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Paisà
Hineingerissen
...
"Paisà" gehört
neben "Rom, offene Stadt" und "Deutschland im Jahre Null" zur Kriegs-Trilogie im Werk von Roberto Rossellini. Alle
drei Filme sind solche über den Krieg, sie spielen im Krieg, aber sie sind
nicht im üblichen Sinn "Kriegsfilme". Es ist weder das Kampfgeschehen,
noch sind es irgendwelche Theorien oder auch nur Annahmen über den Krieg,
seine Hintergründe, seine Ursachen oder die hinter ihm stehenden Konflikte,
die Rossellini zur Inszenierung dieser Trilogie veranlasste.
Die Trilogie ergeht sich genauso
wenig in einer Art moralischen Kategorisierung des Krieges oder der beteiligten
Kräfte. Die Einteilung in "Gut" und "Böse", "gerecht"
und "ungerecht" ist diesen Filmen fern.
"Paisà" macht
da, wie gesagt, keine Ausnahme. Der Film, an dessen Herstellung so bekannte
Leute wie Klaus Mann, Sergio Amidei und Federico Fellini beteiligt waren, besteht
aus sechs Episoden, die zeitlich dem Vormarsch der alliierten Truppen von der
Landung in Sizilien bis zum Vordringen in die Po-Ebene folgen. Alle sechs Episoden
sind in sich abgeschlossen, haben auf den ersten Blick kaum etwas miteinander
zu tun, außer, dass sie im Krieg in Italien spielen. Dabei geht es Rossellini
kaum darum, eine Gesamteinschätzung dieses zweiten Weltkrieges zu präsentieren.
EPISODE 1:
Nach der Landung in Sizilien ...
Amerikanische Soldaten dringen
des nachts in ein Dorf an der Küste ein. In der Kirche treffen sie
auf die Einwohner, die kaum glauben können, dass es sich nicht um deutsche
Soldaten handelt. Einer der Soldaten kann italienisch, weil seine Vorfahren
aus Sizilien stammen. Die Sizilianer berichten, dass die deutschen Soldaten
den Ort am Morgen verlassen haben. Carmela soll die Amerikaner an der Küste
entlang führen, damit diese die von den Deutschen gelegten Minenfelder
umgehen können.
In einer Ruine lassen die Soldaten
Carmela zurück, bewacht von Joe. Die anderen ziehen weiter, um die Gegend
zu erkunden. Joe und Carmela kommen ins Gespräch, obwohl sie beide die
Sprache des anderen nicht verstehen können. Fast scheint es so, als ob
sich die beiden anfreunden. Da fällt ein tödlicher Schuss ...
EPISODE 2:
Kurz nach der Befreiung Neapels
...
Das Leben ist wieder ausgebrochen
in der befreiten Stadt. Kinder, verarmt, verwaist ziehen durch die Stadt, um
sich durch Diebstahl über Wasser zu halten. Einer der Jungen zerrt einen
betrunkenen amerikanischen Soldaten hinter sich her, um ihn vor dem Zugriff
der Militärpolizei zu schützen. Doch irgendwann kann der Soldat nicht
mehr, will schlafen. Der Junge nimmt dessen Mundharmonika und rennt weg, der
Soldat hinter ihm her. Auf einem Trümmerhaufen sitzen sie nebeneinander,
der Junge spielt auf der Mundharmonika, der Soldat lallt, erzählt von zu
Hause und schläft irgendwann ein.
Am nächsten Tag erwischt
der Soldat, selbst Militärpolizist, einen Jungen beim Diebstahl auf einem
Lkw. Er nimmt ihn fest, schimpft und merkt plötzlich, dass es der Junge
vom Vortag war ...
EPISODE 3:
Rom begrüßt seine Befreier ...
Einer Prostituierten gelingt es,
der Verhaftung durch die Militärpolizei zu entkommen. Auf ihrem Weg trifft
sie auf einen betrunkenen amerikanischen Soldaten, nimmt ihn mit in eine Absteige.
Sie meint, ein bisschen Geld durch ihn verdienen zu können. Doch der junge
Mann ist depressiv, und er erzählt ihr eine Geschichte, die sich kurz nach
der Befreiung der Stadt ereignete. Da habe er eine junge Frau kennen gelernt,
Francesca, und sich in sie verliebt. Da er jedoch wieder zum Dienst musste,
habe er sie aus den Augen verloren. Inzwischen habe sich so viel verändert.
