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Die
Vergessenen (1950)
Mit „Los Olvidados“ meldete sich Luis Buñuel 1950 nach langen Jahren im Exil auf der internationalen Bühne zurück. Es war dies sein erster eigentlicher Spielfilm seit „L’age d’ Or“ von 1930, dazwischen waren nur einige Dokumentationen und Auftragsarbeiten entstanden. „Los Olvidados“ war der erste einer ganzen Reihe von Filmen, die Buñuel in den 50er Jahren in Mexiko drehte und es ist wahrscheinlich sein wichtigster Film dieses Jahrzehnts.
Im Vorspann erfahren wir, dass der Film auf realen Fakten beruhe und Buñuel recherchierte tatsächlich persönlich in den Slums von Mexiko-City um das Werk so realistisch wie möglich zu gestalten. Der Film beginnt mit einer quasi-dokumentarischen Einleitung. Armut und Jugendkriminalität seien ein Problem in allen Metropolen der Welt, verkündet uns eine Stimme aus dem Off. Namentlich New York, London und Paris werden dabei genannt, und Mexiko-City macht hier keine Ausnahme. Dann führt die Kamera uns mitten hinein in die Elendsviertel der Stadt und konfrontiert uns mit einer Bande jugendlicher Krimineller. Was Buñuel uns bietet, ist ein Blick in eine Welt der Armut, Gemeinheit und Hoffnungslosigkeit. In eine Welt, in der Eltern ihre Kinder verstoßen und in der Blinde und Krüppel ausgeraubt werden. Es ist ein Blick in die Hölle.
Die erste Reaktion auf den Film war eine allseitige
Entrüstung. Wie nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal hatte Buñuel
es wieder geschafft, alle Seiten vor den Kopf zu stoßen. Viele Organisationen
einschließlich der Gewerkschaften verlangten seine Ausweisung aus Mexiko.
Man warf ihm Verleumdung des Staates vor. Die Aufregung legte sich erst als
Buñuel für den Film 1951 in Cannes den Hauptpreis als Regisseur
erhielt.
Zwei Jugendliche stehen im Mittelpunkt des Films,
der ältere Jaibo (Roberto Cobo), der nach seiner Flucht aus dem Gefängnis
schnell zum Chef der Bande wird und der jüngere Pedro (Alfonso Mejía),
ein im Grunde gutherziger Junge, dem aber keine Chance gegeben wird. Jaibo zeichnet
sich aus durch völlige Skrupellosigkeit und das Fehlen jeglichen Mitleids.
Er animiert die anderen, einen blinden Bettler auszurauben und einen Beinamputierten
zu überfallen, um etwas Geld und Zigaretten zu erbeuten. Buñuel
zeigt uns diese Szenen in völlig objektiver Darstellung und mit quälender
Ausführlichkeit, ohne uns grausame Details zu ersparen. Doch werden uns
die Opfer nicht sympathisch gemacht. Die Armen und Krüppel, die beraubt
werden, sind selbst nicht viel besser und nutzen jede Gelegenheit, noch Schwächere
oder Kinder auszunutzen, was uns vor allem am Beispiel des blinden Bettlers
(Miguel Inclan) vorgeführt wird, oder sie flüchten in den Alkohol.
Armut und Elend machen die Menschen nicht gut und milde, sondern nur böse
und gemein, so Buñuels Botschaft. Das Elend veredelt die Menschen nicht,
sondern erzeugt einen Kreislauf der Ausnutzung und Gewalt, der so lange anhält
wie die gesellschaftlichen Verhältnisse die gleichen bleiben. Später
wird Buñuel das gleiche Thema in seinen Film „Viridiana“ aufgreifen.
Jaibo beschuldigt Julian, einen jungen Bauarbeiter,
er sei Schuld an seiner Verhaftung und ermordet ihn hinterrücks. Pedro
wird Mitwisser dieser Tat und von diesem Moment an ist sein Schicksal mit dem
Jaibos verbunden. Dabei will Pedro kein Krimineller sein, er will gut sein,
wie er seiner Mutter versichert. Am Beispiel Pedros veranschaulicht uns Buñuel,
wie Güte und der Versuch anständig zu bleiben von den Verhältnissen
konterkariert werden. Wir sehen Pedro wie er zu seiner Mutter nach Hause kommt.
