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Palindrome
Ein
Teenager mit einer etwas quäkenden Stimme, der sich in einem dicken Mantel
versteckt. Todd Solondz sieht nicht aus wie ein Vierziger. Auch nicht wie ein
erfolgreicher Regisseur. Eher wie ein erfolgreicher Independent-Regisseur, einer
der unabhängig sein Ding macht. Sein erstes Ding hieß 1995 "Willkommen
im Tollhaus",
der Teenager-Alptraum von Dawn Wiener und wie sie ihn überwindet. Danach
gab es 1998 "Happiness"
- von Glück war in dieser tiefschwarzen und grell satirischen Familienkomödie
aus den USA dabei nichts zu spüren! Jetzt, nachdem "Storytelling"
in Deutschland ignoriert wurde, geht in dem kuriosen Märchen "Palindrome",
ein naives Kind hinaus in die Welt, erlebt eine Menge und bleibt das naive Kind.
Die
Titelfigur Aviva, die Dorothy auf den gelben Steinen zum "Zauberer von
Oz" folgen könnte, wird von zwei Frauen, vier Mädchen zwischen
13 und 14 Jahren, einem zwölfjährigen Jungen und einem sechsjährigen
Mädchen gespielt! "Palindrom" beginnt mit dem Begräbnis
von Dawn Wiener (aus dem "Tollhaus") und dem Wunsch der kleinen Aviva
ja nicht "wie Dawn zu sein". Die Mutter (Ellen Barkin) beruhigt sie:
"Du wirst immer du sein!"
Von
wegen: Als die unter arriviert alternativen Eltern Aufgewachsene die erste sexuelle
Erfahrung macht und auch direkt bekommt was sie will - die Schwangerschaft -
zwingt sie die gar nicht mehr lockere Mutter zur Abtreibung. Aviva verlässt
darauf das Elternhaus auf der Suche nach einer Mutterschaft - egal wie. Bei
ihrer albtraum-märchenhaften Reise triff sie auf pädophile Priester,
bigotte Gottesanbeter und mehr skurriles Volk, das jedoch mit seinem verletzenden
Treiben dem naiven Mädchen nichts anhaben kann.
Mit
Palindrom bezeichnet man Worte oder Sätze, die vom Anfang oder Ende gelesen
gleich sind. "Rentner" ist ein altes Beispiel aus dem "Lagerregal"
der Palindrome. Ein bekanntes Satz-Palindrom funktioniert in Zeiten von "political
correctness" nicht mehr: "Ein Afroamerikaner mit Gazelle zagt im Regen
nie". Da passt was nicht und Solondz irritiert ähnlich, indem er eine
dürre hellhäutige und eine sehr dicke Schwarze nacheinander Aviva
spielen lässt.
Goethe
ließ in seinen "Wahlverwandtschaften" Otto von vorne und hinten
gleich sein, spielte mit der Wortchemie von Ottillie und Charlotte. Solondz
philosophiert über die freie Wahl im Leben und setzt das Palindrom "Aviva"
als These dafür hin, dass wir immer die gleichen bleiben, egal was wir
tun. Von vorne oder hinten: Aviva, das personifizierte Palindrom. Mark Wiener
breitet es zum Ende des Film in einem Monolog aus: Es ändert sich nichts,
ob du zunimmst oder gar dein Geschlecht veränderst. Das muss man nicht
düster wie Mark sehen, es ist auch etwas Befreiendes in dieser Sichtweise.
So
macht die seltsame Besetzung von Aviva nicht nur Spaß sondern auch Sinn.
Selbstverständlich provoziert Solondz auch mit diesem Film - nur ist nicht
klar, wen. Die Rechten oder die Linken, die Spießer oder die Alternativen?
Ellen Barkins Charakter der Mutter etwa wirkt liberal, säkular, ist gegen
Waffen, aber wenn sie ein konkretes Problem im eigenen Haus hat, versagt sie.
Wie bei allen Gegenfiguren Solondz zur heilen US- und Hollywoodwelt behält
sie aber ihre Würde, weil sie am Ende ihr Scheitern zugibt. Die Reaktionen
aus den US-Kinos stehen noch aus. Mal sehen, wie Good old Germany auf dieses
Film-Wort-Spiel reagiert ...
Günter
H. Jekubzik
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Palindrome
USA
2004 - Originaltitel: Palindromes - Regie: Todd Solondz - Darsteller: Stephen
Adly Guirgis, Ellen Barkin, Richard Masur, Debra Monk, Jennifer Jason Leigh,
Sharon Wilkins, Emani Sledge, Valerie Shusterov - FSK: ab 12, nicht feiertagsfrei
- Länge: 100 min. - Start: 14.4.2005
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