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Othello
Drei
Jahre, von 1949 bis 1951, drehte Orson Welles den OTHELLO in Italien und Marokko.
1952 gewann er hierfür den Großen Preis in Cannes. Dann galt der
Film als verschollen. Jetzt restauriert anhand des Negativmaterials verblüfft
die Frische, die Schönheit und die Kraft der Bilderzählung. Es ist
zu wenig, Orson Welles’ OTHELLO als glücklich wiederaufgefundenes Werk
der Filmgeschichte abzuhaken. Der Film spricht heute persönlich an: Er
hat sich dem kulturellen Erbe des expressionistischen Stummfilms verpflichtet
und sucht und braucht für seine Gebärde einen Adressaten. Das hat
er dem seit einiger Zeit gebräuchlichen narrativen Film voraus, der zu
einem Ende und damit zu seiner eigenen Erledigung findet. Gewiß erzählt
der Film die Geschichte von Othello, dem Mauren. Und im marokkanischen Schloß
auf Mogador rollen Shakespeares Verse, da dürfen wir sicher sein, unversehrt
und gewaltig dahin. Welles aber schafft es, das klassische Eifersuchtsdrama
in eine bildnerische Skulptur, in ein Werk der bildenden Kunst zu bannen. Wir
sehen daher, wie das Dann-und-dann der verbalen Horizontale in die Vertikale
eines Bildes umgedreht wird, in die Gleichzeitigkeit eines Moments, der bekanntlich
zum Verweilen einlädt: Du bist so schön (oder schrecklich). Ein solches
Anhalten erlaubt Durchatmen, auch das Entwickeln von Empfindungen und mancherlei
Ahnungen und Gefühlen. Des Austauschs von Vokabeln bedarf es da weiter
nicht. Welles stimmt zu dieser emotionalen Adresse ein, indem er die Shakespearesche
Tragödie als spielfilmlange Rückblende faßt. Sie geht ein in
die Anfangsbildsequenz: Aufgebahrt werden Othello und Desdemona zu einem (tiefen)
Grab getragen, das auf einem (hohen) Berg zu liegen scheint. Die Kamera, die
den höchsten Platz einnimmt, ist nicht erzählerisch-objektiv. Ihre
expressive Perspektive hat dramaturgische Funktion: Sie entspricht dem subjektiven
Blick Jagos, der buchstäblich über seinen Opfern hängt: in einem
Käfig auf die Zinnen des Kastells gezogen. Diese Perspektive montiert von
innen heraus den Film; sie ersetzt die Hektik der üblichen Schnitte. Immer
wieder wird diese Generalvertikale große Gefühle fixieren. Zum Schluß
liegt Othello auf dem Bett Desdemonas und guckt nach oben auf die Decke. Schon
recht, so sieht ein Opfer aus. Und ein Opfer ist es nur, wenn es als solches
erblickt wird. Also läßt Welles das Oval der Zimmerdecke öffnen,
im Stock darüber steht der Hof und guckt, über eine Brüstung
gelehnt, auf den machtlosen Herrscher nach unten.
Ohne
Shakespeares Verse zu ändern, interpretiert Welles mit diesen Perspektiven
die Othello-Geschichte persönlich. Er, der den Othello spielt, erweist
sich als das wahre Opfer, auf den der wahre Täter (Jago), aber auch alle
anderen (der Hof) heruntergucken. Othello, anheimgefallen einer bösen Intrige,
ist zu bedauern - insbesondere, da ihm (wenn auch durch die eigene Hand) kostbarer
Besitz genommen wird, zum Beispiel die Gattin Desdemona. Desdemona wird folgerichtig
kaum eines eigenen Blicks gewürdigt; sie bleibt merkwürdig puppenhaft
in diesem Film des männlichen Blicks; lediglich die Hofdame darf dazu in
einem kleineren Monolog „Diese Männer!" anmerken.
Die
Monumentalität der Schwarzweißbilder kommt in diesem Film von innen
heraus ins Wanken. Schräge Perspektiven künden das Umkippen der Wirklichkeit,
Spiegelszenen deren Trennung von der Vorstellung an. Der männliche (Eifersuchts-)Wahn,
die Perversion der Macht werden erfahrbar, ohne daß ein Wort gesagt, ein
Mensch gezeigt werden müßte: Die Dinge und Räume kommen in dieser
inneren Montage zu Wort. „I am not what I am", hatte Jago gesagt. Welles
hat für diese Behauptung den Beweis geliefert. - Orson Welles’ OTHELLO
war die erste europäische Produktion des hochgerühmten CITIZEN KANE-Autors.
Das Werk blieb Hollywood fremd. Wir können es als ersten europäischen
Film begreifen, der unabhängig von Zeitströmungen und Restaurationstendenzen
(und unabhängig von Marktgesetzen, die angeblich das Hollywoodimitat bedingen)
den Reichtum der Bildsprache für so etwas Grandioses nutzt wie die persönliche
Vision eines großen Autors.
Dietrich
Kuhlbrodt
Dieser
Text ist zuerst erschienen in:
OTHELLO
OTHELLO
Marokko
1952/Großbritannien 1992. R
und P: Orson Welles. K:
Anchisi Brizzi, G.R. Aldo, George Fanto. Sch:
John Shepridge, Jean Sacha, Renzo Lucidi, William Morton. M:
Francesco Lavagnino, Alberto Barberis. A: Alezandre Trauner. Ko: Maria de Matteis.
Pg: United Artists. V: Delta. L: 91 Min. St: 3.6.1993. Restaurierung: Donald
Leibsker, Edward Stone, Michael Dawson, Arnie Saks. D: Orson Welles (Othello),
Suzanne Cloutier (Desdemona), Micheal MacLiammoir, Jagoh Fay Compton (Emilia),
Robert Coote (Roderigo), Michael Lawrence (Michael Cassio), Hilton Edwards (Brabantio,
Desdemonas Vater).
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