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Nostalghia
Bei seinem ersten nicht in der UdSSR gedrehten Film
hat Andrej Tarkovskij seine Innenwelt gewissermaßen als Reisegepäck
mit sich genommen, seine Verwurzelung in der russischen Kultur, Tradition und
Geisteswelt, und sie in ein neues Ambiente projiziert, das italienische; um
damit die traumhafte Konfrontation - mehr noch als Durchdringung - zweier Weltsichten
herzustellen, um das nicht-Begreifen der westlichen Welt durch sich selbst und
seinen Helden zu thematisieren; und um die Linie seiner phantastischen, philosophischen
Erzählungen, wie er sie schon in »Solaris«, »Der
Spiegel« und »Stalker«
begonnen hatte, konsequent fortzuführen. Eigentlich spürt man keinen
Bruch zwischen diesem Film und Tarkovskijs vorangehenden Werken. Es ist vielmehr
frappierend zu beobachten, wie exakt sich die traumhaften Bildwelten insbesondere
aus »Stalker« hier wiederfinden und fortsetzen. Man ist von Anbeginn
auch dieses Films in der typischen Tarkovskij-Welt metaphysischer Traumbilder
gefangen.
Das erste, was man nach dem Ansehen dieses Films
festhalten möchte, sind formale Dinge. »Nostalghia« ist noch
vor seinen Ideen und Konzepten ein Film über Zeit und Raum. In höchst
faszinierender Weise tun sich in diesem Film immer wieder Räume auf, wobei
der eine im anderen enthalten ist oder auf ihn hinleitet, durch langsame, unendlich
lange Bewegungen und Fahrten der Kamera: da ist der Raum der Landschaft, insbesondere
intensiv festgehalten im mehrfach wiederkehrenden mythischen Bild eines Hügel-Abhangs,
wo im Hintergrund ein Baum und ein Haus sichtbar werden sowie ein kleiner See
oder Teich, über den meist Nebel wallen. Diese schwarz-weißen Bilder
(die Gegenwarts-Passagen des Films sind dagegen in Farbe) wirken wie Rückblenden
in die Kindheit oder wie die Erinnerung des Emigranten an die Welt seiner Heimat,
die er verlassen hat und nicht mehr zurückgewinnen kann. Dann ist da der
Raum des großen Zimmers mit dem Bett in der Mitte, der durch wechselnde
Beleuchtung und Kamerastandpunkte immer wieder eine andere Realitätsebene
zum Vorschein bringt (man wird an den Raum des Stalker aus dem gleichnamigen
Film erinnert). Aus dem Innenraum des Hauses, wo der geistesgestörte Mann
lebt, entfaltet sich durch insistierende Beobachtung der Kamera wieder eine
zuerst artifizielle und dann „natürliche" Landschaft (aus dem Mikrokosmos
wird ein Makrokosmos). Und die Kirchenräume muß man erwähnen.
Die Entfaltung phantastischer, dunkler und vieldeutiger Bild-Metaphern ist das
eigentliche Erlebnis, das der Film vermittelt. Dabei sind Traum, Erinnerung
und Realität keine voneinander getrennten Bereiche; sie erscheinen vielmehr
als Bestandteil ein und desselben Kontinuums. Erst jenseits dieser Ebene beginnt
sich so etwas wie eine Geschichte oder eine Thematik zu formieren.
Das äußere Handlungsgerüst des Film
besteht in der Reise eines sowjetischen Dichters oder Intellektuellen nach Italien,
um dort die Person eines emigrierten russischen Musikers zu erforschen, der
hier vor 200 Jahren gelebt hat (damit ist die Thematik der Emigration und der
Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, die man liebt, aber in der man nicht leben
kann - einer Krankheit, wie Tarkovskij sie versteht: „Nostalghia" im Gegensatz
zum mehr trivialen Terminus „Nostalgie" - gleich in doppelter Weise gegeben).
Auf dieser Reise begegnen ihm jedoch ganz andere Dinge. Seine italienische Begleiterin,
Eugenia (diese Figur ist vergleichsweise am schwächsten gezeichnet), trennt
sich von ihm; ihr gegenüber steht die nur in der Erinnerung existente,
ferne Frau des Helden, Maria. Insbesondere aber wird die Begegnung mit einem
Menschen, den seine Umwelt als Irren ansieht, für den Russen zum Schlüsselerlebnis:
einem schon älteren Mann, der seine Familie sieben Jahre eingesperrt hat,
um sie vor einer Berührung mit der Welt zu bewahren, und der später
in Rom als Redner auftritt (vor einem Transparent: „Wir sind keine Irren, wir
meinen es ernst!"), die gegenwärtige Zivilisation anklagt und sich
dann (als Fanal?) selbst in Brand steckt. Zur gleichen Zeit vollzieht der Russe
das, wozu der Italiener nicht imstande war, weil die anderen ihn als „Irren"
immer daran gehindert hatten: er trägt eine brennende Kerze quer durch
ein offenes Thermalbad (das aber als er an diesen Ort zurückkehrt, ausgetrocknet
daliegt). Ein gleichnishafter, filmisch stark dramatisierter Vorgang, ein Akt
der Identifikation und des Opfers, der einer genauen Deutung sich entzieht,
aber sicher religiöse Untertöne besitzt. Um Religion und den Glauben
geht es vielfach in diesem Film, ja um das Wunder: in einer Kirche fliegen aus
der Statue der Madonna, die von einer Frau angebetet wird, plötzlich viele
Vögel heraus. Zwischen den Zeilen und manchmal auch manifest zeichnet sich
Tarkovskijs Kritik an der heutigen Welt und ihrer Zivilisation ab, in der es
nur noch Konsum, aber nicht mehr Spiritualität gibt; gegen die Inhumanität
und Sinnlosigkeit dieser Weltordnung rebellieren der alte Italiener und der
Protagonist, jeder auf seine Weise. Mit dem Hindurchtragen der Kerze durch das
Bad scheint sich allerdings in dem Film doch so etwas wie eine Hoffnung auf
Erlösung zu artikulieren; oder jedenfalls die Hoffnung bzw. der Glaube,
daß eine gleichnishafte Opfer-Handlung (geboren aus dem Mit-Leid) zu irgend
etwas gut sein könnte, daß sie jedenfalls vollzogen werden muß.
