertrunken. Er lebt und sorgt mit Hilfe
einflussreicher Neonazis dafür, dass der Anwalt Peter Rohm (Kai
Wiesinger), "der einzige deutsche Mengele-Experte", in sein
südamerikanisches Exil entführt wird. Als der schockierte Rohm dort das
Angebot ablehnt, nun aus erster Hand Informationen über seinen verhassten
Forschungsgegenstand zu erhalten, mit dem er den gleichen Heimatort teilt,
folgt ihm Mengele bei seinem Rückflug nach Deutschland, stellt sich der
deutschen Justiz und verkündet noch am Flughafen, dass Rohm seine
Verteidigung übernehmen werde.
Rohms schwangere Frau Rebekka (Karoline Eichhorn), die als Journalistin
zusammen mit ihrem Mann jahrelang über Mengele recherchiert hat, und der
befreundete Holocaust-Forscher Daniel Ginsberg (Stephan Schwartz) können
kaum fassen, dass Rohm nach langem Zögern schließlich Mengeles Wunsch
entspricht. Der Prozess beginnt, in dessen Verlauf Rohm von Antifaschisten
bedroht und von Neonazis geschützt wird. "Es ist nicht nur ihr Alptraum.",
klärt der ermittelnde Staatsanwalt (Peter Roggisch) Rohm auf. "Es ist auch
mein Alptraum und es könnte der Alptraum einer ganzen Nation werden."
Dieses Szenario ist der Rahmen, in dem die Fragen nach Wahrheit und
Schuld entwickelt und beantwortet werden. Parallel zueinander, halb
Thriller, halb "courtroom-drama", wird die Schuld Mengeles und die seines
Verteidigers verhandelt, die darin zu liegen scheint, "einen der größten
Verbrecher der Menschheitsgeschichte" zu verteidigen. Die sich darin
manifestierende Orientierung am Überverbrecher Mengele wird zum
dramaturgischen Kern von Nichts als die Wahrheit - es könnte auch kaum
anders sein, denn Josef Mengele wird von Götz George gespielt.
Von seinem ersten Auftritt an zeigt George, in welche Kino-Kategorie er
seine Figur führen wird: das Monströse mitsamt der von ihr ausgehenden
Faszination ist seine Welt, und diesmal wird sie nicht wie beim Totmacher
durch räumlich-zeitliche Enge und eine Strenge der Inszenierung
konterkariert. Zwei Farben hat Josef Mengele, braun und schwarz. Die erste
gibt ihm im Bademantel, Anzug oder Trenchcoat etwas von einem Mönch, seine
vom Alter leicht gebückte Haltung lässt ihn ständig sinnierend erscheinen.
Und tatsächlich philosophiert er über sich und kommt zu dem Schluss, mit
einem Akt der Menschlichkeit seine Opfer in Auschwitz von den Leiden im KZ
erlöst zu haben.
Sein erster Auftritt im Gerichtssaal zeigt ihn in einem schwarzen Anzug,
hinter einem Panzerglaskasten als Bühne und Schutz vor Attentätern. Sein
weißer, kahler Schädel mit den blutleeren Lippen, gegen die er matt und
regelmäßig ein Taschentuch drückt, hebt sich deutlich sichtbar von allem
anderen im Saale ab. Ein schwarzer Rollkragenpullover richtet den Spot auf
Georges theaterhafte Maske. So sieht es aus: Mephisto steht hier vor
Gericht, das Böse schlechthin, das wie immer mit seiner radikalen
Offenheit beeindruckt und damit sogar seine Nazi-Freunde und Financiers
gegen sich aufbringt. Deren Lüge von der "Auschwitz-Lüge" entzieht er den
Boden: "Auschwitz war ein Vernichtungslager, das wissen sie doch, Herr
Staatsanwalt". Sich selbst präsentiert er als forschender Mediziner und
außerdem als Produkt seiner Zeit: "Ich war nie Nazi, ich habe mich mit dem
System arrangiert wie unzählige andere auch."
