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No
Exit
Die Stadt der verlassenen
Kinder
„No Exit“ – Franziska Tenners dokumentarisches
Gruppenporträt aus der rechten Szene in Frankfurt/Oder
Ein adrett aussehender junger Mann, der sich zu Mozarts
„Kleiner Nachtmusik“ das kurzgeschorene Haupthaar scheitelt. Eine Frau im weißen
Lonsdale-Sweatshirt fährt in der Regionalbahn zum Knastbesuch bei ihrem
Verlobten. Ein hagerer Glatzkopf berichtet von Gewaltausbrüchen und Angst.
Nur Mitleid kennt er nicht.
Nico, Conny und Bibi nennen sich Kameraden. Seit
dem Verbot neonazistischer Organisationen Mitte der neunziger Jahre sind besonders
im Osten Deutschlands neue informelle Zusammenschlüsse rechtsradikaler
Jugendlicher aus dem Boden geschossen, die sich eher als Freundeskreise denn
als straff organisierte Verbände verstehen. Vier solcher sogenannter Nationalen
Kameradschaften gibt es allein in Frankfurt an der Oder. Eine von ihnen ist
die „Freie Kameradschaft Frankfurt/Oder“, die 2001 von dem damals 21-jährigen
NPD-Mitglied Nico mit einigen Gleichgesinnten gegründet wurde: eine Clique
von sechs Personen, die sich in der Öffentlichkeit als bunter Trupp mit
sozialem Anspruch darstellt, der die Kids von der Straße und vom Alkohol
wegholen will.
Mit Unterschriftenaktionen gegen Kinderschänder
versucht man, Aufmerksamkeit zu schaffen. Einmal in der Woche trifft man sich
außerdem in Nicos Altbauwohnung zur Schulung mit Vorträgen über
Patriotismus und Wikinger und bei Arte mitgeschnittenen Nazifilmen wie Veit
Harlans „Kolberg“, die von den Anwesenden mit mehr Skepsis als Enthusiasmus
genossen werden. Der Dokumentaristin und Rechtsextremismus-Expertin Franziska
Tenner ist es gelungen, einigen Mitgliedern der Freien Kameradschaft vorsichtig
näher zu kommen und sie ein Jahr lang filmisch in ihrem Alltag zu begleiten.
Das Ergebnis der Arbeit ist „No Exit“, ein in drei
Porträtstücke gegliederter Dokumentarfilm über den Alltag der
Kameraden und Kameradinnen von der Couchecke zum Straßenstand: Nico, der
NPD- und Versicherungsvertreter, der als Kind von seiner Mutter verlassen wurde
und sich nichts inniger als eine liebe, familiensinnige und ordentliche Frau
wünscht. Conny, Mutter und mit 28 die Älteste der Gruppe, die ihren
Rassismus mit der unglücklichen Beziehung zu einem marokkanischen Student
begründet. Und Bibi, der harmlos herumkichernde Gruppenclown, der im März
2000 in der Frankfurter Innenstadt einen anderen 19-Jährigen grundlos zusammengeprügelt
hat und jetzt dafür in den Knast soll.
Es sind Menschen, in deren Leben Gewalterfahrungen
und Vernachlässigung eine zentrale Rolle spielen. Verlierer, die sich von
Familie und Gesellschaft im Stich gelassen fühlen. Jugendliche auch, die
so ratlos und unbedarft durch die Welt gehen, dass sie nicht mal die schlichten
Sätze von Nicos Schulungstexten verstehen und sich dabei auch noch oberschlau
vorkommen. Auch auf die Bitte der Regisseurin, doch einmal die vorgeblichen
Ideale jenseits von Heim, Frau und Vaterland zu erklären, kommt nur hilfloses
Schweigen.
Diese geistige Erbärmlichkeit, die das Gruppenklima
bestimmt, ist wohl der nachhaltigste Eindruck des Films. Doch Vorsicht – das
verleitet dazu, die offenbare Harmlosigkeit dieser Jungdummen auf andere Teile
der rechten Szene zu übertragen. Auch die derzeitige NPD-Strategie, die
Kameradschaften zur Rekrutierung von politischem Nachwuchs zu instrumentalisieren,
wird aus „No Exit“ wohl nur denen sichtbar, die schon vorher von dieser Praxis
wussten.
So verdienstvoll Franziskas Tenners Porträt
in seinem intimen Beobachtungsreichtum auch ist: Die Debatte um das Thema Nationale
Kameradschaften braucht auch den Blick auf das soziale Feld. Was ist das für
ein Ort, wo einer wie Nico in einem Altersheim mit nationalistischen Kampfliedern
wehrlose Greise beklampfen darf? Was sind das für Heimleiterinnen, die
solch geistige Vergewaltigung absegnen? Und wie sieht es erst in den Kindergärten
aus?
Die Freie Kameradschaft hat sich mittlerweile zersplittert.
Nico hat eine neue Gruppe gegründet. Und Conny eine Stelle als Altenpflegerin
bekommen. Aber das wird hoffentlich ein anderer Film.
Silvia Hallensleben
Dieser
Text ist zuerst erschienen im: Tagesspiegel
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diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
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No
Exit
Deutschland
2003 - Regie: Franziska Tenner - Darsteller: Nico, Bibi, Conny, Fischi, André
- Länge: 100 min. - Start: 19.2.2004
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