Aus den fröhlichen jungen Frauen seien überwiegend Prostituierte geworden
- und Francesca habe er nicht wiedergefunden. Die Prostituierte weiß,
von wem der Soldat spricht
...
EPISODE 4:
Florenz ...
Noch ist Florenz nicht befreit.
Faschisten und deutsche Soldaten besetzen noch einen Großteil der Stadt.
Die amerikanische Krankenschwester Harriet ist auf der Suche nach einem Maler,
in den sie offensichtlich verliebt ist. Der ist inzwischen Partisanenführer
und hat den Decknamen Lupo. Hals über Kopf macht sich Harriet auf nach
Florenz, trifft dort auf einen alten Bekannten namens Massimo, der seine Familie
sucht. Beide machen sich auf den Weg in den umkämpften Teil der Stadt,
rennen über Dächer, durch Straßen, in denen geschossen wird,
um Lupo bzw. Massimos Familie zu finden
...
EPISODE 5:
Um jedes Dorf entbrennt ein heftiger
Kampf ...
Fast friedlich ist es auf einem
Berg, wo Mönche sich in einem Kloster in die Arme fallen - vor Freude,
dass die Alliierten immer weiter vorwärts kommen. Sie bekommen Besuch von
drei amerikanischen Kaplänen, die ihnen Schokolade anbieten. Die Mönche
haben kaum etwas zu essen, weil sie das Geflügel und die Lebensmittel den
Einwohnern der Umgebung gegeben haben. Trotzdem laden sie die drei Kapläne
zum Essen ein.
Als die Mönche erfahren,
dass nur einer der drei Katholik ist, die beiden anderen protestantisch und
jüdisch, bekreuzigen sie sich und meinen, man müsse die beiden bekehren ...
EPISODE 6:
In der Po-Ebene ...
Der breite Po durchzieht das Land
wie eine Macht, gegen die man nichts ausrichten kann. Doch an seinen Ufern,
im dichten Schilf, und in der Ebene herrscht eine andere Macht: der Krieg. Partisanen
und ein paar amerikanische Soldaten vom OSS sind von der Außenwelt abgeschnitten.
Man lenkt die Deutschen, die sich in der Nähe aufhalten und mit Scharfschützen
operieren ab, um einen toten Partisanen, den die Deutschen in einem Rettungsring
und dem Schild "Partisan" in den Fluss geworfen haben, aus dem Wasser
zu holen und zu begraben.
Obwohl das Hauptquartier der alliierten
Streitkräfte ihren Rückzug befohlen hat, sehen die Partisanen keinen
anderen Weg, als sich weiter durchzuschlagen. Allein, es fehlt an Munition und
Lebensmitteln. Bei Fischern bekommen sie etwas zu essen und Fisch zum Mitnehmen.
In der Nacht müssen sie feststellen, dass die Deutschen die Fischer umgebracht
haben. Nur ein kleines Kind weint bitterlich zwischen den Toten ...
Rossellini verbindet diese sechs
Episoden durch Wochenschauausschnitte über das Kriegsgeschehen in Italien.
Trotzdem erreicht der Film - in voller Absicht - nicht den Status einer geschlossenen
Erzählung. Indem er genau auf diese klassische Erzählstruktur verzichtet,
erscheint das Geschehen nahezu undurchschaubar und vermittelt nicht den Gesamteindruck
eines Krieges. Er zeigt einzelne Menschen in ihrem Handeln, vorwärts getrieben
einerseits durch das Kriegsgeschehen, andererseits durch ihre Sehnsüchte
und Wünsche wie etwa Harriet. Damit verweigert er dem Zuschauer eine "klare"
Aussage über das Geschehene und das Gezeigte. "Vorkenntnisse",
Theorien, Einschätzungen - all das nützt dem Betrachter nichts oder
jedenfalls nicht viel.
Der Film bindet den Zuschauer
an das Geschehen, dem er sich nicht entziehen kann - so wie die Personen im
Film selbst durch die Umstände in die Wirren des Krieges gezogen werden
und nicht wissen, was als nächstes geschieht. Anders als in einer "gängigen"
Inszenierung, die mit Geplantem arbeitet, indem sie entweder den Zuschauer "hinters
Licht" führt und mit verschiedenen Windungen und Wendungen operiert,
oder in der so manches voraussehbar erscheint und bei der sich vieles an dem
orientiert, was zwischen Filmemacher und Publikum an Verhaltensmustern, Gedanken,
Überzeugungen usw. schon "klar" ist, arbeitet Rossellini völlig
anders. Die Szenen dieser Episoden erscheinen wie dokumentarische Aufnahmen
über ein Geschehen, das nicht voraussehbar erscheint. Die Authentizität
des Gezeigten ist so überwältigend, dass sie zugleich manchmal erschreckend
wirkt.
