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Paris
gehört uns
Paranoia?
Sowieso
Kino
ohne Theater gibt es bei Rivette nicht. Genauer gesagt ohne Proben und Inszenierung.
Der Mammutfilm „Out – One“ besteht nur daraus. Am Ende ist kein fertiges Stück
zu sehen. Off-Theaterkultur. Man will es anders machen. Meistens scheitert man.
Aber darum geht es heute nicht mehr, wo man froh ist, dass überhaupt Geld
fließt. Aber auch in „Paris gehört uns“ stoßen wir nicht auf
den Mythos der verdrängten und gegenarbeitenden Subkultur. Berücksichtigt
man etwa die Idee, die Gérard leitet, der mit Amateurschauspielern Shakespeares
„Perikles“ (nie gehört) aufführen will, dann kommt einem das dahinterstehende
Konzept ziemlich bekannt vor. Es geht um disparate Teile, aus denen dieses Stück
bestehen soll, die sich am Ende zu einer Einheit zusammenfügen. Es wäre
ein bisschen läppisch, wenn es bei einem „Nouvelle-Vague“-Film nur um eine
solche Operation ginge. Schließlich hatte man ja dem Literarischen im
Film (dem damaligen französischen so genannten „Qualitätsfilm“) den
Kampf angesagt. Dem gut gebauten Plot, dem schlüssigen Charakter, der perfekten
Inszenierung. Man wollte Leben. Aber man wollte auch ein bisschen amerikanisches
Genre-Kino. Mischt man beides zusammen, stößt man im Extremfall,
wie hier, auf Paranoiker, die die Wirklichkeit mit ihrer Wahnvorstellung überziehen.
Dinge, die zwar tragisch verlaufen, aber im Grunde ganz gut erklärbar sind,
wie zum Beispiel Liebesgeschichten, sieht man dann in einen weiteren Horizont
hineingestellt.
Aber
das bemerkt der Zuschauer erst am Ende des Films, und insofern ist die Rede
von der Einheit gar nicht so falsch, sie ist nur negativ gewendet, die Einheit
ist eine Seifenblase eines kranken Hirns. Während des Films sind wir genauso
dumm oder schlau wie Anne, eine Literaturstudentin, die kurz vor ihrem Examen
steht, es aber doch vorzieht, in „Perikles“ mitzuspielen und in die geheimnisvolle
Welt ihres Bruders Pierre eingeführt zu werden. Anne führt uns durch
den Film, sie ist zugleich Geliebte, Rivalin, Schauspielerin, Detektivin, Medium,
alles in allem also der Katalysator. Sie nimmt uns mit auf Partys, die wir ziemlich
ähnlich, aber eher zynisch als nihilistisch, auch bei Chabrol, etwa in
„Les Cousins“, wiedersehen, wir laufen viel mit den Darstellern, sind überhaupt
viel draußen, also nicht im Studio, brauchen häufig lange, bis wir
wissen, mit welchen Darstellern wir es zu tun haben, weil große Schatten
die Gesichter bedecken, bewundern eine femme fatale, langweilen uns ein wenig
während der Theaterproben und fragen uns, wo das alles enden soll. Aber
am Ende steht keine Geheimorganisation, die für mindestens zwei Tode verantwortlich
zu machen wäre (dafür reicht eben eine fatale Frau, Terry); dafür
machen wir uns mit uns selbst als Kinozuschauern bekannt, indem wir mit der
zweiten Ebene konfrontiert werden, ohne die diese Illusionsmaschine nicht in
Gang käme. Das Phantasma des Paranoikers Philip Kaufman ist unser eigenes,
und wir haben es nur scheinbar „durchquert“, nachdem wir den Kinosaal verlassen
haben. Es sitzt uns schon längst wieder im Nacken, wenn wir das nächste
Mal im Saal Platz genommen haben. Und es führt uns unfehlbarer vor als
– Theater.
Dieter
Wenk (3.02)
Nichts
charmanter, als wenn Franzosen englisch sprechen, wenn sie es noch kaum können.
Man versteht gar nichts, aber die Sympathie ist sofort da. Da sieht der Zuschauer
also die junge Anne, in zwei Tagen hat sie Prüfung. Sie probt englisch.
Sie lässt sich gerne unterbrechen durch seltsame Geräusche im Nachbarzimmer.
Dort findet sie eine mysteriöse junge Frau weinend, aufgelöst, verzweifelt.