Alles dies bringt Tarkovskij nicht als rationalen
Diskurs zum Ausdruck (obwohl in dem Film auch Briefe, Reden und literarische
Texte als Zitat vorkommen), sondern wesentlich durch Bilder und - Töne.
Die Ton- und Geräuschwelt dieses Films ist nicht weniger faszinierend als
seine Bildwelt. Hier spielen Glocken in mannigfacher Form eine Rolle sowie das
Rauschen, Plätschern und Tropfen von Wasser (in Bächen und Flüssen,
als Regen). Insistierend und irritierend ertönt immer wieder das ferne
Geräusch einer Kreissäge. Auch das Hundebellen scheint für Tarkovskij
irgendeine Funktion zu haben. Der Hund erscheint hier (wie schon in »Stalker«)
als Freund und Begleiter des Menschen (ein mythologisches Motiv?).
Zu den schönsten Szenen des Films (und, man
ist versucht zu sagen, der Filmgeschichte) gehört die Schlußvision,
als man den Held (neben ihm den Hund) vor einer kleinen Wasserfläche sitzen
sieht; durch eine langsame Rückfahrt der Kamera enthüllt sich dieses
Bild in seinen einzelnen Schichten und verwandelt sich auch wieder: die Wasserfläche
ist Teil einer Landschaft (noch einmal erscheint das Haus), und dann wird die
Landschaft wiederum als artifizielle Konstruktion, als Einlagerung eines Traummotives
vor dem Hintergrund des zerstörten Kirchenschiffes erkennbar. Ähnlich
vollzieht sich im Ton ein Wechsel der verschiedenen Ebenen (Stimmen, Hundebellen,
ein russisches Volkslied). Am Schluß wird alles von Schnee zugedeckt.
Eine unbeschreiblich schöne, gewaltige und auch wieder verzweifelt traurige
Vision, der die unerfüllbare Sehnsucht nach Rückkehr, nach Geborgensein
eingeschrieben ist.
Ulrich Gregor
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: epd Film 1/1984
Zu diesem
Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Nostalghia
NOSTALGHIA
Frankreich, Italien, Sowjetunion 1982/83
Regie: Andrej Tarkowskij - Buch: Andrej Tarkowskij, Tonino
Guerra. - Kamera: Giuseppe Lanci. - Kameraführung: Giuseppe de Biasi. -
Kamera-Assistenz: Giancarlo Battaglia, Luigi Cecchini. - Schnitt: Amedeo Salfa,
Erminia Marani. - Ton: Remo Ugolinelli. - Ton-Mischung: Fausto Ancillai. - Ton-Effekte:
Luciano Anzellotti, Massimo Anzellotti. - Musik: Claude Debussy, Giuseppe Verdi,
Richard Wagner, Ludwig van Beethoven. - Musikalische Beratung: Gino Peguri.
- Bauten: Andrea Grisanti. - Ausstattung: Mauro Passi. - Kostüme: Lina
Nerli Taviani. - Maske: Giulio Mastrantonio. - Regie-Assistenz: Norman Mozzato,
Larisa Tarkowskaja. - Spezialeffekte: Paolo Ricci.
Darsteller: Oleg Jankowskij (Andrej Gortschakow), Domiziana Giordano
(Eugenia), Erland Josephson (Domenico), Patrizia Terreno (Andrejs Frau), Laura de Marchi (Frau mit Aktentasche), Delia Boccardo
(Domenicos Frau), Milena Vukotic (Gemeindeangestellte), Alberto Canepa (Bauer).
- Produktion: RAI, Rete 2/Opera Film, Rom. - Produktionsleitung: Francesco Casati.
- Aufnahmeleitungl: Filippo Campus, Valentino Signoretti. – Drehzeit: November
1982 - März 1983. - Drehort: Bagno Vignoni, Rom. - Format: 35 mm, Farbe
(Technicolor), sw. -
Originallänge, Deutsche Länge: 130 min. - Urauführung: Mai 1983,
Filmfestspiele Cannes. – Deutsche
Erstaufführung: 26.6. 1983, Filmfest München. - Kinostart: 20.1. 1984.
- TV: 23.12. 1985 (ARD); 23.4. 1987 (BR III). - Verleih: Pandora (35 mm).
Widmung: Dedicato alla memoria di mia madre.
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