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Not
Angels But Angels
Dieser
für das tschechische Fernsehen produzierte Dokumentarfilm kommt dank der
Edition Salzgeber in die Kinos, in die er wegen seiner hervorragenden Bild-
und Tonqualität (35mm, Dolby Stereo) auch gehört. Das Beste ist für
sozial Deklassierte -jugendliche Stricher vom Prager Hauptbahnhof - grade gut
genug, sagte sich Wiktor Grodecki (Buch und Regie) und legte auf der Tonspur
zu den Porträts seiner Protagonisten Musik von Villa Lobos, vor allem aber
die Matthäus-Passion und Mozarts Requiem an. Die Hochkultur reklamieren,
wenn es um den Bereich unterhalb der Gürtellinie geht, das war schon Mitte
der sechziger Jahre die ästhetische Strategie eines Werner Schroeter (SALOME),
der sich und seine Protagonisten nicht ausgrenzen lassen und sich kulturell
nicht bescheiden wollte. „Die 35-mm-Kamera für den Kunstgenuß in
die Bahnhofsklappe", war die schockierende Forderung des selbsternannten
Bürgerschrecks. Heute, da die Provokation als künstlerisches Mittel
längst ausgespielt hat, wird an einem Film wie NOT ANGELS BUT ANGELS deutlich,
welchen Dienst die (hoch-)kulturelle Selbstbedienung den Strichjungen vom Hauptbahnhof
erweist: Sie gibt ihnen ihre Würde zurück.
Ein
ästhetisches Wagnis. Und es ist geglückt. Weil das Motiv dazu einlud.
Gegenbeispiel: der Bahnhof Zoo. Unschwer sich auszumalen, wie die Architektur
dieses Gebäudes Pathos in Peinlichkeit verwandelt und Erhabenes in Schmuddeliges
verkehrt hätte. Aber der grandiose Jahrhundertwendebau des Prager Bahnhofs,
seine wohlerhaltenen Hallen, Kuppeln und Säulen, die raffinierten Lichteinfälle
- kurz die Majestät dieser unversehrten Baukultur regiert real und unangefochten.
Es geht gar nicht anders, als daß ein Abglanz auf die Protagonisten fällt,
die in diesen Räumen ihren Auftritt haben, auch wenn er der Suche nach
dem Freier gilt. Der Drehort gebietet es: Ihr Einsatz, Maestro, das Requiem.
Der
Film macht in der ihm eigenen Architektur/Musik-Konstruktion die Engel/NichtEngel
des Bahnhofs erlebbar. Wir verzichten dankbar auf belehrende Kommentare und
besserwisserische Unterweisung. Bevor die Statements der 14- und 17jährigen
Jungen pädagogisch zurechtgerückt werden, sollten sie zunächst
völlig ,unverrückt' vernommen werden. Und dann hört man unter
den steinernen Putten der Bahnhofsfassade einen Strichjungen sagen, wovor er
am meisten Angst hat: „Vor Intellektuellen und vor Aids." Er sagt das noch
ganz munter. Aber dann wird er während der intelligenten Befragung immer
depressiver. Über das Aidsrisiko entscheidet der Devisenmarkt: Freier aus
dem Westen brauchen bei ihm kein Kondom zu benutzen, sagt unser junger Geschäftsmann.
Aber dann erzählt er vom lmmunschwächetod seiner Freunde, und die
Fassade bricht. Eben noch ein Schulterzucken: „Das Leben ist tödlich."
Dann bricht die Stimme: „Nach der Beerdigung gab mir die Mutter sein Bild. -
Das ist alles, fragt mich nicht mehr." Aber die Kamera bleibt auf seinem
Gesicht, sie folgt ihm, wenn er mit einer Kopfbewegung ihr auszuweichen sucht.
Dann gibt er nach. Eine lange Einstellung.
Offensichtlich
schuldbewußt und mit auffälliger Eile wechselt an dieser zentralen
Stelle der Film das emotionale Klima. In der Disco drängen sich halbnackte
Tänzer frontal vor der wiederum augenfällig präsenten Kamera.
Nächste Einstellung: ein betrunkener, splitternackter Freier torkelt unschön
in einem Prachtsaal des Bahnhofs herum. Wir bleiben notgedrungen gefühlsmäßig
an die Jungen gebunden, deren Köpfe, der Interviewtechnik gehorchend, den
Film füllen. Ganz im Stil der Marktforschungstechnik werden Fragebogenfragen
beantwortet. Preis? Sexualtechnik? Kondome? Treffpunkt? Zuhälter? Kindheit?
Eltern? Freundin? Ängste? Was wir erfahren, ist aufschlußreich. Was
wir sehen, sind nicht Informanten, sondern Persönlichkeiten, über
die nicht gerichtet wird. Selbst die Standfotos, die uns über die einschlägigen
Sexualtechniken nicht im unklaren lassen, werden nicht vom ebenso wohlfeilen
wie fernsehüblichen kommentierenden Wortschwall verhüllt. Die moralische
Inquisition mag kommen. In NOT ANGELS BUT ANGELS ist sie noch nicht da. Im Gegenteil.
Dietrich
Kuhlbrodt
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in: epd film 5/95
Not
Angels But Angels
Tschechische
Republik/F 1994. R, B und Sch: Wiktor Grodecki. P: Miro Vostiar, Frank Beauvais.
K: Vladimir Holomek. T: Jan Cenek. Pg: Mirofilm. V: Salzgeber. L:
80 Min. St: 13.4.1995.
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