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Oliver
Twist
(2005)
Moderner Horror
im klassischen London
Düster und sozialkritisch: Roman Polanski
bringt „Oliver Twist“ ins Kino
Bereits Roman Polanskis eigene Kindheit offenbart,
dass es Parallelen gibt zwischen bestimmten biografischen Spuren und der fiktiven
Lebensgeschichte des Waisenjungen Oliver Twist in Charles Dickens' Jugendroman
„Oliver Twist“. Der in Polen geborene Regisseur, der durch den Holocaust seine
Eltern verloren hat, wurde in den Nachkriegsjahren selbst durch diverse Pflegefamilien
und Waisenhäuser gereicht. Dickens' märchenhafter Kinderklassiker
gewinnt für ihn somit an Subtext und traumatischer Dichte – sicher auch
ein Grund dafür, dass seine „Oliver Twist“-Verfilmung so düster geraten
ist.
Polanskis London ist ein Moloch, dreckig, heruntergekommen,
stinkend. Dieser verfluchte Ort stellt den größtmöglichen Gegensatz
zum pastoralen englischen Landleben dar, das die Bilder von Kameramann Pawel
Edelman heraufbeschwören: die unberührte Natur – in Referenz an die
englische Landschaftsmalerei – als ultimative Verkörperung von Britishness
sowie das einfache Leben der Bauern.
Ronald Harwoods Drehbuch hat die Vorlage notwendigerweise
verschlankt, um den für Polanski interessanten Subtext aus dem Klassiker
zu destillieren; trotzdem ist diese neue Adaption mit 130 Minuten von beachtlicher
objektiver und mitunter auch gefühlter Länge. Doch Polanskis Fokus
auf den Hauptstrang von Dickens' Erzählung ist schlüssig. Durch die
Ausklammerung aller märchenhaften Elemente findet sein Oliver Twist (Barney
Clark) zum sozialkritischen Kern der Erzählung. Die Fabrik der Kinderarbeiter,
Olivers Flucht durch die Instanzen der sozialen Regulierung und die Slums von
London, in denen er schließlich landet, sind allesamt mit grimmiger Detailtreue
gezeichnet. Auch der Unterschlupf bei Fagin (Ben Kingsley) ist kein Ort menschlicher
Wärme. Aber wie schon in „Der
Pianist“ findet Polanskis Protagonist
ausgerechnet im Feind einen unmöglichen Verbündeten.
Kingsley spielt Fagin als tragische Figur mit burlesken
Zügen. Seine körperlichen Deformationen rühren nicht – wie noch
bei Dickens – an antisemitische Ressentiments (Kingsley unterspielt Fagins jüdische
Abstammung dezent), sie sind sein soziales Stigma. Fagin ist nicht mehr als
Jude vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, sondern als Klassenloser.
Darum kann sein Refugium zunächst auch als utopischer Ort durchgehen. Die
Straßenkinder, die Fagin um sich versammelt hat, stellen unter den gegebenen
gesellschaftlichen Verhältnissen eine Art Ersatzfamilie dar. Der Schurke
ist bei Polanski nicht der Rattenfänger Fagin. Diese Rolle ist Bill Sykes
überlassen, den Jamie Foreman als unberechenbaren Soziopathen spielt. Sykes
ist die bedrohlichste Figur in „Oliver Twist“; die Schatten, die er über
Fagins kleines Utopia wirft, sind lang und schwarz.
Polanski findet in „Oliver Twist“
eine schöne Balance zwischen Pastoralem, Burleskem und Schrecklichem, wobei
er nie die traumatischen, hässlichen Qualitäten der Romanvorlage aus
den Augen verliert und somit den modernen Horror von Dickens’ Geschichte sehr
sorgfältig herausgearbeitet hat. In keiner Szene wird das so deutlich wie
im Epilog, dem Polanski noch einen
perfiden Effet verpasst hat. Olivers Besuch
beim eingekerkerten Fagin fungiert als Absolution und Verdammnis zugleich. Fagin
ist dem Wahnsinn verfallen, Olivers Dank erreicht seinen Adressaten nicht mehr.
Es ist ein krankes Szenario wie aus „Se7en“ oder „Das
Schweigen der Lämmer“ und den Horrorbildern,
die Polanski bereits in „Rosemarys
Baby“ oder „Macbeth“ entworfen hat, mehr als ebenbürtig.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: epd Film
Zu diesem Film gibt es im archiv mehrere Texte
Oliver
Twist
Frankreich / Großbritannien / Tschechien 2005 -
Regie: Roman Polanski - Darsteller: Barney Clark, Ben Kingsley, Jamie Foreman,
Harry Eden, Leanne Rowe, Lewis Chase, Edward Hardwicke, Jeremy Swift, Mark Strong - FSK: ab 12 - Länge: 128 min. - Start: 22.12.2005
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