„Ich habe Hunger“, sagt er und will doch nur etwas zu Essen. Doch die Mutter
(Estela Inda), die ganz allein noch drei kleinere Kinder zu versorgen hat, weist
ihn zurück, solange er keine Arbeit hat. Die Beziehungen selbst der engsten
Familienmitglieder sind so ganz aufs Materielle reduziert. Pedro stiehlt seiner
Mutter schließlich etwas zu essen, da er sich nicht anders zu helfen weiß.
Dabei lechzt Pedro nach der Liebe seiner Mutter, die jedoch durch die Verhältnisse
so verbittert und ausgebrannt ist, dass sie ihrem Sohn nicht das kleinste Zeichen
von Zuneigung geben kann. Als Pedros endlich bei einem Schmied eine kleine Hilfsarbeit
gefunden hat, bringt er der Mutter, die gerade beim Bohnen Verlesen ist, das
Geld nach Hause. Ungestüm küsst er die Hand der Mutter, doch diese
stößt ihn weg, da er einige Bohnen verschüttete. Indirekt wird
im Film suggeriert, dass Pedro ein ungewolltes Kind war, das seine Mutter schon
mit 14 hatte, eventuell gar als Ergebnis einer Vergewaltigung.
In einer grandiosen surrealen Traumszene zeigt uns
Buñuel die Situation des jungen Pedro. Die Mutter ist in seinem Traum
freundlich und lächelt liebevoll. „Ich möchte immer bei dir sein“,
sagt Pedro und er fragt sie: „Warum küsst du mich nie?“ Doch als Pedro
unter sein Bett schaut, sieht er den blutüberströmten toten Julian
mit offenen Augen liegen. Das Unheil und die Schuld liegen unter dem Bett. Im
Traum bringt die Mutter ihrem Sohn ein großes rohes Stück Fleisch,
doch als Pedro danach greifen will, kommt von unter dem Bett die Hand Jaibos
hervor und dieser entreißt Pedro das Fleisch. Diese Szene deutet schon
voraus, darauf, dass Jaibo mehr Liebe von Pedros Mutter erringen wird als der
eigene Sohn. Diese Traumszene ist in einer unwirklichen, fast gespenstischen
Atmosphäre inszeniert. Die Personen bewegen sich im Zeitlupentempo durch
pfeifenden Wind, sie sprechen ohne den Mund zu bewegen. Die Bilder sind so eindringlich,
dass man sie nie mehr vergessen kann.
Jaibo stiehlt Pedros Chef ein Messer und lenkt den
Verdacht auf Pedro, so dass dieser von der Polizei gesucht wird. Gleichzeitig
kommt er zu Pedros Mutter, die gerade dabei ist, die Füße zu waschen.
Wir haben in dieser Szene ein Beispiel des für Buñuel typischen
Fußfetischismus vor uns. In all seinen Filmen stehen nackte Füße
und nackte Beine für Sexualität. Jaibos lüsterne Blicke machen
die Situation eindeutig. Bei einem zweiten Besuch wird das Motiv nochmals abgewandelt
und als Jaibo sich verabschieden will, da er sich offensichtlich nicht traut,
die Frau anzusprechen, da lädt Pedros Mutter ihn quasi ein. „Gehst du schon?“,
fragt sie mit träger Stimme und Jaibo kehrt in der Tür um. Die Tür
fällt dann zu und verbirgt vor dem Zuschauer das Offensichtliche.
Während seines Besuchs bei Pedros Mutter sagt
Jaibo: „Es muss schön sein, eine Mutter zu haben.“ Seine Mutter war gestorben,
als er ein Kind war, erzählt er. Er weiß nichts von ihr. Er kann
sich nur an das Gesicht einer freundlichen Frau erinnern, die ihn einst tröstete
als er als kleines Kind geschlagen wurde. Niemand habe ihn später so angeschaut,
deshalb glaube er, es sei seine Mutter gewesen. Doch vielleicht war es nur ein
Traum, fügt er hinzu. Buñuel erweitert hier den Charakter Jaibos.
Seine Bösartigkeit wird zwar nicht gemildert, aber der Film erinnert daran,
dass auch Jaibo einmal ein Kind war und dass er erst zu dem geworden ist, was
er jetzt ist. Er wurde so, weil ihm die Liebe seiner Mutter fehlte, und diese
fehlte ihm, weil die Gesellschaft, in der er aufwuchs, seiner Familie keine
Chance ließ. Hier drängt sich die Parallele zu Pedro auf und die
Frage, ob auch aus Pedro, den die eigene Mutter nicht lieben kann, einmal ein
Verbrecher wie Jaibo werden könnte. Oder umgekehrt, ob Jaibo unter anderen
Verhältnissen, ein anderer hätte werden können.
