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Jean-Luc Godard
Spuren
eines Ganges im Kreise
Postkarte an Jean-Luc Godard zu
seinem 60. Geburtstag und zu "nouvelle vague"
Vorbemerkung
Wie schön wäre es, wenn
einmal für den Moment, vielleicht aus Zufall, alles gesagt wäre, und
man in Ruhe den Tomaten beim Rotwerden zuschauen könnte. Das ist im allgemeinen
der Moment, wo man mit der Zeitung, in der immer das gleiche steht, mit den
Backwaren, die immer gleich schmecken und auf den Füßen, die, links,
rechts, links, rechts, die immergleichen Wege suchen, an den Briefkasten gelangt,
in dem eine farbenprächtige, geheimnisvolle Postkarte ohne Absenderangabe
darauf wartet, mißverstanden zu werden.
Solch eine Postkarte ist, laut
„Libération" Jean-Luc Godards neuer Film NOUVELLE VAGUE: „die Postkarte
eines Freundes, der, um seine Freundschaft zu beweisen, ein Dichterwort über
die Freundschaft geschickt hat. Die beste Art ihm zu antworten - wenn man überhaupt
Lust hat, zu ihm zu sprechen - bleibt, selber auf die Suche nach einem Zitat
aufzubrechen, einem verwandten, um einen Widerhall zu geben". Ich werde
also den Teufel tun und eine „Kritik" über diesen Film verfassen.
Ich schreibe lieber eine Postkarte an Jean-Luc Godard, die heimtückischerweise
Grüße aus dem Urlaub (das Kino ist in diesen Tagen gewiß mehr
Ort für den Urlaub von der öden Unabänderlichkeit der sehr verehrten
D-Mark denn je) mit irgendwelchen Wünschen zum Geburtstag verbindet.
Ich schreibe diese Postkarte,
jenseits der Kritik und durch sie hindurch, um so lieber, als ich NOUVELLE VAGUE,
ungeachtet, nein eingedenk der Ratlosigkeit, die Godard damit verbreitet, für
ein Meisterstück halte, für ein aufregendes Werk des Abschieds und
einen Blick in die Zukunft von Bildern und Tönen.
1. Die Töne: Stimmen aus
dem Off, Stimmen, die zitieren, Stimmen, die sprechen; italienisch / englisch
/ französisch; Automobilgeräusche, Hundegebell, Telefonklingeln, schrille
Signaltriller, Krähenrufe, Musik, Schritte, Türen und Geschirr.
Die Bilder: Bäume, das Wasser,
das, Licht; die Menschen, die Dinge, die Bewegungen. Wiederkehrend der Blick
in den Himmel, als wäre da eine Erklärung. Hände, die sich begegnen,
oder nicht, als ein Wunder, Lichter, Design, Reichtum; die Maschinen, Zeitungen,
der See.
Die Figuren: Er, Sie, der Gärtner,
die Gouvernante, der Manager, der Anwalt, die Sekretärin, der Arzt, die
Frau des Arztes, die Freundinnen, der Fabrikdirektor, der Staatssekretär.
Die Namen: Schpountz, Lennox,
Helene, Torlata Favrini, Warner Communications, Joseph Mankiewicz, Cecile, Dorfman.
Versuchsanordnung: Die Industrielle (Domiziana Giordano) trifft/überfährt
einen Mann (Alain Delon), der sich Lennox nennt. Er wird ihr Geliebter, ohne
sehr glücklich zu sein. Es gibt Geschäfte, Beziehungen, Gedanken,
Rituale. Auf einem Bootsausflug läßt Helena den Mann, der sich Lennox
nennt, im See ertrinken; er kann nicht schwimmen. Der Bruder von Lennox taucht
auf. Er übernimmt bald die Führung über die Geschehnisse. Auf
einem Bootsausflug droht Helena zu ertrinken; Lennox reicht ihr die rettende
Hand. „Du warst das also", erkennt Helena.
Methode: Diese Geschichte, die
in ein paar Minuten erzählt wäre, in die Form eines Zitatspiels in
Wort und Bild bringen. Es gibt in diesem Film keinen Satz, den Godard erfunden
hätte, aber von vielen Zitaten haben sich die Spuren verloren, andere wurden
geändert.