Bei einem Dokumentarfilm verhält
es sich ähnlich. Wir haben keinen Einfluss auf das, was geschieht, weil
wir wissen, dass Geschehenes irreversibel ist, selbst wenn wir nicht wissen,
in was das Geschehene letztlich mündet. Es ist diese Faktizität des
Realen, diese Irreversibilität der Zeit - sowohl in Richtung Vergangenheit
wie in Richtung Zukunft -, die das Dokumentarische von dem Inszenierten eines
"Spiel"films klar unterscheidet. Und Rossellini lässt das (überwiegend
von Laiendarstellern) Gespielte als etwas Dokumentarisches, Authentisches, Irreversibles
erscheinen. Dabei kann er sich zudem auf die historischen Fakten des Kriegsverlaufs
- hier in Italien - stützen.
Damit aber werden alle Theorien
grau. Die Wirklichkeit spricht für sich. Und selbst die Hoffnungen und
Ziele der agierenden Personen verlieren sich im Unvorhersehbaren, im fast Schicksalhaften
des Krieges, in der Unsicherheit jedes Moments. Ein solcher Film über den
Krieg wirkt in jeder Hinsicht anders als jeder "normale" Kriegsfilm.
Das Unvorhersehbare der Realität greift sozusagen durch - über den
Film auf den Zuschauer - und das dadurch zwischen Dargestelltem und Betrachtendem
erst entstehende Gefühl des Authentisches lässt diesen Ausschnitt
der Realität ins Innere des Betrachters vorstoßen. Besser kann man
auf diese Weise dem Krieg kaum näher kommen.
Besonders wichtig in diesem Kontext
ist zudem die Musik Renzo Rossellinis, das Dramatische dieser Musik, das aber
nie übertrieben ausgreift, sondern den Bildern nahezu perfekt angepasst
erscheint. Das scheinbar Kühle, Nüchterne, erweist sich in Rossellinis
Trilogie so als Ausfluss einer letztlich tiefen emotionalen Bewegtheit des Regisseurs.
Roberto Rossellini wäre am
8. Mai 2006 100 Jahre alt geworden. Anlässlich dieses Tages erschien jetzt
die DVD "Roberto Rossellini Anniversary Edition" mit den vier Filmen
"Reise in Italien", "Stromboli", "Deutschland im Jahre Null" und "Paisà", die bei jpc € 25,99 kostet.
Die DVD-Edition enthält ein ausführliches Booklet zum Regisseur und
seinen Filmen.
Die Qualität von Ton und
Bild ist angesichts des Alters des Films nur mäßig. Trotzdem lohnt
sich der Film, auch als ein beeindruckendes Dokument der Zeitgeschichte.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen
in:
Paisà
(Paisà)
Italien 1946, 120 Minuten
Regie: Roberto Rossellini
Drehbuch: Roberto Rossellini, Sergio Amidei, Klaus Mann,
Federico Fellini, Marcello Pagliero,
Alfred Hayes, Sergio Amidei, Federico Fellini
Musik: Renzo Rossellini
Kamera: Otello Martelli
Schnitt: Eraldo Da Roma
Darsteller:
Episode 1: Carmela Sazio (Carmela),
Robert van Loon, Raymond Campbell, Albert Heinze, Leonard Parrish (amerikanische
Soldaten), Harold Wagner (Harry, Soldat), Merlin Berth (Merlin, Soldat), Mats
Carlson (Swede, Soldat)
Episode 2: Dots Johnson (amerikanischer Soldat), Alfonsino
Pasca (ein Junge)
Episode 3: Maria Michi (Francesca), Gar Moore (Fred,
amerikanischer Soldat)
Episode 4: Harriet Medin (Harriet), Renzo Avanzo (Massimo)
Episode 5: William Tubbs (Captain Bill Martin, katholischer
Kaplan), Newell Jones (protestantischer Kaplan), Elmer Feldman (jüdischer
Kaplan)
Episode 6: Dale Edmonds (OSS-Mann), Roberto van Loel, Dan, Allan (amerikanische Soldaten), Cigolani (Cigolani)
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