Genau hier kommt es zum zentralen Bruch in Nichts als die Wahrheit. Auf
der einen Seite steht die Strategie der Verteidigung, die der
Ausnahmestellung Mengeles als Schlächter von Auschwitz widerspricht. Rohm
versteht sein Mandat weniger als Auftrag zur Entlastung Mengeles als
vielmehr zur Belastung des Kontexts. Über dem "Es waren die Umstände" aber
schwebt die Inszenierung der mythischen Figur Mengele, das Spiel Götz
Georges, das gepaart mit Maske und Licht Mengele genau zu jenem
transzendentalen Wesen macht, gegen das er selbst und seine Verteidigung
anargumentieren. Georges Fingernägel, etwas länger als üblich und sogar
spitz zulaufend, sind die Insignien eines Untoten der deutschen
Geschichte, der Nosferatu näher steht als der Banalität des Bösen. Und so
ist es nicht verwunderlich, dass sein Anwalt sich wie Draculas Renfield
unter dem Bannstrahl seines überlebensgroßen Mandanten zu verändern droht.
Endgültig unsterblich scheint der krebskranke Mengele aber erst, als die
ehemaligen Nazifreunde ihm ob seines Verrats bereits die Todesspritze in
den Arm gesetzt haben, und dieser - "Ich glaube der Skorpion wird nicht
zustechen" - seinen Tod mit übermenschlicher Gelassenheit abwendet.
Abstrahiert man jedoch soweit es geht von der Präsenz des Bösen (und von
den interessanten Beziehungen zwischen Götz Georges Rolle und Heinrich
Georges Position als Schauspieler im "Dritten Reich"), was sagt dann
Nichts als die Wahrheit über jenen Kontext der Verbrechen? Thema ist hier
fast ausschließlich die medizinische Ethik, in deren Logik die
"Vernichtung unwerten Lebens" zum Prinzip werden konnte. Diese verknüpft
Rohm vor allem mit bereits vor 1933 arrivierten Überlegungen zur
Euthanasie und zeigt Parallelen auf, die bis zur aktuellen medizinischen
Praxis führen. Ansonsten ist die Zeit der Kontext, wobei damit im
günstigsten Fall auf das Wissen des Publikums um die NS-Ideologie
spekuliert wird. Wer davon wenig weiß oder wissen will, für den oder die
wird die Zeit hier zu einer ähnlich mystischen Größe wie die Leinwandfigur
Mengele.
"Anständig bleiben und darüber als Mensch zerbrechen." Davon hatte Peter
Rohm zu Anfang des Films gesprochen, und natürlich wird dieser Satz zur
Beschreibung Rohms eigener Entwicklung im Laufe des Prozesses. Der
Gerechtigkeit und der Wahrheit wegen hatte er die Verteidigung übernommen.
"Ich will wissen, was uns verbindet." Die Suche nach den persönlichen
Beziehungen zu dem NS-Unrecht, die Rohm schließlich tatsächlich zu
Verbrechen innerhalb der eigenen Familie führt, hat neben den wichtigen
Verweisen auf Kontinuität und Aktualität so immer auch schon den Charakter
einer Suche nach dem Monster in sich. Ob es, wie der Staatsanwalt sagt,
tatsächlich so einfach ist, "ein besserer Mensch zu sein als Mengele",
dieser Frage will sich Nichts als die Wahrheit stellen.