Alles, was darüber hinausgeht,
das geschieht nur in unseren Köpfen. Sagt Jean-Luc Godard. Denn: „Das Zeichen
nötigt uns, für seine Bedeutung ein Objekt uns vorzustellen".
2. „Nicht mehr das Leben der Leute
beschreiben", sinniert Ferdinand in PIERROT LE FOU, „nur noch das Leben,
das Leben allein; das, was zwischen den Menschen ist, den Raum, den Ton und
die Farben". In NOUVELLE VAGUE richtet der Gärtner, der Chronist des
Niedergangs, die Frage an Cecile: „Was sind diese Bilder, die bald frei, bald
eingeschlossen sind, was ist das für ein gewaltiger Gedanke, in dem Gestalten
vorbeiziehen, während Farben leuchten?" Und Cecile, das Dienst-Mädchen,
das Dienen lernen will und doch nur Gewalt und Korruption kennenlernt, antwortet:
„Es ist der Raum. Als wenn der Wind, das seufzende Wasser, die schwebenden Düfte
deines Balsams, als wenn alles, was man hört, sieht oder atmet sagen möchte:
Sie haben geliebt."
3. UNE FEMME MARIEE fragt den
Liebhaber: „Warum redest du die ganze Zeit?" „Du hast nur Worte für
mich", sagt Anna Karina zu Belmondo in PIERROT LE FOU, „aber ich sehe dich
mit Empfindungen an". Endlich sprechen die Liebenden in NOUVELLE VAGUE
miteinander: „das erste und das letzte Mal".
4. NOUVELLE VAGUE gehört
zu jenen Filmen Godards, die wirklich fertiggeworden sind, die, vermute ich,
nicht schon überholt sind, während sie gezeigt werden, und von denen
Godard sich nicht schneller distanzieren muß als sie produziert werden.
In LE GAI SAVOIR gibt es folgende Idee: Man müsse ein Jahr lang Bilder
und Töne sammeln, sie ein weiteres Jahr der Kritik unterziehen, damit es
im dritten zu einer Wiedergeburt der Bilder und Töne kommen könne.
In eben solchen Schritten arbeitet Godard, nur, daß auch das Sammeln und
das Kritisieren in Form von Filmen geschieht. So entstehen zum einen die Filme des Sammelns, der wilden Leidenschaft
für Bilder und der skeptischen Furcht vor ihnen, zum anderen Filme der
Kritik, des Sortierens, Zuordnens und Verwerfens und zum dritten die Filme der
Wiedergeburt, die die beiden vorherigen Phasen sozusagen in Reinschrift zusammenfassen;
so wie PIERROT LE FOU eine Zusammenfassung oder Reinschrift ist, wie TOUT VA
BIEN, SAUVE QUI PEUT (LA VIE) und NUMERO DEUX, so scheint mir NOUVELLE VAGUE
Zusammenfassung und Reinschrift der Bilder und Töne, die Godard in den
letzten Jahren, im Versuch eine Wissenschaft der Gefühle zu entwickeln,
gesammelt und kritisiert hat. In diesen Filmen spürt man so sehr den Abschied,
etwas soll entschieden zu Ende sein (und kann es doch nicht), und die Antizipation:
etwas Neues muß beginnen. NOUVELLE VAGUE weist auf den Beginn von etwas
völlig Neuem, das man vermutlich erst erkennt, wenn Godard seine nächsten
Arbeiten vorlegt oder wenn die Kultur selber zeigt, daß er sie in diesem
Jahr 1990 seismographischer erfaßt hat als alle Kritik es vermocht hätte,
also dann, wenn es eigentlich nichts mehr zu sagen gibt.
5. NOUVELLE VAGUE ist auch ein
Film über Alain Delon. Über das Frankreich nach dem Krieg. Über
das „Weiche" und das „Harte" des Archetyps, des Mannes. Über
die Liebe: Muß immer der eine zögern, damit der andere handelt? „Die
Frauen sind verliebt und die Männer einsam". Welch ein Unsinn! Aber
Sekretärinnen tun immer noch gut daran, so etwas zu sagen. Alain Delon
dementiert, um sich nicht zu demontieren.
