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O Brother, Where Art Thou?
Ich
hatte einen wunderbaren Traum.
Dass
es ein Traum war, habe ich gleich gemerkt: Denn solche Farben, die gibt's nicht
in der Welt. Sonnenversengt und ausgebleicht, kein bisschen Grün, kaum
Rot, kühlendes Blau nur nachts. Wie alte, gilbe Photos, wie Gemälde,
wie frühe Filme, von Hand mit Gelb und Braun koloriert.
Eine
staubige, trockene, knochenhelle Welt mit einer Patina der Nostalgie.
Es
war ein Traum vom Amerika der frühen 1930er Jahre, der Zeit der Depression.
Und alle waren sie da: Babyface Nelson, der berüchtigte Bankräuber,
Robert Johnson, die Blues-Legende (im Traum hatte er - wie das in Träumen
so ist - einen anderen Namen), die landstreichenden Hobos, die sadistischen
Sheriffs und die korrupten Politiker mit ihren Wahlkampfversprechen, die knorrigen
Ladenbesitzer und degenerierten Kleinst-Farmer. Die fugitives from a chain gang,
entflohene Kettensträflinge im gestreiften Häftlingsgewand.
Und
Haarpomade. Ich erinnere mich genau an die Marke: Dapper Dan. Denn die war ganz
wichtig. (Sie wissen, wie das in Träumen ist, wo die seltsamsten Details
ohne Erklärung eine ungeheure Bedeutung bekommen.)
Es
war ein Traum voller Gesichter, die ich aus ähnlichen Träumen kannte,
nur unter anderen Namen. Der leicht debile Pete war mir schon mal als kleiner
Mafia-Gangster erschienen und als verzweifelter Drehbuchautor, der dicke Senator
Pappy O'Daniel als Millionär im Rollstuhl. Und einer der entflohenen Sträflinge
sah genau aus wie George Clooney. Aber er war es nicht. Denn da war so viel
Selbstironie mit im Spiel, so viele Witze über seine Obsession mit seiner
Frisur, so viel dauernd komisch gegen die Wand gelaufene Selbstüberschätzung.
Und sogar eine hinreissend dämliche Bauerntölpel-Tanznummer. Das würde
George Clooney in echt nie machen.
Irgendwie
ist mir auch Homers Odyssee in den Traum geraten. (Sie wissen, wie das in Träumen
ist, wo die seltsamsten Dinge aufeinandertreffen und sich vermischen.) Da wurden
die drei entflohenen Sträflinge zu Odysseus und seinen Gefährten.
Da gab's den blinden Seher, den Zyklop, die Sirenen, und die bevorstehende Hochzeit
von Odysseus Frau mit einem anderen. Aber ganz egal, was die Traumdeuter alle
sagen werden: Das war eine falsche Fährte, das hatte keine wirklich tiefe
Bedeutung. Das war ein Spiel der Bilder, ein launischer Erfindungstrick des
Unterbewusstseins. (Genau wie diese Referenzen an Preston Sturges' SULLIVAN'S
TRAVELS, die da gelegentlich auftauchten.)
Wobei:
Es war, wie gesagt, ein Traum von Amerika. Aber nicht einer von diesen Schmelztiegel-Träumen,
in denen die kulturellen Zutaten aus aller Welt - auch die aus dem antiken Griechenland
- zu so einem schönen, amerikanischen Allgemein-Süppchen verkochen.
Es war ein Traum von einem Amerika der vielen voneinander getrennten Kulturen.
Wo fast jeder und jede ein ganz eigenes Englisch spricht. (Auch das war wie
so manchmal im Traum: Diese unterschiedlichen Sprachen, diese Dialekte, Akzente,
Vokabulare waren von einer solch überdeutlichen Genauigkeit und Treffsicherheit,
dass sie eine seltsame Hyperrealität ausstrahlten, eine Stilisiertheit,
die an der Wahrheit hinter der Wirklichkeit rührt.)
Wo
die Vorstellungen in den Köpfen - von Herkunft, Schicht, "Rasse",
Bildung geprägt - oft sehr hart auf die von anderen, Mächtigeren gestaltete
Realität prallen. Wo amerikanische Kultur nichts Vorgegebenes ist (ganz
gleich, wie überzeugt der Zyklop und seine bettlakenbedeckten Freunde davon
sind, die Hüter des einzigen wahren und echten AmeriKKKas zu sein) - sondern
wo kaum jemand, der an ihr Teil hat, je ganz in ihr aufgeht. Wo alles in ständiger
Verhandlung befindlich ist und die Zutaten frei herumgeschwemmt werden wie von
der Flut eines geborstenen Damms erfasst, wie Gedankenfetzen in einem Traum.
(Es
scheint mir, dass es da schon ein paar Träume aus der selben Quelle gab,
die Ähnliches gesagt haben.)
Vor
allem war es aber ein Traum voller Musik. Im Himmel muss es solche Musik geben,
wenn die Engel statt Harfen Banjos, Fiddeln, Gitarren und Zupfbass spielen.
Wenn sie statt "Hallelujah" und "Hossianna" Bluegrass und
Country und Blues singen. So wie diese entflohenen Sträflinge, die's ohne
es zu wollen oder zu wissen als "Soggy Bottom Boys" zu Radio-Ruhm
bringen.
Musik,
die mir noch lange im Kopf umging, nachdem ich schon wieder wach war.
Komisch
übrigens: Ich weiß, dass der Traum irgendwann vorbei war. Dass ich
grinsend und glücklich und bestens gelaunt wieder in unserer Tageswelt
stand.
Aber
ich kann mich nicht daran erinnen, aufgewacht zu sein.
Seltsam:
Denn es muss ein Traum gewesen sein. Weil es sowas Schönes in der Wirklichkeit
doch gar nicht gibt. Im Leben sowieso nicht. Und eigentlich auch nicht (mehr)
im Kino.
Es
sei denn vielleicht in den Big Rock Candy Mountains.
Thomas Willmann
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
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O Brother, Where Art Thou?
USA
2000 - 107 Minuten - FSK: 12
Regie:
Joel Coen
Kamera:
Roger Deakins
Drehbuch: Joel Coen, Ethan Coen
Besetzung: George Clooney, John Turturro, Tim Blake Nelson, Holly
Hunter u.a.
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