Irgendeine Katastrophe, ein Mann. Abends geht Anne mit ihrem älteren Bruder
Pierre mit auf eine Party. Ein bisschen Hysterie, ein bisschen Endzeitstimmung.
Ein Amerikaner im Exil, Philip Kaufman, ist sauer. Dann lernt man Juan kennen,
der aber schon tot ist. Ein Komponist, der umgebracht worden ist. Oder hat er
Selbstmord verübt? Gescheitert an Terry Cooking, der femme fatale des Films?
Verständlich,
dass Anne keine Lust mehr auf ihre Prüfung hat. Sie fängt an, Detektiv
zu spielen. Trifft zufällig Kaufman, mit dem sie spazieren geht und der
gleich ganz dick auspackt. Nichts weniger als die Weltverschwörung. Juan
habe zuviel gewusst, was auch immer das heißen mag. Anne lernt, andere,
wiederum durch die Worte anderer, zu betrachten allein dadurch, dass bestimmte
Sätze fallen. Da ist zum Beispiel Gérard Lenz, der mit einer bunt
zusammen gewürfelten Truppe versucht, „Perikles“, ein Fragment Shakespeares,
aufzuführen. Schülertheater, so wie es aussieht. Jedenfalls soll auch
Gérard in Gefahr sein. Und auch Gérard, wie vorher Juan, ist in
Terry verliebt. Nur sieht man das überhaupt nicht. Man sieht eigentlich
überhaupt nichts in diesem Film. Man bekommt keine Ahnung von der Idee
des Shakespeare-Stücks, man weiß nicht, wie die jungen Leute außerhalb
der Theaterproben zueinander stehen, was sie wirklich verbindet, ob sie spielen
und wenn, für wen. Das einzige, an was sich Anne, und vermittelt durch
sie, der Zuschauer halten kann, ist die Sprache, mit der sich aber bekanntlich
wunderbar lügen lässt. Anne scheint sich in Gérard zu verlieben,
der sie bittet, bei einer Probe auszuhelfen. Sie versäumt ihre Prüfung
und schließt sich der Truppe an. Sie spielt aber auch weiterhin Detektiv,
versucht, ein Tonband mit einer genialen Musik von Juan zu finden.
Daneben
spielen die anderen ihre Rollen weiter, Philip komplottiert fleißig weiter,
Terry bleibt so cool wie zuvor, lässt Gérard fallen, Pierre verdient
sich sein Brot mit krummen Geschäften – im Auftrag von Terry und Philip?
Viele Zettel werden geschrieben, von denen man nicht weiß, wie sie gemeint
sind. Will sich Gérard wirklich umbringen, wenn sich Anne nicht bis zu
einem bestimmten Zeitpunkt nicht bei ihm meldet? Und warum ist er dann doch
tot, nur ein bisschen später. Anne versteht überhaupt nichts mehr.
Ihr Bruder tröstet sie. Etwas später stirbt auch er. Ein Versehen?
Dinge passieren, und dann sagt man was dazu. Manche entwickeln dabei viel Fantasie,
andere fantasieren. Wieder andere hören gerne zu. Um sich vielleicht selbst
mit einzubringen. Schauspieler, Regieassistent. Bretter, die die Welt bedeuten.
Oder auch nicht.
Dieter
Wenk
(12.04)
Diese
Texte sind zuvor erschienen bei:
Paris
gehört uns
PARIS
NOUS APPARTIENT
Frankreich
- 1958-60 - 121 (Orig. 140) min. – schwarzweiß – Fantasyfilm - FSK: ab
16; feiertagsfrei - Verleih: Neue Filmkunst - Erstaufführung: 5.6.1966
WDR - Fd-Nummer: 14758 - Produktionsfirma: Ajym/Les Films du Carrosse
Regie:
Jacques Rivette
Buch:
Jacques Rivette, Jean Gruault
Kamera:
Charles Bitsch
Musik:
Philippe Arthuys
Schnitt:
Denise de Casabianca
Darsteller:
Betty
Schneider (Anne Goupil)
Françoise
Prévost (Terry Yordan)
Gianni
Esposito (Gérard Lenz)
François
Maistre (Pierre Goupil)
Jean-Claude
Brialy (Jean Marc)
Daniel
Crohem (Philip Kaufman)
Brigitta
Juslin (Finnisches Model)
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