6. In Godards Filmen spielt das
Wort und die Vorstellung „Ende" eine zentrale Rolle. „Komm! Ende! Ich muß
gehen", sagt Robert in UNE FEMME MARIEE, Charlotte, außerhalb des
Bildes, sagt „Ja ... ja ... Ende", und dann erscheint das Wort Ende auf
der Leinwand. In CAMERA-ŒIL beendet Godard die Selbstaussage mit „Stop! Ende
der Aufnahme". Und WEEKEND schließt mit „Fin du cinema". Der lange Abschied von
NOUVELLE VAGUE endet mit „Consummatum est".
7. Der Weg Godards führt
von der Großstadt Paris über die politischen Brandpunkte der Welt
an den Genfer See, ein Weg, der auch zurück führt, in einem langen
Kreis, um in NOUVELLE VAGUE in einem Haus anzulangen, das dem der Eltern, der
großbürgerlichen, freien Jugend gleicht.
8. Der Weg führt, anders
gesagt, vom Autor, dem es auf seine Handschrift ankommt (früher hat Godard
ganz direkt per Hand aufs Filmbild geschrieben) über das Kollektiv, das
eine Gruppe, ein Wir ist, hin zu dem solipsistischen „machine" an den Video-Maschinen
weiter zum neuen Autor, der sich als Wissenschaftler fühlt und eine Sehnsucht
danach zeigt, zu verschwinden.
9. Aber schon WEEKEND trug nicht
die Signatur des Autors. Er war vielmehr ein „auf dem Schrottplatz gefundener"
Film. Auch NOUVELLE VAGUE ist nicht signiert, weil auch er ein durch und durch
„gefundener" Film ist. Vielleicht schreckt Godard noch davor zurück,
seinen Namen unter einen Film zu setzen, der zugleich nach rückwärts
und in die Zukunft weist (Godard: Markwert, Methode, Markenzeichen - der vorhersehbare
ökonomische Mißerfolg der Filme gehört in die Kalkulation: Geld
- Zeichen - Kultur).
10. In vielen Filmen Godards ist
der Fluchtpunkt der Tod. Aber von Phase zu Phase heftiger verwerfen seine Figuren
diese Lösung, anfänglich ohne sich gegen sie wehren zu können,
wie noch Pierrot le fou. In SAUVE QUI PEUT (LA VIE) ist endgültig der Tod
keine Lösung mehr; die Unabänderlichkeit indes kommt nun nicht mehr
wie bei Pierrot aus der eigenen Schwäche, sondern von außen. In DETECTIVE
sterben alle am „Komplott" Beteiligten aus lauter Ratlosigkeit: Der Versuch,
vom Zeichen auf das Objekt zu schließen, ist gescheitert, weil die Detektive
(der Filmemacher, der Zuschauer) mehr an Bedeutung erwartet haben als zu erhalten
war. Der Mord, der aus Opportunität geschieht (wie die Liquidation in den
CARABINIERS) und der Selbstmord, der aus Verzweiflung geschieht, nähern
sich immer mehr an, bis sie in NOUVELLE VAGUE untrennbar vermischt sind. Im
Blick von der anderen Seite des Spiegels wird dieser Mord/Selbstmord zwar endgültig
verworfen, aber die Natur der Spiegelung bringt es mit sich, daß wir nun
auch im Weiterleben keine Lösung mehr erkennen können. (Insofern ist
der Kampf gegen den Tod noch nicht gewonnen.)
11. Godard möchte „alles"
in einem Film unterbringen; seine Zitierwut ist nicht die Flucht in die „Bildung"
(dazu geht er auch viel zu frivol mit seinem Material um), sondern ein permanenter
Prozeß der Verarbeitung. Diese Poesie trifft auf eine konkrete Situation
und wird auf ihre Anwendbarkeit hin überprüft. In seinen früheren
Filmen trafen oft die „erfundenen" Figuren auf „echte" Menschen in
der Geschichte, Zitate im Zustand der Reproduktion auf solche im Zustand der
Produktion. Und die wirklichen Produzenten von Ideen erweisen sich zumeist als
skeptisch gegenüber dem Anspruch der Ideen. In NOUVELLE VAGUE dagegen scheint
sich die Poesie, die Poesie des Wortes wie des Bildes, von den Menschen loslösen
zu wollen, so wie in einigen Filmen vordem die einzige Erlösung in der
Musik war, die auch ohne die Menschen weiter existierte.
