Os Mutantes
Ein Motiv wiederholt sich in “Os Mutantes”: Das Hängen über dem Abgrund
bei rasender Geschwindigkeit. Ricardo quetscht seinen Oberkörper aus dem
Fenster eines Autos in den brausenden Nachtwind, Andreia liegt auf dem
äußersten Rand der Ladefläche eines dahinratternden Eisenbahnwaggons, den Blick starr zum Himmel
gerichtet. Diese Bilder stehen für die Lebenssituation der Protagonisten
in “Os Mutantes”.
Ricardo, Andreia und Pedro sind Heimkinder in Portugal, Verlorene in
einer Welt ohne Mitleid.
“Os Mutantes” ist eine Art portugiesischer Version von “Kids”, aber
diesem überlegen weil weniger hysterisch am Hype interessiert.
Regisseurin Teresa Villaverde plante ursprünglich einen Dokumentarfilm,
für den gab es kein Geld, und so entstand “Os Mutantes”.. Herausgekommen
ist ein kleiner, düsterer, ruhiger, konzentrierter, kühl beobachtender
Film über die Einsamkeit. Pedro kehrt für ein Wochenende nach hause
zurück, wo ihn niemand erwartet, nicht mal die jüngeren Geschwister
akzeptieren den fremdgewordenen Bruder noch als Beschützer gegen den
saufenden Vater. Andreia ist schwanger, sie reißt aus, um den Erzeuger
ihres Kindes zu finden, sie sucht Hilfe bei ihrer überforderten Mutter,
bis sie schließlich ins Heim zurückkehrt und das Kind alleine auf der
Toilette gebiert.
“Os Mutantes” ist effektiv, wo er den eigenen Stärken vertraut, er fällt
ab, wo ihm sein Realismus magisch wird, z.B. wenn die Straßenkinder,
diese Gemeinschaft der Häßlichen, Schmutzigen und Gemeinen, von
Lagerfeuern warm erleuchtet die Nacht mit Musik und Spiel am Strand
verbringen. In diesem Moment verliert die Regisseurin ihren Mut zur
distanzierten Kälte, der den Film ansonsten auszeichnet, und verfällt
stattdessen in eine gänzlich überflüssige, weichzeichnerische
Jahrmarktsromantik.
Glücklicherweise passiert dies selten genug: “Os Mutantes” ist insgesamt
aufgrund der unprätentiösen, nüchternen Inszenierung und der
hervorragenden Schauspieler von großer Glaubwürdigkeit. Zusammen mit dem
absolut lobenswerten Fehlen einer vereinfachenden Anklage gegen irgend
jemanden, der angeblich die Schuld an den Verhältnissen trägt, hinterläßt
der Film eine ernüchternde Wirkung beim Zuschauer, die letztendlich die
Anteilnahme nur erhöht.
Björn Vosgerau
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Os Mutantes
Portugal/Frankreich 1998, Teresa Villaverde (R. + B.)