Die Antwort, die der Film tatsächlich findet, führt zunächst über den
Umweg der heutigen politischen Situation. In einer perfiden Montage wird
zwischen die vorgetragene Anklageschrift, zwischen die Taten Mengeles,
eine Schlägerei zwischen Antifaschisten und Neonazis geschnitten, in der
die einzelnen Gruppen nicht mehr voneinander zu trennen sind. Ein Haufen
Ideologie - angesichts des historischen Überverbrechers werden die
unterschiedlichsten Gruppierungen zu einer einzigen großen Masse,
gleichsam zu seinen Kindern. Nur einmal wird Gewalt von einer einzelnen
politischen Gruppe ganz offensichtlich zuschreibbar verübt, als nämlich
eine Handvoll Antifaschisten zwei Neonazis hinterrücks verprügeln. Dem
entgegen steht gleichwohl eine permanente, verbale Diskreditierung der
Neonazis. Selbst Mengele schüttelt angewidert den Kopf über "diese
kahlköpfigen Massen mit ihren Baseballschlägern". Einerseits mag dies auf
den Selbstbetrug Mengeles verweisen; andererseits ist es ein weiterer
Schritt auf dem Weg einer endgültigen, apolitischen Entnazifizierung:
Ideologie an sich muss hier - wie kann es anders sein in diesen Zeiten der
panischen Suche nach "Mitte"? - eine diffuse Bedrohung bleiben, mit der
eigentlich niemand, auch Mengele nicht, etwas zu tun haben will.
Zum guten Schluss findet dann die Erforschung des Monströsen ihr klares
Ende. Rohm ist doch nicht vom Bösen infiziert, und mit der Frage nach der
Schuld Menegeles ist auch die nach dem Unterschied zwischen ihm und den
"besseren Menschen" geklärt. Unsere Ehre heißt Reue. Sich selbst schuldig
zu fühlen führt zur Entlastung, so dass auch auf diese Weise der Weg vom
Kontext, von der Zeit, wieder zum Persönlichen zurückführt. Die letzten
Bilder von Nichts als die Wahrheit gehören darum wieder einzig und allein
dem Kinohelden Mengele/George, der uns im Abspann zwischen Großaufnahmen
seines Gesichts seine Wahrheiten ins Ohr flüstert. Diese handeln - und
hier spiegelt sich noch einmal das Dilemma des Films - einerseits von den
Korrelationen zwischen Mengeles medizinischer Ethik und der heutigen und
sind andererseits einmal mehr die Bühne für den Mythos Mengele. Ganz so,
als wolle Nichts als die Wahrheit nun endgültig jene Funktion für seine
historische Figur übernehmen, die der Staatsanwalt kurz zuvor mahnend dem
ganzen Prozess zugeschrieben hatte: "Josef Mengele ist befriedigt. Er hat
es geschafft, seinen Mythos mit einem Menschen aus Fleisch und Blut
Konturen zu geben. Dieser Mensch hat längst über uns alle gesiegt."
Wenn dem so ist, so müsste schließlich diskutiert werden, ob mit dieser
Inthronisation des Mengele-Mephisto eine andere Form der
Auseinandersetzung mit dem Holocaust im hiesigen Kino begonnen hat.
Rezeptions-Studien werden sich damit beschäftigen müssen, ob für Nichts
als die Wahrheit der gleiche Satz gilt, den Mengele in diesem Film auf die
Frage antwortet, warum er jetzt zu einem Prozess in Deutschland bereit
ist: "Die Zeit ist reif."
Jan Distelmeyer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd film 10/99
Nichts als die Wahrheit (1998/99)
After the truth
Deutschland - 1998/99 - 128 min. - Scope
FSK:
ab 12; feiertagsfrei
Prädikat:
wertvoll
Verleih:
Helkon
Columbia TriStar (Video)
Erstaufführung:
23.9.1999/6.6.2000 Video
Fd-Nummer:
33862
Produktionsfirma:
Helkon/Studio Babelsberg Independent/Edward R. Pressman Corp.
Produktion:
Werner Koenig
Regie:
Roland Suso Richter
Buch:
Johannes W. Betz
Kamera:
Martin Langer
Schnitt:
Peter Adam
Darsteller:
Kai Wiesinger (Peter Rohm)
Götz George (Baumgarten/Josef Mengele)
Karoline Eichhorn (Rebekka Rohm)
Doris Schade (Hilde Rohm)
Peter Roggisch (Heribert Vogt)
Bastian Trost (Felix Hillmann)