12. Etwas muß geschehen
sein zwischen dem Ende von Truffauts FAHRENHEIT 451 und dem Beginn von NOUVELLE VAGUE; die Buchmenschen sind in die
Wirklichkeit zurückgekehrt, als Kulturzombies mit zerfetztem Herzen, die
die großen Geschäfte machen, weil sie wissen, daß man Nachrichten
am besten verkauft ohne Menschen dahinter.
Die seltsamen Industriellen von
NOUVELLE VAGUE, die sich wie in einem Gefängnis in der Villa am See bewegen
(und wieder wird DIE SPIELREGEL nicht nur von den Herrschenden bestimmt, die in NOUVELLE VAGUE
nicht müde werden, über mangelnden Einfluß zu klagen, sondern
auch von den Dienern, die in NOUVELLE VAGUE nicht müde werden, ihre Armut
zu betonen wie ein kostbares Gut) - sie beschreiben ein soziales System, von
dem wir eigentlich noch nichts wissen können, und schon gar nichts wissen
wollen.
13. Nennen Sie mir ein großes
Werk aus den Filmgeschichtsbüchern, das in NOUVELLE VAGUE weder in Form
des Motiv-Zitats noch in der Stil-Paraphrase vorkommt. Godard ist seinem Ziel,
„alles" in einem Film zu sagen, immerhin insoweit nahegekommen, als er
eine „Geschichte" entwickelt hat, in der ohne weiteres (fast) alle anderen
Geschichten Platz haben. Es ist also gewissermaßen eine Parabel über
die Parabelhaftigkeit gewisser Situationen, die wir beinahe beliebig mit Film-Parabeln
füllen könnten: TEOREMA, DAS MESSER IM WASSER, DER WÜRGEENGEL, CITIZEN KANE ... und vielleicht ist NOUVELLE VAGUE nicht mehr und nicht weniger
als ein Abschied vom Film als „klassischer" Kunstform.
14. Fast alle Filme von Jean-Luc
Godard sind bei ihrem ersten Erscheinen mit Skepsis, Ratlosigkeit und Mißtrauen
aufgenommen worden, und nicht selten hat der Zensor sie besser verstanden als
die Kritik (insbesondere die von links). Das mag auch daran liegen, daß
Godard nie das gemacht hat, was man so gründlich mißverständlich
einen „realistischen Film" nennt und worunter man Filme versteht, deren
einzelne Elemente sich in einem Mythos der Ganzheit aufheben. Das Allerprivateste,
das Tagebuch, stand stets neben dem Alleröffentlichsten, der Zeitung; aber
wie sollen wir mit einer Nachricht umgehen, die aus einer Tagebucheintragung
(einer Liebeserklärung) und einem Leitartikel (einer Kriegserklärung)
besteht, und darüber hinaus Erzählung und Rede, Poesie und Wissenschaft,
Mittel und Zwecke ohne eindeutige Zuordnung umfaßt? Immer wieder ist erst
Jahre später der Berg von Mißverständnissen und engen Interpretationen
abgebaut worden. Kann man sich vorstellen, daß NOUVELLE VAGUE, diese lächerliche
Tragödie mit den Auf- und Abgängen zwischen Labiche und Robert Altman
(Godard kehrt zur Totalen wie zum Beginn des Kinos zurück), das präzisestmögliche
Bild vom Zusammenbruch des Sozialismus und dem Sieg des Kapitalismus ist? Godard
beschreibt nun das „Spinnennetz der ineinander verschränkten Interessen",
in dem es, wie Delon/Lennox sagt, keine Konkurrenz, nicht einmal mehr die Konturen
einzelner Firmen geben kann, folgerichtig ohne die revolutionäre Alternative,
die vordem außerhalb der Fabel existierte. Die Entmachtung der Kapitalisten
erfolgt durch das Kapital selbst; so ist an die Stelle der revolutionären
Forderungen das präzise Lamento des Gärtners getreten, der zumeist
nur für sich selbst zu sprechen scheint.
