Nordrand
Zupfen und Zausen
Margarethe Tiesel ist die Älteste unter den jungen Leuten am
"Nordrand". Blond, lockig, österreichisch-üppig und in einem Rock,
der ihr zu kurz ist. Energisch zupft sie ihn sich herunter, während
sie am Zausen ist, nämlich der Tochter, wie Mütter es tun, den Kopf
zurechtsetzt. Zupf und zaus. Zupf und zaus. Margarethe kenne ich
schon längst. Ich habe sie auf der Bühne brillieren sehen; in der
Remise, dem alten Wiener Tram-Depot, sind wir zusammen aufgetreten;
ja, ich habe sogar bei ihr gewohnt, in der Mariahilfer Straße,
Hochbett, in Wien trennt man sich lieb mit einem singenden "Babaa",
und es ist alles nur gespielt; ich weiß es jetzt, weil das Zupf &
Zaus die Wahrheit ist, die allein- und einzige, die
"Nordrand"-Margarethe ist die wirkliche Margarethe.
Überhaupt sind alle Leute, die in "Nordrand" spielen, echt.
"Authentisch" wäre schon das falsche Wort; es röche nach Botschaft
und Regieanweisung (bringt das mal schön authentisch rüber); im Film
wird jedoch niemand instrumentalisiert, etwas zu vermitteln; gerade
deswegen stimmt das, was gezupft und gezaust wird. Dabei war das
Risiko groß, den "Nordrand" als Forum politischer sowie moralischer
Botschaften zu nutzen. Wir sind, neudeutsch gesagt, in einer
Plattenbausiedlung im Norden Wiens. 1995. Nachrichten vom Krieg in
Jugoslawien, der TV-Sprecher verliest das Dayton-Abkommen. Die
Schülerinnen Jasmin und Tamara treffen sich in der Abtreibungsklinik
wieder. Hinterher geht es weiter wie vorher. Sex mit dem jungen Mann
aus Sarajevo? Mit dem Netten aus Rumänien? Mit dem Wiener, der als
etwas arbeitet, das dort Präsenzdiener genannt wird? Das lädt ein,
Vorschläge zur Weltverbesserung zu machen. Oder den üblichen
verdächtigen Beziehungskitsch zu verbraten. Unter der Regie von
Barbara Albert: nichts davon! Ein Wunder: Es geht in ihrem Film weder
um Beziehungen noch um Beziehungslosigkeit; wohl aber um ein wenig
Spaß am Wen-Treffen und ein bißchen Sex und um die Depression, die im
Hintergrund lauert. Jasmin liegt betrunken im Schnee, die Jungs
prügeln sich, die Mutter nervt, das Leben nervt, grad deswegen
braucht sie Lidschatten, grellblauen, die Bomberjacke und die
Dauerwelle, um unbedingt euphorisch zu werden.
Was im Film passiert, ist nicht vorherzusehen. Deswegen bleibt man
dran, und deswegen wäre es blöd, hier eine Handlung zu erzählen, um
die es sowieso nicht geht. Barbara Albert, die Regisseurin, gab auf
der Bühne des Kinos in Graz dementsprechend nicht die eindeutigen
Statements ab, die die Volksbelehrer im Publikum von ihr erwarteten.
Welche Forderungen richtet sie an die österreichische
Ausländerpolitik? Wie steht sie zu Belgrad? Was ist ihre klare
Position zur Abtreibung? Barbara Albert, fast schon 30, antwortete
auf die Ansinnen mit einer Flut von Gegenfragen, die sie an sich
selbst richtete. Sie wirkte viel jünger, Studentin eher in den ersten
Semestern, echt unsicher und daher überzeugend.
Allerorten gewinnt sie Preise für ihren Film. Nach dem großen Erfolg
von "Nordrand" würde es sich lohnen, den Film, den sie ein Jahr zuvor
gedreht hat, ins Kino zu holen. Dabei handelt es sich um die Episode
"Tagada" im Drei-Episoden-Film "Slidin'" - Alles bunt und wunderbar.
Auch hier geht es ums Zusehen, auf die Beachtung der textilen,
sprachlichen, gestischen, Schmink-Codes, ums Verhalten, um die
Erprobung von Nähe, um peripheren Sex, um unvorhersehbare Brutalität,
um zwei Freundinnen, um Jugendliche, die herumziehen, um die
wunderbare Welle, die dann doch nicht trägt. Schon in "Slidin'" sind
die tausend echten Details angenehm rhythmisiert; der Film ist echt -
auch wenn sie nicht dabei ist, Mutter Margarethe Tiesel.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen im:
Nordrand. A 1999.
R,B: Barbara Albert. K: Christine A. Maier.
S: Monika Willi. P:
Fama/Lotus/Zero. D: Nina
Proll, Edita Malovcic,
Astrit Alihajdaraj,
Michael Tanczos,
Margarethe Tiesel u.a.
103 Min. Ventura
31.8.00