Zwei Leitmotive durchziehen den ganzen Film. Da ist
zum einen das ständige Auftauchen von schwarzen und weißen Hühnern.
Weiße Hühner erscheinen meist als Opfer und werden getötet,
während das Auftauchen eines schwarzen Hahnes Unheil und Gewalt repräsentiert.
Wir treffen einen schwarzen Hahn zum ersten Mal, wenn der blinde Bettler verprügelt
am Boden liegt und der Hahn fast höhnisch ihm in Augenhöhe gegenüber
steht. Als der alte Vater Julians jammernd durch die Siedlung stolpert und nach
seinem Sohn sucht, erscheint ein schwarzer Hahn, den Pedro verjagt. Als Pedros
Mutter seinen Kuss zurückstößt, dringt ein schwarzer Hahn in
den kleinen Hühnerstall der Familie ein und die Mutter versucht ihn zu
erschlagen. Pedro weint verzweifelt und ruft, sie soll nicht mehr schlagen.
Das zweite Leitmotiv ist die Rolle von Milch als Symbol
der Unschuld. Neben Jaibo und Pedro gibt es noch zwei weitere Kinder, die im
Film eine größere Rolle einnehmen. Es sind dies Ojito (Mario Ramirez),
ein Junge vom Dorf, den sein Vater auf dem Markt des Viertels ausgesetzt hatte
und Meche (Alma Delia Fuentes), ein junges Mädchen, das bei ihrem Großvater
lebt, in dessen Stall Ojito, aber auch Jaibo und Pedro Unterschlupf finden.
Diese beiden, Ojito und Meche sind noch unverdorben und trotz mancher Angriffe
können sie es bis zum Ende des Films bleiben, zumindest Ojito, der die
Stadt mit ungewissem Schicksal wieder verlässt. Im Zusammenhang mit ihnen
taucht das Milchmotiv immer wieder auf, als ein Symbol von Reinheit und Unschuld.
Wenn Jaibo und Pedro keine Milch mehr gewinnen können, trinkt Ojito direkt
aus dem Euter der Ziege und Meche wäscht sich gar mit Milch. Als Jaibo
Meche vergewaltigen will, ist Ojito der einzige, der ihr hilft, sogar ihrem
leiblichen Bruder ist es egal. Und Ojito hilft ihr später nochmals als
der blinde Bettler sie zu sexuellen Handlungen nötigen will. Diese beiden
verkörpern als einzige so etwas wie Hoffnung. Doch auch Pedro hatte so
begonnen und selbst Jaibo, hatte einen unschuldigen kindlichen Kern. Deshalb
steht zu fürchten, dass auch sie beide Verlorene sind.
Doch noch eine andere Hoffnung wird im Film vorgestellt. Als Pedro verhaftet wird, schickt man ihn auf eine Jugendfarm, eine Art Besserungsanstalt. Diese erscheint als Hort des Humanismus. Jeder Jugendliche hat die Möglichkeit dort eine Ausbildung zu machen. Der Direktor strahlt einen unverwüstlichen Optimismus aus und als Pedro mit anderen Jugendlichen Streit bekommt, will der Direktor ihm helfen. Er erkennt, dass es Pedros Problem ist, dass ihm niemand Vertrauen entgegen bringt. Deshalb zeigt er Pedro, dass die Anstalt kein Gefängnis ist, er darf die Anlage verlassen und der Direktor gibt ihm sogar Geld mit, damit Pedro für ihn Zigaretten kaufen soll. Diese Szene und die Erklärung des Direktors für seinen Mitarbeiter sind im Stil eines Lehrfilms inszeniert, sogar mit entsprechender Musik. „Und was ist, wenn er nicht zurückkommt?“, fragt der Mitarbeiter. „Dann habe ich 50 Pesos verloren“, sagt der Direktor achselzuckend. Buñuel macht mit dieser Darstellung deutlich, dass die Absichten der Jugendfarm zwar lobenswert sein mögen, dass der humanistische Ansatz aber trotzdem naiv ist. In einer anderen Welt kann dies durchaus Erfolg haben. In der Welt von „Los Olvidados“ ist diese Art der Hoffnung nur eine Illusion. Sobald Pedro die Anlage verlässt, trifft er auf Jaibo, der ihm sofort das Geld abnimmt.