15. In LE VENT D`EST antwortet
eine Stimme, die des Autors, im Off auf die Frage Lenins „Was tun?" unter
anderem damit: „Es wagen, zu wissen, wo man ist; es wagen, zu wissen, wo man
herkommt". Auch NOUVELLE VAGUE ist Teil dieses Wagnisses. Eine der Besucherinnen,
die sich langweilt, weil sie nicht ganz identisch ist mit dem Geschäft
und der Etikette, erhält auf ihre wiederkehrende Frage, was man tun könne,
als Antwort: „Bewundere die Natur", später „Bewundere die Architektur",
noch später „Bewundere die Einrichtung". Diese ironische Antwort auf
die für Godard und uns nicht beantwortete Frage nach dem „Was tun?"
führt auf das Prinzip der Verfehlung, das in NOUVELLE VAGUE vorherrscht.
Die Liebenden verfehlen einander, die Klassen verfehlen einander, die Sätze
verfehlen einander, sogar die Macht verfehlt ihre Ziele. Aber die Frage und
die scheinbar so verfehlte Antwort weist auf etwas anderes noch hin, nämlich
auf das Sehen. So ist auch hier eine Variation des „Wagen, zu sehen, wo man
ist" zu spüren; Godard verlangt eben dies von uns.
16. In Godards Filmen geht es
immer auch um das Gefängnis und den Ausbruch daraus. Die Großbürgerwohnung
in LA CHINOISE, die Vorstadt in 2 OU 3 CHOSES QUE JE SAIS D'ELLE, das Irrenhaus
in PRENOM: CARMEN, das Hotelzimmer in DETECTIVE und nun die Villa am Genfer
See: Das Verlassen fällt schwer, weil Godards Helden, der romantische Grübler
wie Pierrot und der melancholische Tatmensch wie Lemmy Caution, die in NOUVELLE
VAGUE beide auftreten, so müde sind; müde ist Belmondo als Gangster
in A BOUT DE SOUFFLE, müde, so müde sind Johnny Hallyday und Claude Brasseur
in DETECTIVE, und müde ist auch Delon diesseits des Spiegels in NOUVELLE
VAGUE. Sie finden keine Stärke in ihrer Rolle.
17. „J'arrivederci" (ich
komme/auf Wiedersehen) sagt Delon und wirft seine Schuhe hinter sich, als er
sich zu seiner letzten Bootsfahrt mit Domiziana Giordano aufmacht.
18. Geht Godard in NOUVELLE VAGUE
wirklich an die Wurzeln (s)einer Kino-Geschichte? Gewiß tauchen hunderte
Male Motive aus früheren Godard-Filmen auf, und der Film wirkt auch, als
beabsichtigte jemand, der dem „Godardismus" nicht vollständig verfallen
ist, Truffaut, Rohmer, Chabrol, Rivette und den anderen etwas zu sagen, das
man nur alten Freunden sagen kann. Erinnert Ihr Euch noch? Nein: Was tun?
19. Godard läßt auf
den richtigen Film den schönen folgen, in NOUVELLE VAGUE in einem vereint.
Und es gibt eine neue Bewegung, die durch seinen Film geht, eine Wellenbewegung.
Statt wie früher in die Tiefe zu gehen (mir fällt das „Herbeizitieren"
der Figuren aus einer Gruppe ein, wie in LES CARABINIERS) schwenkt die Kamera
nun in der Waagerechten. Aber anders als bei Greenaway, mit dem es an der Oberfläche
Ähnlichkeiten gibt, nutzt Godard diese heftige Bewegung nicht, um die konträren
Räume einander zu öffnen, sondern um eine Bewegung zu erzeugen, die
uns schwindeln macht, ein„ Schaukeln" zwischen den Polen, das einen imaginären
Punkt der Ruhe beschreibt. Godard scheut sich nicht, die Kamera auf diese Weise
über das Wasser des Genfer Sees schaukeln zu lassen, Welle auf Welle. Diese
Bewegung der Kamera, die sich zu bemühen scheint, durch den Spiegel zu
schwenken, setzt sich in der Bewegung der Protagonisten fort, die durch ihr
ständiges Kommen und Gehen eine solche Schaukelbewegung provozieren, bis
sie davongespült werden.
20. In SAUVE QUI PEUT (LA VIE)
mußte der Regisseur noch schäbig sterben; in PASSION flüchtet
er vor seiner eigenen Arbeit, in PRENOM: CARMEN verläßt er das Irrenhaus,
um bei einem Coup als Tarnung zu dienen. In den nächsten Filmen, JE VOUS
SALUE, MARIE, DETECTIVE und NOUVELLE VAGUE braucht Godard die Tarnung/Macht
der Kamera nicht mehr (die, wie er einmal verlautbaren ließ, sein einziges
Band zur Wirklichkeit ist); Godard kann sich nun ganz auf seine Experimente
einlassen, und er beginnt, ob er es wahrhaben will oder nicht, welche intellektuellen
Revolten er auch in seine Bilder und Töne einbaut, wirklich zu erzählen.
Dies natürlich auf eine neue Art, in der die prinzipielle Gleichwertigkeit
der Elemente und Aussagen beibehalten ist.
21. In den Filmen vorher hat Godard
zaghaft die Schönheit als Lösungsmöglichkeit umkreist; zuerst
die Musik, die ihm um so vieles unschuldiger als die Bilder scheinen muß,
die Schönheit der entrückten Frau dann, schließlich die Schönheit
in umfassenderen Beziehungen. NOUVELLE VAGUE ist als Ganzes schön, es gibt
nicht ein einziges Bild, das diese Schönheit in Frage stellt. Aber diese
Schönheit ist gefährlich, weil sie an keiner Stelle an eine Utopie
gebunden ist, weil sie an nichts außer sich selbst glauben macht.
Godard gelingt es, Ideen wie Töne
zu verwenden, um so etwas wie eine „Denk-Oper" zu schaffen. Natur, Gesellschaft,
Technik, Geld, Macht, Geschichte, Sexualität, der Tod, die Sprache - das
sind die eigentlichen Protagonisten, die sich in Sätzen materialisieren.
22. Immer hat Godard versucht
zu erklären, daß alles auch ganz anders sein könnte. Er ist
sich dessen so sicher, daß er, wie in JE VOUS SALUE, MARIE und NOUVELLE
VAGUE, damit Mythen der Prädestination umkreist. Es kann alles auch ganz
anders sein. Oder?
Der Autor will verschwinden: „Wichtiger
als die Filme, die ich gemacht habe, sind die Filme, die ich nicht gemacht habe".
Aber in demselben Interview, in dem dieser Satz fiel, sagt Godard auch, daß
er einst nicht bedacht habe, daß, wenn man ein Vietnam in sich erschaffe,
auch ein Amerika in sich erschaffe. Mit dem Tod/dem Schweigen erschüfe
man demnach die Lautstärke des anderen.
Godard weiß, daß er
nicht verschwinden kann. Er ist, wie es in einer Mauerschrift des Jahres 1968
in Paris hieß, „das größte Arschloch unter den schweizer Filmemachern".
Am 2. Dezember wird er sechzig Jahre alt.
Georg Seeßlen
Dieser Text
ist zuerst erschienen in epd Film 11/90
NOUVELLE VAGUE
Schweiz/Frankreich 1990. R: Jean-Luc Godard. K: William Lubtchansky,
Christophe Pollock, Frank Messmer. Sch: Jean-Luc Godard. T Francois Musy, Pierre-Alain Besse. A:
Anne-Marie Mieville. Ko: Ingeborg Dietsche, Marie-Francoise Perochon. Pg: Vega
Film/Sara Films/Peripheria. P: Alain Sarde. V: Kinowelt. L: 89 Min. St: 15.11.1990.
D: Alain Delon (Lennox), Domiziana Giordano (Sie), Roland Amstutz (Der Gärtner),
Laurence Cote (Die Gouvernante), Jacques Dacqmine (Der Manager), Christophe
Odent (Der Anwalt), Laurence Guerre (Die Sekretärin), Joseph Lisbona (Der
Arzt).
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