Pedro wagt es nicht mehr zurückzukehren und sucht
die Auseinandersetzung mit Jaibo. Vor all den anderen Jugendlichen kommt es
zum erbitterten Kampf zwischen Pedro und Jaibo und Pedro beschuldigt nun endlich
den Gegner des Mordes an Julian. Jaibo flieht und Pedro versteckt sich im Stall
von Meches Großvater. Angekündigt von einem schwarzen Hahn kommt
es zur Tragödie. Jaibo findet Pedro und tötet ihn. Meche und ihr Großvater
finden den Toten und der Großvater will nicht in die Sache hineingezogen
werden. Deshalb laden sie den toten Pedro auf einen Esel und bringen ihn weg.
Der Blinde führte in der Zwischenzeit die Polizei zu Jaibos Versteck und
dieser wird bei seiner Rückkehr erschossen, was der Blinde mit den Worten
„Einer weniger. Würden sie nur alle vor ihrer Geburt getötet“, kommentiert.
Der Moment von Jaibos Tod wird als eine zweite Traumszene
inszeniert. Jaibo liegt am Boden und sieht im Traum einen streunenden Hund laufen.
„Ich falle in ein schwarzes Loch“, ruft er mit der Stimme eines Knaben. „Ich
bin allein. Allein.“ Und dann hört man eine Frauenstimme: „Wie immer mein
Sohn. Schlafe mein Söhnchen.“ („Como
siempre hijito. Duermase hijito“). Jaibo
trifft so im letzten Atemzug seine Mutter. Mit dieser Szene wird der Ausruf
des Blinden: „Würden sie nur alle vor ihrer Geburt getötet“, ad absurdum
geführt. Eben die Kinder, je jünger umso mehr, sind noch offen für
Menschlichkeit. Die unmenschlichen Verhältnisse aber korrumpieren sie und
selbst für den Gutwilligsten ist es nicht möglich sich dieser Welt
der Gewalt zu entziehen. Hier wäre der einzige Ansatz zur Lösung,
nicht in Besserungsinstitutionen, wenn die Kinder schon Verlorene sind.
Der Film endet mit einer Szene absoluter Hoffnungslosigkeit.
Pedros Mutter, die ihren Sohn der Polizei übergab, hat nach seiner Verhaftung
endlich Vertrauen zu Pedro gefasst. Sie glaubt ihm jetzt, dass er das Messer
nicht gestohlen hat. Doch nun ist es zu spät für eine Versöhnung.
Wir sehen Pedros Mutter, die verzweifelt nach ihrem Sohn sucht, wie sie Meche
und ihrem Großvater mit der Leiche Pedros begegnet. Natürlich weiß
sie nicht, was unter der Last des Esels verborgen ist. Während die Mutter
rufend weiter zieht, bringen die anderen die Leiche Pedros zu einem abgelegenen
Berghang und werfen sie über die Böschung. Pedro, der doch nie etwas
Böses wollte sondern nur Liebe suchte, endet weggeworfen wie ein Stück
Müll. Der Film hat so seine schlimmstmögliche Wendung genommen. Konsequent
bis zum Schluss verweigert Buñuel sich jeder Beschönigung. „Los
Olvidados“ entstand 1950 und neuere Filme mit ähnlichem Grundthema wie
„Amores Perros“ oder „City
of God“ zeigen, wie prophetisch Buñuels
Werk war. Nichts hat sich verändert seither, das Leben der Vergessenen
ist nur noch gewaltsamer geworden.
Siegfried König
Dieser Text ist nur erschienen
in der filmzentrale
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Die Vergessenen
(1950)
Los
Olvidados
Mexiko
1950, Regie: Luis Buñuel, Buch: Luis
Buñuel, Luis Alcoriza, Max Aub (Mitarbeit),
Pedro de Urdimalas (Mitarbeit), Kamera: Gabriel Figueroa, Musik: Rodolfo Halffter
und Gustavo Pittaluga (verwendete Themen), Produzent: Oscar Dancigers. Mit:
Alfonso Mejia,
Roberto Cobo, Miguel Inclán, Stella Inda,
Alma Delia Fuentes, Héctor López Portillo.
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